Beyträge zur vergleichenden Anatomie, von
J. F. Meckel. Prof. der Anatomie und Chir-
urgie zu Halle. Ersten Bandes erstes Heft. 124
Seiten in Octav, mit 5 vom Verfasser selbst mit
treuer Klarheit gezeichneten und geätzten Kupfer-
tafeln. – Dieser erste Heft, dem wir, zum Beßten
einer der interessantesten Wissenschaften, recht viele
folgende wünschen, enthält fünf eigne, neue, über-
aus lehrreiche, Aufsätze.
I. Anatomie der Cigale (Tettigonia plebeja).
Ein wundersamer Bau, zumahl der Verdauungs-
Organe. Es läßt, als ob das Thier zwey ganz
von einander unabhängige Darmcanäle hätte.
Der eine, eigentliche und gewöhnliche, entspringt
schon aus dem Oesophagus, und hat unten, wo er
sich dem After nähert, sechs ansehnliche Blinddär-
me. Der andre, räthselhafte, der aber jenen an
Länge übertrifft, hängt durch seine beiden Enden
bloß mit dem Magen zusammen; das eine mit dem
obern, das zweyte mit dem untern so genannten
Munde desselben. Die Speisen müssen wohl zuerst
[Seite 1562] in den Magen treten, und aus diesem nur durch eine
rückgängige Bewegung in den eigentlichen Darm-
canal gelangen. Vom andern darmähnlichen Canal
scheint es dem Verf., als sey er zur Abscheidung
irgend eines zur Verdauung nothwendigen Saftes
bestimmt, der sich dem, aus dem Magen in die
Enden des Canals tretenden, Alimenten-Brey bey-
mischt. Hier, bey dieser Gattung des Cicaden-
geschlechts, hat das Männchen kein solches, zum
Festhalten bey der Paarung bestimmtes, Organ,
wie hingegen bey der T. orni.
II. Anatomie der Tethys leporina, mit man-
cherley Berichtigungen andrer Schriftsteller, die aus
Unkunde des innern Baues auch die Bestimmung der
äussern Oeffnungen am Leibe des Thiers unrecht
angegeben hatten. Die Länge des Darmcanals ist
geringer, als die des ganzen Körpers, vom Munde
bis zur hintern Extremität, was auch ohne die dar-
in gefundnen Squillen für die Fleischnahrung des
Thiers beweisen könnte. Das Herz scheint doch kei-
nen besondern Herzbeutel zu haben. Das Nerven-
system ist auch bey diesem Molluscum sehr deutlich.
Die beiderley Sexual-Organe dieses Zwitterthiers.
Und am Schluß auch die specifischen Merkzeichen,
wodurch sich diese Gattung des Tethysgeschlechts von
der andern, T. fimbria, unterscheidet.
III. Ueber eine neue Art des Geschlechts Pleu-
robranchus. Die erste Kenntniß der bisher einzi-
gen Gattung dieses Geschlechts, des Pl. Peronii,
verdanken wir dem unermüdeten Eifer des Hrn. Prof.
Cüvier, der bekanntlich überhaupt über die ganze
so merkwürdige Classe der Mollusken zuerst das volle
Licht verbreitet hat. Hier diese neue, vom Hrn.
Prof. M. entdeckte und genau beschriebene, zweyte
Gattung unterscheidet sich allerdings im Aeussern und
Innern von jener, daher er sie durch folgenden spe-
[Seite 1563] cifischen Charakter bezeichnet: Dorsum tuberculis
miliaribus adspersum. Pes pallio latior. Tenta-
cula triangularia acuminata.
IV. Ueber die osteologischen Differenzen der
Igelarten. ‘“In dem Igelgeschlechte befinden sich
mehrere Thiere zusammengeordnet, welche so wesent-
liche osteologische Differenzen darbieten, daß sie
kaum nur specifisch differiren zu können scheinen,
ja daß selbst ihre Scheidung in zwey Unterabthei-
lungen, von denen eine die eigentlichen Igel”’ (z.B.
Erinaceus europaeus und auritus), ‘“die andre die
Tanrecs”’ (Er. setosus und ecaudatus) ‘“begreift,
vielleicht nicht ausreicht”’. Der Beweis wird bey
jeder Vergleichung der hier gegebnen genauen Be-
schreibung und Abbildung der Gerippe der letztge-
dachten beiden Gattungen aus Madagascar, mit dem
Skelete des hieländischen Igels, fühlbar. Nah-
mentlich haben die Tanrecs keine Jochbeine; aber
auch ihr Gebiß weicht von der Igel ihrem ab.
V. Beytrag zur Geschichte des menschlichen
Fötus. Nach zahlreichen, sehr fruchtbaren, Zer-
gliederungen von wenigstens einem Dutzend frühzei-
tiger Embryonen aus der großen Sammlung des
Verf.: auch hierbey alles durch deutliche Abbildun-
gen erläutert. Besonders hat er dabey ‘“auf die
Uebereinkunft der beym menschlichen Embryo vor-
übergehenden Zustände mit persistenten analogen in
niedern Thieren, und auf das genaue Zusammen-
treffen mehrerer Mißbildungen mit, bey jenem vor-
übergehenden frühern, bey niedern Thieren persisti-
renden, in beiden Beziehungen aber normalen,
Bildungen Rücksicht genommen”’. Wir können hier
nur gar Weniges aus dem überaus reichhaltigen
Aufsatze ausheben. ‘“Es scheint, daß der mensch-
liche Fötus und seine eyförmigen Hüllen beym Weibe
sich früher zu bilden anfangen möge, als bey den
[Seite 1564] Quadrupeden etc., weil der mehrere Bildungsstufen
zu durchlaufen hat, als der thierische, wie aus dem
Stehenbleiben einer Menge von Organen bey den
Thieren auf der Stufe erhellet, welche beym mensch-
lichen Fötus nur einer sehr frühern Periode zukom-
men”’. – Dahin gehört unter andern auch bey letz-
tern die späte Ausbildung des Kinnes (dieses Wahr-
zeichens der Humanität). – ‘“Bey einem kaum
zwey Linien langen bohnenförmigen Fötus, in einem
übrigens unverhältnißmäßig großen Eye, findet sich
von der Nabelschnur gar keine Spur; sondern die
Spitze des kleinen kegelförmigen Unterleibes gehet
in die Wand des Eyes, ohne über die Concavität
des Randes vorzuragen, so daß sich also jetzt noch
der Zustand findet, den man bey Vögeln während
der ganzen Bebrütung beobachtet. Merkwürdig ist,
daß sich eben so wenig Etwas findet, was für ein
Nabelbläschen gehalten werden könnte”’. (Auch bey
drey andern, S. 66 und 115 beschriebenen, fand
sich keine Spur desselben.) Ausserdem bemerkt auch
der Verf. an jenem Fötus ‘“die Aehnlichkeit der
ursprünglichen Gestalt aller, auch der verschieden-
sten, Thiere”’. – ‘“Sehr merkwürdig ist dabey der
Unterschied der Dauer dieser ersten, allen Thieren
gemeinschaftlichen, Form in Rücksicht auf die Dauer
des ganzen Lebens. Bey den niedrigen Thieren, den
Insecten, nimmt sie die bey weitem längste Periode
desselben ein, während sie bey den höheren einen
so unbedeutend kleinen Theil desselben beträgt, daß
es fast scheint, als erschienen sie anfänglich in ihr
nur, um einem allgemeinen Gesetze zu huldigen,
wie auch das männliche Beutelthier und verwandte
Geschlechter ohne Beutel doch die Beutelknochen ha-
ben”’. Zusammenstellung von merkwürdigen
spielen, wo Mütter zu wiederhohlten Mahlen mit
Mißgeburten, zuweilen von der nähmlichen Art von
[Seite 1565] Unform, niedergekommen sind. – Treffende Ver-
gleichung der Phänomene bey der frühen Ausbildung
der zarten menschlichen Leibesfrucht, und nahment-
lich der scheinbaren Metamorphose ihres Herzchens,
mit denen aus den ersten Zeiten beym bebrüteten
Hühnchen (letztere zumahl nach den musterhaften
Beobachtungen C. Fr. Wolff’s); aber auch mit dem
persistenten Baue des Herzens der Reptilien. –
Manche überaus scharfsinnige und lehrreiche Anwen-
dungen, die der Verf. von seinen trefflichen Zerglie-
derungen der Embryonen auf die Entstehung merk-
würdiger, großen Theils auch für die Pathologie sehr
bedeutender, angeborner Mißbildungen macht. So
S. 82 über die vermuthliche Entstehungsweise des lei-
der gar nicht seltnen prolapsus vesicae urinariae in-
versae. S. 91 über die Littrischen diverticula am dün-
nen Darm, daß sie wahrscheinlich Ueberreste der Ver-
bindung des Darmcanals mit der vesicula umbili-
cali seyen. S. 96 über die Klumpfüße. S. 101
über die Hasenscharten, den gespaltnen Gaumen etc.
S. 123 Bestätigung seiner schon früher geäusserten
Vermuthung, daß der Nabelbruch durch den Nabel-
ring, wie so viele angeborne Difformitäten, nichts,
als ein partieller Mangel an Entwickelung aus einer
niedrigern Bildungsstufe sey. Auch S. 108 über
den Anlaß zu den nicht seltnen Mißbildungen an den
Nieren. S. 109 über die Entstehungsart des
schon so oft beobachteten uterus bicruris bey Wei-
bern, und dergl. mehr.