Vor ohngefähr zwey Jahren, da ich einige Ferientage
auf dem Lande zubrachte, fand ich in einem Mühlbache
[[2]] eine artige Art grüner Arm-Polypen, die sich durch einen
langgestreckten Spindelformigen Körper, und kurze meist
steife Arme von der gemeinen grünen Gattung auszeich-
neten, und mit deren Wundern ich meiner Gesellschaft
einen Theil ihrer Zeit vertreiben sollte. Theils das
warme trockne Sommerwetter, noch mehr aber die
dauerhafte Constitution dieser Polypen-Gattung begün-
stigte die bekannten Reproductionsversuche die wir da-
mit anstellten, so, daß die Wiederersetzung gleichsam
zusehends von statten zu gehen schien. Schon den zwey-
ten dritten Tag waren den verstümmelten Thieren wie-
der neue Arme, Schwänze u.s.w. angewachsen: nur
bemerkten wir immer sehr deutlich, daß die neu ergänz-
ten Polypen bey allen reichlichen Futter, doch weit klei-
ner als vorher waren: und ein verstümmelter Rumpf,
so wie er die verlohrnen Theile wieder hervortrieb, auch
im gleichen maaße recht sichtlich einzukriechen, und kür-
zer und dünner zu werden schien, u.s.w.
Einige Zeit nachdem ich wieder zur Stadt gekom-
men war mußte ich einen Menschen besuchen, der schon
lange am Winddorn krank gelegen hatte. Der Schade
war über dem Knie, und offen, und auch die weichen
Theile zu einer tiefen Grube ausgeeitert. Es besserte
[[3]] sich nachher, aber so wie die Lücke im Fleisch nach und
nach wieder mit Gallerte oder Narbe ausgefüllt wurde,
so senkte sich auch*) das benachbarte gesunde Fleisch
im gleichen Grade allgemach nieder, schien gleichsam zu
schwinden, so daß endlich die Narbe in der Grube und das
Fleisch am Rande derselben einander fast gleich stunden,
und jene nur noch eine breite aber ziemlich flache Delle
machte. Also mutatis mutandis der gleiche Fall wie bey
meinen grünen Polypen aus dem Mühlgraben.
Ich habe seit den paar Jahren einen grossen Theil
meiner Muse auf die weitere Untersuchung dieser dama-
ligen analogen Erfahrungen verwandt, von deren Erfolg
die folgenden Blätter einige Resultate enthalten, die sich
doch am Ende alle dahin vereinen:
Daß in allen belebten Geschöpfen vom Men-
schen bis zur Made und von der Ceder zum
Schimmel herab ein besondrer eingebohrner, le-
benslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre
bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu
[[4]] erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo
möglich wieder herzustellen.
Ein Trieb, (oder Tendenz oder Bestreben,
wie mans nur nennen will) der sowol von den
allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt,
als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräf-
ten der organisirten Körper ins besondre, gänz-
lich verschieden ist; der eine der ersten Ursachen
aller Generation, Nutrition und Reproduction
zu seyn scheint, und den ich hier um aller Mis-
deutung zuvor zu kommen, und um ihn von
den andern Naturkräften zu unterscheiden, mit
dem Namen des Bildungs-Triebes (Nisus forma-
tivus) belege.
Da man neuerlich schon scharfsichtig genug worden
ist, den Blutumlauf im Prediger Salomo, und die Ir-
ritabilität im Homerus beschrieben zu finden, so müßte
es folgends nicht gut seyn, wenn sich nicht auch zur
Noth der ganze Nisus formativus, aus allen den Werken
aber die Generation, die seit zweytausend Jahren ge-
schrieben und nun zusammen zu keiner gar kleinen Bi-
bliothek angeschwollen sind, sollte herausdeuten lassen.
Doch muß ich auf diesen Fall nur warnen, daß man ja nicht
[[5]] etwa diesen Trieb mit der vis plastica*), oder mit der
vis essentialis**), oder gar mit den chimischen Fermen-
tationen, und der blinden Expansion, oder andern blos
mechanischen Kräften die einige zum Zeugungs-Geschäfte
angenommen haben, vermenge: und daß es überhaupt
[[6]] hier weder um den Namen, noch um den blossen Er-
weis der Existenz des Bildungstriebes, sondern seiner
Würde und seines allgemeinen grossen Antheils den
er an der Belebung der ganzen Schöpfung hat, zu
thun ist.
Eine Wahrheit die man bey allen diesen Un-
tersuchungen nie aus den Augen verlieren darf, und
deren Vernachlässigung schon oft ihren glücklichen Fort-
gang gehemmet haben mag, ist die, daß schlechter-
dings Zeugung, Ernährung und Wiederersetzung im
Grunde blosse Modificationen einer und eben derselben
Kraft sind, die im ersten Fall baut, im andern unter-
hält, im dritten reparirt! Mit andern Worten: Nu-
trition ist eine allgemeine, aber unmerklich continuirte –,
Reproduction hingegen, eine wiederholte aber nur par-
tielle Generation. Ein Licht über eine von diesen dreyen
verbreitet, würde zuverlässig auch die andern beiden zu-
gleich erhellen.
Im wesentlichen kommen alle die drey genannten
Geschäfte mit einander überein: Der Bildungstrieb hat
an allen dreyen gleich starken Antheil: Nur der Anlaß
der diesen Trieb in Würksamkeit setzt, und die Weise
wie sich seine Würkung äussert, sind in zufälligen Um-
ständen verschieden.
Bey der eigentlich sogenannten Erzeugung wird z.B.
ein bestimmtes reiferes Alter, gehörige Beschaffenheit
der Zeugungs-Werkzeuge und Zeugungs-Säfte, des vä-
terlichen Saamens, vorausgesetzt, aus welchen sich der
künftige Mensch, das junge Thier oder die neue Pflanze
bilden sollen: so daß man sich zur Existenz eines jeden
solchen organisirten Körpers, Eltern, Groseltern, und
so bis zur ersten Schöpfung hinauf lauter ähnliche Vor-
fahren denken muß, ohne die das neue Geschöpf
schlechterdings nicht zu seiner Entstehung hätte gelan-
gen können.
Zwar hat es ehedem eine Zeit gegeben wo man
diese Fortpflanzungs-Art für nicht so schlechterdings
nothwendig gehalten hat: wo man nicht eben zur Ent-
stehung der Flöhe andre Flöhe, der Krebse andre Krebse,
und der Mäuse andre Mäuse voraussetzte: sondern wo
man auch Flöhe aus Urin und Sägespänen, Krebse aus
faulen Kalbfleisch, und Mäuse aus Schlamm und aller-
hand Unflath hervorbringen zu können meynte. Diese
Generatio aequivoca war weiland eine erwünschte Frey-
stadt der Unwissenheit, und eine Quelle und Stütze aller
ersinnlichen Arten von Aberglauben. Es ist aber schon
lange daß man sie gestürzt und seitdem fast immer nur
[[8]] so wie die Hexenfahrten und Wünschelruthe, zum An-
denken jener Finsternis und zum stillen Triumph unsrer
erleuchteten Zeiten genannt hat.
Inzwischen scheint es doch fast, als wenn jene frei-
lich gar zu abenteuerlichen Einbildungen des Schola-
stischen Stumpfsinns die nachherigen unendlich aufge-
klärtern Naturforscher wiederum allzuweit verleitet haben,
und als ob doch wol bald eine Zeit kommen dürfte, in
der man freilich jene sogenannte Zeugung aus Fäulniß
in ihre sehr engen Schranken zurückweisen, aber auch
bey der dagegen allzu zuversichtlich behaupteten Allge-
meinheit der Fortpflanzung aus väterlichen Saamen,
allerdings wol einige billige Ausnahmen zugestehen
würde*).
Zuverlässig giebt es doch Erscheinungen in der Ge-
schichte der organisirten Körper, bey deren Aufklärung
[[9]] uns diese eigentlich sogenannte Fortpflanzung offenbar
verläst, und wobey man mit ungleich grösserer Wahr-
scheinlichkeit wieder zu einer Art von Generatio aequivoca
wirb zurückgehen und zugeben müssen, daß allerdings
wol zuweilen allerhand Säfte durch eine besondre Art
von Gärung oder Fäulniß einen Bildungstrieb erhalten,
und zu mancherley, freilich einfachen, oder wenn man
will, unvollkommnen Vegetationen, aufschiessen.
Nur eine solche Vegetation statt vieler anzuführen –
und zwar nicht blos Schimmel und Moder, wobey sich
die Feinde der Generatio aequivoca doch noch immer mit
unsichtbaren Luft-Saamen und dergleichen Spitzfindig-
keiten durchschlagen könnten, sondern ein wahres Ge-
wächs, an Consistenz und Farbe andern vollkommnen Pflan-
zen gleich, und doch weder von seines gleichen gezeugt,
noch auch selbst je zur Fortpflanzung geschickt – nemlich die
Aufschüsse die an allerhand Pflanzen durch den blossen Stich
der Gallwespen verursacht werden, vorzüglich die soge-
nannten Schlafäpfel oder Bedeguar an den wilden Ro-
senstöcken. Dieß sind keine zufälligen Auswüchse oder
Monstrositäten, sondern bestimmte regelmäsige Gewächse
die zu Absichten abzwecken: die aber von der andern
Seite doch eben so wenig ähnliches mit dem Rosenstock
[[10]] auf dem sie wachsen, als Mistel und andre Schmarozer-
Pflanzen mit den Bäumen, worauf sie sich finden, haben.
Ich sehe nicht ab wie die Vertheidiger der präformirten
Keime die Entstehung solcher Vegetationen erklären
wollen. Doch wol nicht so daß sie in allen Aesten und
Blättern aller Rosenstöcke der Welt auch überall ein-
gewickelte Keime für unzählige Schlafäpfel annähmen,
die alle aufs geradewol und gleichsam blos auf Reserve
in ihren ewigen Schlaf hier versenkt lägen, bis end-
lich das tausendmal tausendste von ihnen durch den wohl-
thätigen Stachel eines hinzufliegenden Cynips aus sei-
nen Kerker befreit und zur Entwickelung angetrieben
würde. – –
Hingegen fürchte ich nicht, daß man es abge-
schmackt finden werde anzunehmen, daß in dem wuchernden
Saft der nach dem Stich des Insects heraustritt, durch die
Verwundung, durch die zugleich in ihn gelegten Eyer und
andre Veränderungen, ein Bildungstrieb erregt werden
könne der diesen Saft zum Schlafapfel formt, so wie
hingegen nach jeder wahrer Befruchtung der Zeugungs-
saft durch einen solchen Trieb zum neuen Thier oder
zur neuen Pflanze gebildet, und dadurch die eigentliche
Fortpflanzung bewürkt wird.
Doch eben diese ungleich allgemeinere wahre Fort-
pflanzung ist es, bey der sich der Einfluß und die Würk-
samkeit des Bildungstriebes aufs unwiderredlichste zeigt.
Alle Erscheinungen bey diesen Geschäfte; daß sich z.B.
nicht sogleich nach der Befruchtung sondern immer erst
einige Zeit nachher die erste Spur einiger Ausbildung
des Zeugungssaftes äussert; daß aber nachher diese ein-
mal angefangne Ausbildung und das Wachsthum der
neu empfangenen Frucht auch desto schneller fortgeht:
alle diese Phänomene lassen sich ohne den mindesten
Zwang durch diesen Bildungstrieb erklären, und umge-
kehrt ist keiner der scheinbaren Einwürfe die mir selbst
bey dieser Untersuchung beygefallen sind, der sich nicht
bey einer nähern Beleuchtung sehr füglich damit ver-
gleichen lassen sollte.
Die Misgeburten selbst, thun nicht allein der Be-
stimmtheit dieses Triebes keinen Eintrag, da kein Grund
ist warum er nicht wie jede andre Kraft durch zufällige
Ursachen gestört werden, eine abweichende Richtung neh-
men sollte: sondern die überaus sonderbare, obschon
vielleicht noch wenig bemerkte Aehnlichkeit unter ihnen,
giebt sogar dem Triebe selbst ein neues und sehr be-
trächtliches Gewicht.
Da die Abweichungen von einer Richtschnur, von
einer Wahrheit etc. ins unendliche variiren können, so
scheint es auf dem ersten Blick daß auch bey Bildung
der Wisgeburten, (dieser Abweichungen von der Richt-
schnur der Natur in Hervorbringung organisirter Körper),
eine gleiche endlose und ganz zufällige Mannigfaltigkeit
statt finden müsse. Allein bey einer nähern Beleuchtung
ergiebt sich vielmehr daß eine bewundernswürdige Gleich-
förmigkeit unter den meisten Monstrositäten herrscht, und
daß folglich auch die Ursachen, die in diesen Fällen dem
Bildungstrieb die falsche Richtung geben und dadurch
Monstrositäten hervorbringen, dennoch an sehr bestimmte
Gesetze gebunden zu seyn scheinen. Wer nur irgend
Gelegenheit gehabt hat, eine beträchtlichere Anzahl von
Mißgeburten untereinander zu vergleichen, oder wer auch
nur die sonst freilich so schaalen sterilen compilirten Bü-
cher davon mit einiger Aufmerksamkeit durchblättert hat,
dem kann die frappante Gleichheit nicht entgangen seyn,
mit welcher diese oder jene Art von Monstrosität sich
immer, selbst bis auf Kleinigkeiten ähnlich bleibt, so
daß die Stücke von so einer Art alle wie aus einer Form
gegossen scheinen. Noch auffallender aber ist, daß gerade
die eine Art von Monstrosität am häufigsten unter Kin-
[[13]] dern, eine andre unter Lämmern, eine dritte fast blos
unter Schweinen, (die überhaupt unter allen Thieren
in der Schöpfung am allerleichtesten den Misgeburten aus-
gesetzt zu seyn scheinen) sich vorfindet. Im ganzen sind auch
die Hausthiere den Monstrositäten weit mehr unter-
worfen als die wilden: alle Warmblütigen aber doch
wiederum mehr als die Kaltblütigen: und unter diesen
werden wieder fast blos Misstaltungen einzelner Theile,
des Kopfs etc. zuweilen angetroffen, dagegen aber ange-
bohrne doppelte Leiber und Gliedmasen so viel ich mich
entsinne, bey ihnen unerhöret sind.
Die Entstehung der Misgeburten setzt eine sehr for-
cirte ganz widernatürliche, aber daher auch nie oder
nur wunderselten sich fortpflanzende Abweichung des Bil-
dungstriebes voraus. Anders ist es hingegen mit der
Entstehung der Spielarten und Varietäten unter den
organisirten Körpern beschaffen, als wobey die ebenfalls
veränderte Richtung dieses Triebes auf eine gelindre,
minder gewaltsame, aber dafür desto tiefer wurzelschla-
gende, dauerhaftere und auf die Nachkommen fortwür-
kende Weise veranlaßt wird.
Zu den Ursachen die den Bildungstrieb auf diese
erbliche Weise verändern können, gehört vorzüglich die
[[14]] Mischung eines ungleichen Zeugungssaftes; die unter ver-
schiedenen Gattungen eigentliche Bastarden, unter blos-
sen Varietäten aber, wie unter Negern und Weissen,
Mulatten und Blendlinge hervorbringt. Auf eine ähn-
liche Weise scheint Clima, Temperament u.s.w. auf
diesen Trieb zu würken, und dadurch Nationalbildung, Fa-
miliengesichter etc. zu veranlassen.
Die merkwürdigsten aber von solchen Veränderun-
gen und Abweichungen der Bildung sind zuverlässig die,
so anfangs durch die Kunst aus Gewohnheit, Landes-
sitte etc. veranlaßt, nach und nach haftend, gleichsam
zur andern Natur und erblich worden sind.
Ich habe schon vor einigen Jahren bey Gelegenheit
einer Stelle im Hippocrates erinnert, daß diese Bemerkung
bey Untersuchung der Menschenvarietäten von Nutzen seyn
könne, und bin seitdem durch mancherley weitre Bemer-
kungen immer mehr darinn bestärkt worden. Hippocrates
sagt nemlich in seinem Werke von Luft, Wasser und Clima,
daß die Colchier vor Zeiten ihren neugebohrnen Kindern
die Köpfe länglicht gedrückt, weil sie diese Form für
eine Schönheit gehalten hätten, u.s.w. in der Folge
aber sey diese anfangs erkünstelte Form den Kindern
[[15]] angebohren worden, so daß sie nachher von selbst ohne
alles binden und drucken solche länglichte Köpfe gekrigt
hätten etc. etc. Diese merkwürdige Erzählung eines so
scharfsichtigen Beobachters erhält durch verschiedene völ-
lig analoge Erfahrungen, ein desto grösseres Gewicht.
Die allgemein bekannteste gehen gleich die Ohren der
cultivirten Nationen. Bekanntlich sollten sie vom Kopfe
abstehn, nicht anliegen; denn die Natur hat alle Menschen
mit einer Anzahl Muskeln versorgt, die blos zu ih-
rer Bewegung, sie spitzen zu können u.s.w. dienen
sollten. Die Wilden haben auch solche bewegliche ab-
stehende Ohren, und deshalb ein ungleich schärferes weiter-
reichendes Gehör als wir, bey denen sie fast durchge-
hends flach anliegen, unbeweglich und vergleichungsweise
schwachhörend sind. Aber dieß kommt nun nicht daher
weil uns in unsrer Kindheit Mützgen und Fallhütgen
aufgesetzt worden, sondern weil unsre Väter vor Jahr-
hunderten als Säuglinge welche getragen haben. Jezt
haben die neugebohrnen Kinder und selbst die unreifsten
Leibesfrüchte Europäischer Eltern schon flachanliegende
Ohren: aber wahrscheinlich würden unsre Nachkommen
nach einigen Generationen wieder Ohren und Gehör wie
die Wilden erhalten, wenn wir jezt anfiengen die Kinder-
[[16]] Mützen etc. die diese Bildung nun einmal unterhalten,
wieder abzuschaffen.
Man hat neuerlich sehr pro und contra gestritten,
ob die Americaner von Natur oder durch Kunst unbär-
tig wären? abgerechnet daß sich allerdings durch ganz
Amerika von Grönland bis unten zum Feuerlande ganz
ausgemacht wirklich bärtige Nationen finden, so sagen
ja die ältesten und präjudizlosesten Reisenden, wie der
alte ehrliche Hans Staden von Homburg etc. auch nach-
her noch Lionel Wafer und andere mehr, daß sich
andre Westindische Völker den Bart ausraufen, be-
schreiben aufs umständliche wie sie ihn mit Muschel-
schaalen gleichsam auswurzeln u.s.w. Und doch ver-
sichern hingegen die neuern Reisenden vom besten Credit,
Anton Ulloa u.a. daß es von Natur unbärtige Natio-
nen in America gäbe. So widersprechend diese Nach-
richten auf den ersten Blick scheinen müssen, so leicht
lassen sie sich durch das was jezt gesagt worden, mit
einander vergleichen. Die Natur ward endlich überdrüs-
sig einem Volke einen Schmuck zu verleihen, den es
immer wieder vertilgte und vernichtete, und so wurden die
heutigen Brasilianer, Mexicaner etc. gleichsam dazu geboh-
ren, wozu sich ihre Vorfahren erst durch schmerzhafte Künste
machen mußten.
Und eben so vermuthe ich, daß auch die ungeheuer
langen Brüste der Weiber am Cap und in Neu-See-
land etc. und die bis auf die Schultern herabhängenden
Ohrläppgen so vieler südlichen Völker wol nach und
nach, durch die, viele Generationen hindurch übliche ge-
waltsame Verlängerung, endlich einen natürlichen Hang
zu einer solchen erblichen Erschlappung erhalten haben:
wenigstens zweifle ich daß ohne eine solche vorgängige,
schon längst practicirte Künsteley, es möglich seyn sollte,
die genannten Theile bey einem Europäer auch durch
die gewaltsamste Dehnung zu einer so ganz prodigieusen
Länge herabzuzerren.
Eben so leicht läßt sich nun auch die sonderbare
Erfahrung erklären wovon man in Stephan Gerlachs
Tagebuch und andern gültigen Quellen Versicherung er-
hält, daß nemlich in Orient zuweilen Knäbgen schon
beschnitten gebohren werden, d.h. von Natur eine so
kurze Vorhaut mit zur Welt bringen, daß man sie nicht
weiter zu beschneiden braucht*).
Was ich bisher zum Erweis des augenscheinlichen
Einflusses des Bildungstriebes aufs Zeugungsgeschäfte
gesagt habe, erhält doch folgends sein ganzes Ge-
wicht sobald man es mit den Erscheinungen der Repro-
duction parallelisirt, die wie schon oben erinnert worden,
eine partielle widerholte Generation ist, und die mich
jetzt wieder dahin zurückbringt wo ich am Anfang dieses
Aufsatzes ausgegangen war.
Ich habe die erste von jenen beiden oben angeführ-
ten Erfahrungen seit dem sowol an den gedachten grünen
als auch an andern Arten von Armpolypen sehr oft und
immer mit dem angezeigten Erfolg, wiederholt: nur
daß es bey den grünen am allersichtbarsten war, daß
das kürzlich verstümmelte Thier anfangs fast im gleichen
Maaße kleiner ward, so wie es seine neuen Arme oder
Hinterleib wieder reproducirte. Man sah offenbar, wie
sehr die Natur eilt dem verstümmelten Geschöpfe nur so
bald als möglich seine bestimmte Bildung wieder zu er-
setzen: und daß in der Kürze der Zeit, da ohnmöglich schon
durch die Nahrungsmittel, (die ohnehin ein verletzter
Polype nicht so häufig zu sich nimmt als ein gesunder)
sattsamer Stoff zu den neuen Gliedern wieder gesammelt
seyn konnte, der Rumpf einen Theil seines noch übrigen
[[19]] eignen Stoffes hergeben muß, der sich dann mittelst des
ihm beywohnenden Bildungstriebes in die Gestalt der
verlohrnen Glieder formt, und so die zerstöhrte Bildung
wieder ergänzt. Zugleich erklärt sich auch warum diese
Ergänzung beym Polypen am allerleichtesten, schwehrer
schon bey Regenwürmern, Seeanemonen und Seester-
nen, und noch langsamer bey Krebsen und Wassersala-
mandern erfolgt. Der ganze Armpolype besteht durch-
gehends aus lauter völlig gleichen drüsenartigen Kügel-
chen, die durch eine gemeinschaftliche Gallerte mit ein-
ander verbunden sind. Dieser einfache Stoff ist also zur
Ergänzung eines jeden verlohrnen Gliedes geschickt,
und vorräthig. Bey den andern genannten Thieren hin-
gegen, sind die Glieder aus weit verschiedenern Stoffe
(aus mancherley partibus similaribus wie die Alten sagten)
zusammengesetzt. Und doch sieht man daß sich auch dann
der Unterschied blos auf die kürzere oder längere Zeit
die zum Ersatze nöthig und auf die grössere oder gerin-
gere Vollkommenheit desselben reducirt.
Alle und jede organisirte Körper haben ihren Bil-
dungstrieb, alle folglich auch eine Reproductionskraft:
und der scheinbar grosse Abstand der in diesem Stücke
zwischen den kaltblütigen und warmblütigen Thieren vor-
[[20]] waltet, wird bey einer nähern Untersuchung weit min-
der auffallend. Allerdings scheint zwar, wie wir schon
bey Gelegenheit der Misgeburten angemerkt haben, der
Bildungstrieb bey den kaltblütigen Thieren ungleich stär-
ker lebhafter und infallibler als bey denen mit warmen
Blute: allein wahrscheinlich hat man auch die Repro-
ductionskraft der letztern, über die man bisher zu spar-
same Versuche angestellt, nur allzu gering angeschlagen,
und ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß wenn
man nur erst durch Versuche alle die Hindernisse wird
ausgefunden haben, die die Reproduction bey diesen
Thieren erschwehren, daß nicht alsdenn der menschliche
Verstand auch Mittel ausfindig machen sollte, sie wenig-
stens grossen theils zu überwinden. Reproduction ist der
grosse Zweck der ganzen Chirurgie! und man sieht also
leicht, was jene Hoffnung für Aussichten zur Erweite-
rung der Grenzen dieser Wissenschaft und folglich zur
Milderung des menschlichen Elendes öffnet, und wie
durch eine solche Anwendung der Naturgeschichte diese
anmuthigste und lehrreichste aller menschlichen Kenntnisse
auch immer mehr zur wohlthätigsten und nutzbarsten er-
hoben werden könne.
Eine schon anderwärts bemerkte Erscheinung. Man s.
die Abh. der HH. Fabre und Louis des playes avec
perte de substance in den Mem. de l’ac. de Chirurgie.
Vol. IV. S. 74 und 106.
Vis plastica scheint bey vielen ältern Schriftstellern ein
leeres Wort für eine qualitas occulta zu seyn. Den
bestimmtesten Begriff giebt doch noch Franz Bonamico
der bekannte Aristoteliker, de formatione foetus p. 528.
Spiritus in aërea feminis substantia comprehensus, asper-
sus autem a calore coelesti, et vi a patre accepta, et
ea quam a coelo participat, in uterum foeminae con-
jectus, concoquit materias a foemina infusas et pro ra-
tione ipsarum variis modis afficiens efficit instrumenta.
Dum vero ea fabricat appellatur Facultas διαπλαςικη seu
δημιϐργικη. Sed ubi exstructa fuerint instrumenta, ut
iis uti queat, quae prius erat vis formatrix, illis utens
degenerat in animam.
Ihr berühmter Erfinder beschreibt sie also: ‘„Sie ist
diejenige Kraft, durch welche in den vegetabilischen
Körpern alles dasjenige ausgerichtet wird, weswegen
wir ihnen ein Leben zuschreiben; und aus diesem
Grunde habe ich sie die wesentliche Kraft dieser Kör-
per genannt; weil nemlich eine Pflanze aufhören
würde, eine Pflanze zu seyn, wenn ihr diese Kraft
genommen würde. In den Thieren findet sie eben
sowohl statt wie in den Pflanzen, und alles dasje-
nige, was die Thiere mit den Pflanzen gemein haben,
hängt lediglich von dieser Kraft ab.„’ H. Casp. Friedr.
Wolff Theorie von der Generation S. 160.
Schon seit mehrern Jahren hat die Generatio aequivoca
ein paar sehr wichtige Fürsprecher an zwey eben so
scharfsichtigen Beobachtern als beredten Schriftstellern,
Hrn. Grafen von Buffon und seinem berühmten Mit-
arbeiter H. Suenau von Montbeillard gefunden. Man
s. Jenes hist. nat. im 2ten Th. und neuerlich im 4ten
Suppl. Band. und Dieses Vorrede zu seiner Ausgabe
von Swammerdams Bibel der Natur. Doch ist es
hier der Ort nicht, wo ich von ihren Gründen Ge-
brauch machen dürfte.
S. Herrn Hofr. Michaelis Mosaisches Recht Th. IV. S.
46. der zweyten Ausg. und Orientalische Bibl. Th. IV.
S. 94.