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Vergleichende
Anatomie und Physiologie
der
Verdauungswerkzeuge der Säugethiere
und Vögel
.

Durchaus nach eigener Zergliederung
und Beobachtung
dargestellt
von
Jens W. Neergaard
Doctor der Medicin, Lector der Thierarzneykunde und Mitglied
der Königl. Dänischen Remonte-Commission.
Nebst einer Vorrede
von
Dr. Joh. Fr. Blumenbach
Königl. Grossbritannischen Hofrath und Prof. med.
ord. etc.

Mit sechs Kupfertafeln.

Berlin,
1806
.
In der Realschulbuchhandlung.

Vorrede.

[[V]]

Die vergleichende Anatomie hat ihren
hohen Werth und vielseitiges Interesse
von Aristoteles an bis heute, selbst
schon durch das wohlthätige Licht, das
sie über so viele andre Fächer mensch-
licher Kenntnisse verbreitet, auf eine
so entschiedne, einleuchtende und all-
gemein anerkannte Weise bewährt,
dass es auf den ersten Blick wohl sehr
[Seite VI] überflüssig scheinen möchte, ihre Wich-
tigkeit und Nutzbarkeit noch erst gleich-
sam ex professo demonstriren und aus-
einander setzen zu wollen.

Und doch, so wie schwerlich eine
der noch so allgemeinnützigen, frucht-
barsten Wissenschaften genannt werden
kann, deren Gemeinnützigkeit und
Fruchtbarkeit nicht auch in eignen
Schriften, und zwar gar oft auf eine
sehr zweckmässige belehrende Weise,
ausgeführt und erwiesen seyn sollte;
so hoffte auch ich, dass man es nicht
vergebens und unnütz finden werde,
wenn ich mich der passenden Gelegen-
heit, welche mir diese Vorrede anbie-
thet, dazu bediene, ein paar Worte
über den ausnehmend reichen Einfluss
zu sagen, den die vergleichende Anato-
mie schon allein auf drey der wichtig-
sten Felder der Naturwissenschaft
äussert:

[Seite VII]

auf das philosophische Studium der
Naturgeschichte überhaupt;

und dann auf das der Physiolo-
gie
des menschlichen Körpers,

und auf die Thierarzneykunde
insbesondre.

Was das erstere betrifft, so braucht man
sich bloss zweyer der allgemein interessan-
testen Gegenstände für die Philosophie
der Naturgeschichte
zu erinnern,
die schon auf so endlos vielseitige Weise
sowohl verfochten, als bestritten worden,
und die am Ende doch immer das mei-
ste von dem, was man ihnen an Reali-
tät und Haltung zugestehen muss, der,
Anatome comparata zu verdanken ha-
ben. Ich meyne die Stufenfolge
in der Natur
, und die Endabsich-
ten des Schöpfers
, die causas fina-
les. Ueber beide habe ich mich vor-
längst an andern Orten erklärt. Hier
nur soviel, dass, wie gesagt, die statt-
[Seite VIII] haftesten, unwiderleglichsten Beweise
für beide aus der Zootomie geführt
werden müssen. Gar lebhaft entsinne
ich mich noch der Bewunderung und
des unbedingten Beyfalls, womit auch
ich weiland in den Jahren des Tiroci-
niums meiner naturhistorischen Lauf-
bahn den bildlichen Ansichten der Na-
tur von Kette und Leiter in der Folge
ihrer Geschöpfe nach der äussern
Form derselben
, beygepflichtet bin.
So wie mich aber nähere Bekanntschaft,
die ich mir mit der Natur selbst zu er-
werben gesucht, und reiferes präjudiz-
loseres Nachdenken allgemach von je-
nem vormaligen Glauben an solch eine
vermeinte Stufenfolge der Geschöpfe
nach ihrer äussern Bildung zurückge-
bracht, so bin ich hingegen durch
meine zootomischen Studien immer
mehr überzeugt worden, dass die Kennt-
niss des innern Baues, worauf sich die
Physiologie der Functionen gründet,
[Seite IX] allerdings die evidentesten Uebergänge
und Stufenfolgen der Organismen und
der davon abhängenden Oeconomie
zeigt, und sonach solche Classen oder
Geschlechter des Thierreichs, die, wie
z.B. die Vögel oder die Schildkröten
u.s.w., ihrer äussern Form nach wie
isolirt stehen, und sich nicht ohne sicht-
lichen Zwang in einer Stufenfolge nach
der gewöhnlichen Vorstellungsart wol-
len unterbringen lassen, dann aufs ein-
fachste und ungezwungenste sich an
andre, in der äussern Bildung noch so
sehr von ihnen verschieden scheinende,
anschliessen, und gleichsam ihre innere
Verwandschaft mit denselben bewähren.
Da ich vermuthen darf, dass einem gu-
ten Theil der Leser dieser Vorrede
auch mein Handbuch der vergleichen-
den Anatomie nicht unbekannt geblie-
ben, so kann ich mich nur gerade auf
das beziehen, was ich dort an mehrern
Orten, z.B. gleich zu Anfang des Ab-
[Seite X] schnittes vom Gehirne und dem Ner-
vensystem überhaupt, darüber gesagt
habe. Auch das gehört dahin, was in
eben dem Buche hin und wieder als
Erweis des mechanischen Princips
im Bildungstriebe erwähnt worden, dass
nemlich bey der Bildung verwandter
und analoger Geschöpfe ein gewisser,
im Ganzen zweckmässiger Normaltypus
unverkennbar scheine, der sich endlich
auch selbst da, wo die ursprüngliche
Zweckmässigkeit und der ihr entspre-
chende Bau nun nicht weiter erforder-
lich war, doch noch durch ein
Rudiment von letztern (wie schon
Plinius die Organismen dieser Art
nennt), ausdrückt. Beyspiele geben
die ausser Verbindung mit dem Ge-
rippe im blossen Fleische steckenden
ossicula clavicularia mancher reissen-
den Thiere, das Rudiment eines
Urachus beym ungebornem Kinde u.
a.m.

[Seite XI]

Nun und so ergiebt sich aus dem
so eben Gesagten von selbst, dass, und
in wie fern die von manchen Sophisten
so unbestimmter Weise angefochtenen
causae finales aufs bündigste und ein-
leuchtendste durch die vergleichende
Anatomie vindicirt werden. Zwar kann
man nichts frostigeres und mageres se-
hen, als den grössten Theil unsrer frey-
lich herzlich wohlgemeinten Physicotheo-
logieen, deren Verfasser so oft Endab-
sichten des Schöpfers aus vermeinten Ein-
richtungen in der Haushaltung der Thiere
erzwingen wollen, wozu, beym Lichte be-
sehen, die Data selbst gar nicht in der Na-
tur existiren; aber das hindert nicht, dass
nicht die philosophische Thiergeschich-
te, wenn sie mit der Zootomie Hand
in Hand geht, tausend und aber tausend
von bewundernswürdigen Eigenheiten
mancher Geschöpfe in der Lebensweise
zeigt, die in einer eben so bewunderns-
würdigen, zweckmässigen – das teleo-
[Seite XII] logische Princip im Bildungstriebe un-
widerleglich aussprechenden – Orga-
nisation begründet, und der innigste
Bezug zwischen beiden so evident ist,
dass man entweder mit Worten spielen
oder einen seltsamen Hyperscepticismus
affectiren müsste, wenn man in dieser
Uebereinstimmung die Endabsichten ei-
ner höhern Weltursache verkennen
wollte. Ich darf, um wieder bloss ein
Paar Beyspiele von den bekanntesten
zu nennen, nur an die Luftbehälter der
Vögel, an die ganze Organisation des
Seehundes, und an das Gerippe und
den Muskelbau des Maulwurfs erin-
nern.

Für die Physiologie des mensch-
lichen Körpers wird die vergleichende
Anatomie aus einem dreyfachen Grun-
de eine der bey weitem wichtigsten, er-
giebigsten Quellen und Hülfswissen-
schaften.

[Seite XIII]

Erstens schon, weil überhaupt in
den frühesten Zeiten alle Physiologie
ursprünglich von Zootomie ausgegan-
gen*), als welche von den Aerzten
und Naturforschern weit früher als Men-
schenanatomie, ja wohl achtzehn Jahr-
hunderte hindurch ausschliesslich ohne
diese, betrieben werden konnte. Denn
es ist meines Wissens wohl keinem
weitern Zweifel unterworfen, dass Mon-
dini’s
kleine anatomia partium corpo-
ris, humani, die ihr dadurch immortali-
[Seite XIV] sirter Verfasser ohngefähr im zweyten
Jahrzehend des XIVten Sec. geschrie-
ben, das allererste anatomische Com-
pendium ist, das wirklich nach mensch-
lichen Leichen abgefasst worden; da
Galen nicht einmal nur seine Osteologie
nach dem menschlichen Knochenbau
verfertigt hat; und eben von dieser so
spät erst den Aerzten gewordenen Gele-
genheit, menschliche Körper zu zerglie-
dern, noch bis auf den heutigen Tag
so manche Theile in der Anatomie ihre
auf den menschlichen Bau gar nicht
passende Nahmen führen, wie z.B. die
rechten und linken Herzhöhlen, das
Schafhäutchen und Schafwasser in der
schwangern Gebärmutter u. dergl. m.

Zweitens sind aber auch noch selbst
in den letztern Jahrhunderten, nachdem
schon die Anatomie des menschlichen
Körpers erst durch Berengar von Car-
pi
scientifisch ausgebildet und nachher
[Seite XV] durch den grossen Triumvirat von Vesal,
Fallopia
und Eustach so schnell und so
zum Wunder vervollkommnet worden,
doch immer noch die wichtigsten ana-
tomischen Entdeckungen, die nemlich
von der grössten Bedeutung für die
Physiologie als Grundfeste der Arzney-
wissenschaft sind, an Thieren gemacht.
Daher denn auch kein andres Jahrhun-
dert so reich an solchen Entdeckungen,
und deshalb in der Litteratur der Phy-
siologie so epochemachend gewesen,
als das vorletzte*), wo die vergleichen-
[Seite XVI] de Anatomie mit so allgemeinem Eifer
betrieben ward, dass darüber die des
menschlichen Körpers selbst wieder
merklich vernachlässigt wurde.

Am allerwichtigsten und reichlich-
sten verinteressirt sich aber die verglei-
chende Anatomie zum Behuf der Physiolo-
gie dadurch, dass sie den bey weitem si-
chersten und untrüglichsten Probstein ab-
giebt, um in zweifelhaften Fällen den
Nutzen der Theile mit Gewissheit
zu bestimmen, was selbst gleichsam die
Seele dieser medicinischen Fundamen-
talwissenschaft ausmacht, daher auch
schon der grosse Galen davon den Ti-
tel zu seinem classischen Meisterwerke
über dieselbe entlehnte; und Haller
von dem Verhältniss der menschlichen
und vergleichenden Anatomie zur Phy-
siologie sagte: ‘„Situm, figuram, magni-
tudinem partium ex homine disci
praestat; utilitates et motus partium
[Seite XVII] animalibus fere debemus.“’ Auch ha-
be ich selbst auf diesem Wege manche
kleine physiologische Probleme, wie
z.B. über die wahre Bestimmung der
Stirnhöhlen, über die sogenannten mu-
tationes oculi internas, über den Nutzen
des so höchst merkwürdigen Soemmer-
ringschen
foraminis centralis retinae etc.
zu lösen versucht.

Was endlich den grossen directen
Einfluss der vergleichenden Anatomie
auf die Thierarzneykunde anbe-
langt, so bedarf es wohl kaum eines
weitern Wortes, als der trocknen Erin-
nerung, dass sich jene zu dieser durch-
aus und vollkommen eben so verhält,
wie die Anatomie und Physiologie des
menschlichen Körpers zur eigentlich
sogenannten Arzneywissenschaft; dass
der eigenthümliche Organismus und die
davon abhängigen Eigenheiten der
Functionen bey den einzelnen Ge-
[Seite XVIII] schlechtern und Gattungen von Thie-
ren auch seinen eignen Störungen und
Krankheiten unterworfen sey; und dass
folglich die rationelle Behandlungsart
der Thierkrankheiten durchaus solide
Kenntniss jener generischen oder speci-
fischen Eigenthümlichkeiten des innern
Baues voraussetze. So dass es wohl
sehr überflüssig seyn würde, das Dige-
stionsgeschäfte der wiederkäuenden
Thiere oder andre Beyspiele der Art
erst noch zum Erweis solcher so gut
wie mathematisch demonstrablen Wahr-
heiten aufstellen zu wollen.

Uebrigens konnte dieses Wenige,
was hier doch gleichsam nur als Fin-
gerzeig zur Würdigung des hohen
Werths der vergleichenden Anatomie
für Naturgeschichte, Physiologie und
Thierarzneykunde gesagt worden, schwer-
lich eine angemessnere, passendere Stel-
te finden, als in der Vorrede zu einem
zootomischen Werke, dessen vielseitig
[Seite XIX] interessanter Gegenstand sowohl, als die
musterhafte, fruchtbare Weise, womit er
behandelt worden, gerade selbst den spre-
chendsten Beweis für die Wahrheit alles
hier Gesagten abgiebt; – zu einem
Werke, das, wie Leser, die mit der
Natur vertraut sind, auf jeder Seite
desselben fühlen müssen, ganz und
aufs getreuste aus ihr selbst geschöpft
worden; – und dessen Verfasser, ein
würdiger und geliebter Schüler seines
und meines unvergesslichen Freundes,
unsers theuren Abildgaard’s, sich durch
dasselbe an die berühmten Nahmen
seiner trefflichen Landsleute und clas-
sischen Vorgänger im zweckmässigen
ergiebigen Studium der Zootomie an-
schliesst, von welchen ich nur allein
aus dem obgedachten güldnen Zeitalter
dieser fruchtbaren Wissenschaft, hier
die Namen Nic. Stenson, Ole Borch,
Thomas Bartholin
und Ole Worm zu
nennen brauche, vier Männer, deren
Schriften ich vorlängst mit eben der
[Seite XX] vielfachen grossen Belehrung studiert
habe, mit welcher ich jetzt das reich-
haltige Werk, dem diese Blätter vor-
gesetzt sind, benutze.

Joh. Fr. Blumenbach.
Göttingen,
den 5ten Oct. 1805.


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Notes
*).
[Seite XIII]

‘„Quis nesciat originem suam, et invento-
rum famam sectionibus brutorum anatomiam
debere? Quique inter anatomicos immorta-
le nomen sunt consecuti, in perlustran-
dis visceribus animalium maximam eorum
operam extitisse? Adeo nihil hoc tempore
curiosius, nihil utilius eo genere exercita-
tionis, quod comparatam anatomen
vocant, plane videtur.’

Fantoni.

*).
[Seite XV]

Das ist der Grund von dem, was Haller
sagt: ‘„Ein unbegreifliches Glück hat dem
XVIIten Jahrhundert alle diejenigen ana-
tomischen Entdeckungen in die Hände ge-
spielt, die einen sonderlichen Einfluss in
die Arzneykunst haben. Die heutigen
Lehrer finden, bey ungleich bessern An-
stalten und häufigern Leichnamen, keine so
sehr bedeutende Neuigkeiten.“’



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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