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Göttingische
Anzeigen
von

gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band,
auf das Jahr 1790.
Titelblattillustrationxxx

Göttingen,
gedruckt bey Johann Christian Dieterich.

Göttingische
Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

[Seite 25]

3. Stück.

Den 4. Januar 1790.


Göttingen.

In der Versammlung der Königl. Societät der
Wissenschaften den 12. Dec. vor. Jahrs legte
Hr. Hofr. Blumenbach die erste Decade seiner
Sammlung von Schädeln verschiedener Völker-
schaften vor. – Da bey Bestimmung der Varie-
täten im Menschengeschlecht, so gut wie in der
übrigen Naturgeschichte, ohne anschauliche Kennt-
nisse kein sicherer fester Tritt gedacht werden kann,
so hat der Hr. Hofr. seit den 15 Jahren, da er sich mit
jener Untersuchung abgegeben, alles angewandt,
um sich immer mehr und mehr Subsidien zu diesem
Behuf aus der Natur selbst zu verschaffen. Unter
andren also auch Schädel fremder Völkerschaften,
wovon er durch gütige Unterstützung theilnehmen-
der Gönner und Freunde eine merkwürdige Samm-
lung zusammengebracht hat. (– Hr. Baron, von
[Seite 26] Asch allein hat dieselbe schon nach und nach mit
22 Schädeln, größtentheils von Russischen Völker-
schaften, bereichert). – Da aber bey dem wissen-
schaftlichen Gebrauch solcher Dinge alles darauf
ankommt, daß sie ächt seyen, so giebt Hr. B. zu-
erst Rechenschaft von seiner Prüfungsart derselben.
Zuvörderst möglichst genaue Erkundigung und Un-
tersuchung der Umstände, wodurch und wie ihm
jeder Schädel zugekommen, wo er herstammt etc.
Zuweilen können selbst Nebendinge entscheidend
seyn, wie z.B. an einem Caraibenschädel, den er
ohnlängst durch die Güte des Hrn. Baronet Banks
erhalten, die an der einen Seite noch ansitzende
behaarte Haut, wo schon das straffe schlichte Haar
den wahren Caraiben von irgend einem der dor-
tigen freyen Neger auszeichnet, die bekanntlich
sonst auch ihren Kindern die Köpfe nach Caraiben-
form pressen. – Aber ein Schädel könnte noch
so ächt, und doch zu gegenwärtigem Zweck un-
tauglich seyn, wenn seine Nationalform etwa durch
Knochenkrankheit oder Zufall entstellt wäre. Hier
sichert Vergleichung mehrerer Schädel des nem-
lichen Volks unter einander; nächstdem portrait-
mäßige getreue Abbildungen; und endlich freylich
auch Nachrichten von gut beobachtenden und zu-
verlässigen Reisebeschreibern. – Leider hat die
Vernachlässigung einer solchen kritischen Prüfung
der Schädel schon manchen sonderbaren Irrthum
und Widerspruch veranlaßt. So tribuirte sogar der
sel. Camper wegen eines Schädels in seiner Samm-
lung den Calmücken schmale Köpfe mit kielförmi-
gem Scheitel! – Dann von den Hauptmomen-
ten, wornach sich die Nationalverschiedenheit der
Schädel bestimmen läßt. Wie unzulänglich zu
diesem Behuf sowohl die Daubentonische Occipital-
linie, als die Campersche Faciallinie sey. Jene
[Seite 27] variirt oft bey verschiednen Schädeln desselben Volks
aufs äusserste: diese hingegen ist oft bey Schädeln
der verschiedensten Völker von der äusserst un-
ähnlichsten Bildung, völlig die gleiche. Z.B. ver-
glich der Hr. Hofr. die Faciallinie an der fast mon-
strösen Baschkirenphysiognomie eines vom Hrn.
Baron von Asch ihm neulich zugesandten Schädels
mit der am griechischen Profil einer Meduse von
Sofocles, die Hr. Camper als das Maximum
menschlicher Schönheit ansah. Da ist freylich
Albr. Dürers Bestimmung des menschlichen Pro-
fils (Fol. E. ij. b der Ausgabe von 1528.) sicherer,
da er drey besondere Linien für Richtung der
Stirne, Nase und der Kiefer festsetzt. – Aber
überhaupt zieht der Hr. Hofr. auch in diesem
Theil des zoologischen Studiums das natürliche
System, wo man auf den ganzen Habitus sieht,
dem künstlichen vor, das auf einzelne abstrahirte
Charaktere gebaut ist. Damit aber im gegen-
wärtigen Fall der Ausdruck vom ganzen Habi-
tus nicht schwankend und unbestimmt scheine, so
nimmt er zweyerley an einander stoßende Knochen
am Schädel zur Basis der ganzen Nationalcha-
rakteristik an: Das Stirnbein nemlich und den
Oberkiefer. Durch jenes wird Höhe und Breite
des Schädels; durch den Oberkiefer aber die
Weite der Nasenhöhle, die Richtung der Nasen-
knochen, und selbst des Unterkiefers; durch die
Verbindung der beyderley Normalknochen aber
auch die Weite und Tiefe der Augenhöhlen, die
Protuberanz der Backenknochen etc. bestimmt u.s.w. –
Nach allen diesen Cautelen und Regeln war nun
die Beschreibung der 10 Schädel, die diesmal
vorgelegt wurden, abgefaßt. Es waren I. ein
Mumienschädel. – Zur Vergleichung legte der Hr.
Hofr. ein sprechendes Osirisidol aus dem akademi-
schen Museum vor. – II. ein Türke, der bey der
[Seite 28] Eroberung von Oczakow im December 1788. sein
Leben verlohnen (– so wie N. III. IV. V. ein Ge-
schenk des Hrn. Baron v. Asch –). III. ein Asia-
tenschädel, vermuthlich von einem Tatarischen
Volke, mit auffallend schmalem kielförmigen Schei-
tel. IV. ein Donischer Cosack, wovon der Hr.
Hofr. das ganze, äusserst merkwürdige, Skelet
vom Hrn. Baron erhalten. V. ein ächter Cal-
mücke. VI. VII. VIII. drey Negerschädel, die
Hr. B., so wie N. IX., der Güte des Hrn.
Hofr. Michaelis zu Marburg verdankt. (– Eine
merkwürdige Svite, zum Erweis, daß zwischen
Neger und Neger selbst eben so viele auffallende
Verschiedenheit, als zwischen manchem Neger und
manchem Europäer sey –). IX. ein Nordameri-
kanischer Wilder, der vor ohngefähr 30 Jahren in
Philadelphia enthauptet worden. X. ein Caraiben-
Heerführer von S. Vincent. (– Dieses Geschenk
des Hrn. Baronet Banks ist um so wichtiger, da
nach den Nachrichten des Aufsehers über den königl.
Garten zu S. Vincent, Hrn. Anderson, der diesen
Kopf an den Hrn. Baronet übersandt hatte, diese
eigentlichen Caraiben nun größtentheils durch die
gedachten freyen Negern bis auf zwey Familien
ausgerottet worden –).

So viel Auszeichnendes jeder dieser Schädel
hat, so ist doch der Unterschied zwischen denen, die
am allermeisten von einander abweichen, zwischen
dem Calmücken nemlich und den Negern, doch
lange nicht so auffallend, als z.B. der zwischen
den Schädeln unsers Hausschweins und der wil-
den Sau. Und so zeigt die Natur freylich auch
von dieser Seite im Menschengeschlecht nur eine
gemeinschaftliche Stammgattung: aber, so gut
man doch die Spielarten von Nelken und Tulpen
classificirt, eben so füglich auch die Spielarten
im Menschengeschlecht; und so hat auch der Hr.
[Seite 29] Hofr. die Schädel nach den von ihm bestimmten
Varietäten desselben (Handbuch der Naturgesch.
III. Ausgabe S. 60 u. f.) geordnet.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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