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Göttingische
Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band,
auf das Jahr 1794.

Göttingen,
gedruckt bey Johann Christian Dieterich.

Bern.

[Seite 1785]

Bey Emanuel Haller: Versuch einer Anthropo-
logie oder Philosophie des Menschen nach
seinen körperlichen Anlagen. Von I. Ith, Prof.
der Philosophie. Erster Theil. 308 Seiten in Octav.
Mit dem bescheidenen Motto aus Malebranche:
Tendre à la perfection, sans jamais y préten-
dre
. – Der Verf. versteht unter Anthropologie,
diesem so vielsinnigen Worte, das Studium der
theoretisch-practischen Menschenkenntniß; d.i. der
Natur, der allgemeinsten Verhältnisse und der Be-
stimmung des Menschen. Sie begreift nach seinem
Plan: 1. die sogenannte Physik des menschlichen
Körpers, oder die Physiologie; 2. die Psychologie;
3. die Uebersicht der allgemeinen Verhältnisse des
Menschen gegen die übrige Natur, der Verbreitung
des Menschengeschlechts über die Erdfläche und sei-
[Seite 1786] ner Cultur. Da die Philosophie die Materialien zu
diesem Theile aus der Geschichte schöpfen muß, so
nennt er denselben die historische Anthropologie.
Alle drey Fächer liefern die Prämissen zur Schluß-
folge über die Bestimmung des Menschen, welche
4. in der moralischen oder teleologischen Anthropo-
logie abgehandelt wird.

Zuerst also die Philosophie des Menschen phy-
siologisch
oder nach seinen körperlichen Anlagen
betrachtet; in zweyen Bänden, wovon wir den
ersten vor uns haben. – Voran eine Einleitung
von den organisieren Wesen überhaupt. – Von
der Kluft, wodurch die Natur diese Wesen von den
bloß physischen (unorganisirten) Körpern abgeschie-
den hat. Organisch und unorganisch sind wider-
sprechende Begriffe, zwischen welchen kein dritter
denkbar ist; so wenig, als zwischen Pflanze und
Thier, deren beyde Reiche durch die angeblichen
Bindungsglieder in den allegorischen Vorstellungen
von Leiter oder Kette der Natur nur in der Ima-
gination, nicht aber in der Realität, einander nä-
her gebracht sind, noch gebracht werden können, so
lange man Kritik der Vernunft beobachtet, die uns
sagt, daß das, was formal unmöglich ist, auch
objectiv und real unmöglich seyn müsse. Organi-
sche Wesen sind dem Verf., mit Hrn. Kant, nicht
bloße Naturproducte, sondern Naturzwecke, welche
die Caussalität ihrer eigenen Wirkungen in sich ent-
halten, und sich selbst wechselseitig Ursache und Wir-
kung sind. Besonders vom genetischen Character
derselben, dem Bildungstriebe, wodurch sie sich
auch von mechanischen Kunstwerken unterscheiden.
Bey den Pflanzen steht die bildende Kraft in unmit-
telbarer, bey den Thieren aber mittelst des Ver-
mögens der willkührlichen Bewegung in mittelbarer
Verbindung mit den physischen Kräften des Natur-
[Seite 1787] mechanism. Beym Menschen ist die willkürliche
Bewegung außer den thierischen Seelenkräften noch
überdem mit geistigen Vermögen verbunden. Außer
der Einleitung enthält dieser erste Band drey Bü-
cher vom Werke selbst, nämlich I. historische Ueber-
sicht der Materialien des menschlichen Körpers.
Die Eintheilung der Gefäße nach Hrn. Platner.
II. B. von den allgemeinen Kräften des menschli-
chen Körpers. Hr. von Haller habe ihrer zu we-
nige, Hr. Blumenbach zu viele angenommen. Dem
Verf. sind dreye hinreichend: a) Bildungstrieb,
b) Irritabilität, c) Sensibilität. Die Irritabilität,
sagt der Verf., zeichnet sich in allen Phänomenen,
wesentlich von der Federkraft aus, mit welcher sie
im Grunde gar keine Analogie hat. Die verschiede-
nen Erscheinungen der Zusammenziehung der Muskel-
fasern bey der verschiedenen Gestalt derselben nach
Hrn. Girtanner. III. B. von den eigentlichen Fun-
ctionen des menschlichen Körpers: die nämlich fort-
dauernd, unabhängig von Willkühr, und zum thie-
rischen Leben unentbehrlich seyen: zum Unterschied
von denjenigen edlern Wirkungen des Körpers, wel-
che unter dem Einfluß der Vorstellung und der
Spontaneität stehen (diese sind nach dem Verf. das
Empfindungsvermögen, die Sprach- und Zeugungs-
fähigkeit), als von welchen Vermögen oder Fähig-
keiten im folgenden Buche die Rede seyn wird.
Jene Functionen sind: Blutumlauf, Respiration
und Nutrition. – Das ganze Werk zeigt ausge-
wählte Belesenheit, selbst bis auf die neuesten, in
diesem Jahre erst erschienenen, Schriften; durch-
gehends aber einen selbstdenkenden, scharfsinnigen
Eclectiker; und ist zugleich in einen angenehmen,
faßlichen Vortrag eingekleidet; so daß die völlige
Ausführung des Plans, den sich der würdige Verf.
gemacht hat, gar sehr zu wünschen ist. Von den
[Seite 1788] in diesem ersten Bande hin und wieder verkommen-
den Druckfehlern sind am Ende die wenigsten ange-
zeigt. Manche Stellen sind auch wohl nicht be-
stimmt genug abgefaßt; wie z.B. S. 46, wo die
Verrichtung des Cynips psenes zu den Mitteln ge-
zählt wird, deren sich die Natur bedient, um den
befruchtenden Staub von der männlichen zur weib-
lichen Pflanze zu bringen. S. 105, wo den nerven-
losen Thieren ein beträchtliches Muskelsystem zuge-
schrieben wird. S. 126, daß sich die Haare pflan-
zenartig aus einer Zwiebel entwickeln. S. 280
und 85 steht Epiglottis zweymal am unrechten
Orte, und an der ersten Stelle müßte das berich-
tigt werden, was vom Zäpfchen gesagt ist. Der
S. 289 erwähnte Steinfresser kann nicht der seyn,
von welchem Hr. Vogel in Göttingen 1771 geschrie-
ben, denn der war in Ilfeld gestorben. Auffallend
war uns die Stelle S. 267: ‘”Niemand glaubt
heut zu Tage der Fabel, daß lebende Frösche in
hartem Marmor und Baumstämmen gefunden wer-
den”’ etc. Aber noch mehr S. 74 das harte Urtheil
über Linné, ihn, den Verfasser der philosophia
botanica
.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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