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Göttingische
Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band,
auf das Jahr 1795.

Göttingen,
gedruckt bey Johann Christian Dieterich.

Göttingen.

[Seite 2081]

Hr. Hofr. Blumenbach hat bey Gelegenheit der
von der medicinischen Facultät sieben Candidaten
ertheilten Doctor-Würde, ein Programm unter dem
Titel drucken lassen: de vi vitali sanguini dene-
ganda, vita autem propria solidis quibusdam cor-
poris humani partibus adserenda curae iteratae.

I. von der vermeinten Lebenskraft im Blute,
besonders auf Anlaß des Hunterschen posthumen
Werks (– s. das 191. St. dieser Anzeigen –) doch
mit Uebergehung derjenigen Gegengründe, die der
Verf. schon in der am academischen Jubiläum ge-
haltenen Vorlesung (– G. A. v. J. 1787. 173. St. –)
aus einander gesetzt hatte. Wenn sich die Verfechter
der Vitalität des Blutes der Vogeleyer zum Erweise
bedienen, daß Säfte mit Lebenskraft versehen seyn
können, so scheinen sie zu vergessen, daß 1) jedes
noch unbebrütete, und selbst jedes unbefruchtete so
genannte Wind-Ey, dennoch seine cicatricula (den
Hahnentritt) und seine verschiedenen Häute hat, die
[Seite 2082] eben sowohl für solida viva angesehen werden müs-
sen, als die häutigen Wassersäcke an den Blasen-
würmern etc.; und daß 2) wie ja schon Harvey
angemerkt hat, die Fäulung im verdorbenen Ey ge-
rade an der Stelle des nun abgestorbenen Hahnen-
tritts zuerst beginnt. – Daß das Blut doch den
Stoff zu allen belebten festen Theilen liefere, bewei-
set noch nicht, daß es folglich selbst belebt seyn
müsse. So liefert das reine Brunnenwasser in den
Gläsern, auf welche man Hyacinthen-Zwiebeln ge-
setzt hat, freylich auch den Stoff zu den aus sel-
bigen empor-vegetirenden Gewächsen. Zur Lebens-
Thätigkeit der organisirten Körper gehören aller-
dings Säfte sowohl als feste Theile; aber das Lebens-
Principium selbst kann sehr lange im vertrockneten
saftlosen Körper zwar unthätig, aber dennoch unzer-
stört, verborgen liegen. So sind, wie man mehr-
mahlen durch genaue Versuche erfahren, Getreide-
und andere Samenkörner, die 100 und mehr Jahre
lang trocken gelegen hatten, doch unter den erfor-
derlichen Umständen noch aufgegangen. Und durch-
lauft man die Stufenleiter der organisirten Körper,
zumahl im Thierreiche, von denen, die bloßes Was-
ser zum stimulus für ihr solidum vivum brauchen,
bis endlich zu denen, die warmen Blutes dazu be-
dürfen, so sieht man nicht, in welcher Classe oder
Ordnung nun der terminus a quo festgesetzt wer-
den soll, wo dieser stimulus selbst belebt seyn
müßte. – Und daß das Blut im lebendigen Kör-
per nicht fault, läßt sich auch ohne Lebenskraft
desselben aus den beständigen Veränderungen be-
greifen, die in dem belebten Laboratorio mit ihm
vorgehen, zumahl daraus, daß es in jeder Stunde
wenigstens zwanzigmahl durch die Lungen strömt,
und da mit frischem Sauerstoffe geschwängert wird. –
[Seite 2083] Endlich auch von dem aus der Gerinnbarkeit der
Lymphe des Blutes zur Behauptung der Lebenskraft
desselben entlehnten Argument. Die Speckhaut, die
aus einem Teller voll Aderlaß-Blut geliefert, ist wohl
eben so wenig, als so manches andere Coagulum,
selbst aus dem Mineralreich, belebt. Vielmehr
zeigt sich aus der genauern Vergleichung solche
Gerinnungen im Blute außer dem belebten Körper
mit den Stoffen, die in demselben aus dem Blute
abgesetzt und selbst belebt werden, am unverkenn-
barsten und einleuchtendsten die große Kluft zwischen
der allgemeinen so genannten plastischen Kraft und
dem bloß den organisirten Körpern eigenen Bil-
dungstriebe.

Der II. Abschnitt, der besonders durch die von
Hrn. Prof. Gallini in Padua dem Verf. gemach-
ten Einwendungen (– s. dieser Anz. vom J. 1793
150. St. –) veranlaßt worden, enthält nähere Be-
stimmung und Erweis der schon anderwärts von
diesem angenommenen vita propria einiger Organe
im thierischen Körper, die sich nähmlich sowohl durch
ihre ganz eigenthümliche Textur, als durch ihre
gleichsam anomalischen Verrichtungen, so sehr von
allen übrigen auszeichnen, daß diese ihre Verrich-
tungen schwerlich auf Rechnung der allgemeinen
Lebenskräfte (der Contractilität, Reitzbarkeit und
Empfindlichkeit) geschrieben werden können. –
Entweder müßten jene allgemeine Lebenskräfte ganz
anders definirt, ihre Grenzen gar sehr verrückt wer-
den, oder aber man muß den wenigen anomali-
schen Functionen, von welchen hier die Rede ist, vor
der Hand eine eigenthümliche Lebenskraft zugestehen. –
Zum Ueberfluß ein Wort von dem Unterschied zwi-
schen dieser vita propria und dem, was Hr. Blane
u.a. die specifische Reitzbarkeit aller belebten Theile
[Seite 2084] gegen ihre respectiven stimulos genannt haben.
Zu einem Beyspiele von jener vita propria statt
aller, die in ihrer Art einzigen Functionen der Gebär-
mutter; namentlich z.E. die Art, wie bey jedem
Legehuhn das so genannte infundibulum am obern
Ende des oviductus, aus den Hunderten von Dot-
tern jedesmahl den zeitigen aus seiner zum Bersten
reifen Hülse auffaßt.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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