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Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band
auf das Jahr 1809.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

Göttingen.

[Seite 1241]

Ueber die Möglichkeit einer philosophischen
Classification der Mineralkörper. Ein Gutachten
aus keiner Schule
. 70 S. in Octav. – Wenn
der ungenannte Verfasser dieser Schrift dieselbe nur
für einen Versuch eines Dilettanten in der Minera-
logie ausgibt, so erregt das den Wunsch, daß nur
recht viele Versuche der Mineralogen vom Fache mit
gleichem philosophischen Geiste und gleicher Billig-
keit geschrieben seyn möchten. Zumahl aus letzterer
Rücksicht gibt der vor uns liegende ein abstechendes
Gegenstück zu einigen andern neuern, die das Ansehen
erregen, als ob die Mineralogen die Steine, die sie
studiren, einander an die Köpfe schleudern müßten,
damit die Wissenschaft Platz bekomme. Erst, billige
Würdigung der Classificationsprincipien der dreyer-
ley vorzüglichsten mineralogischen Systeme. Des
auf eigentliche Naturbeschreibung gegründeten, nach
der Mehrheit der wesentlichern äussern Kennzeichen
der Fossilien; des chemischen, nach der Analyse
[Seite 1242] ihres Inhalts; und des mechanischen, vermittelst
Stereotomie und Reduction der Bildung auf eine
bestimmte Kerngestalt. Dann nun von den Princi-
pien einer philosophische Classification, die sich an
die vorigen, wie eine Conclusion an die Prämissen,
anschließt, und in Verhältniß zu welcher alle
übrigen nur präparatorisch sind, wenn sie den den-
kenden Kopf befriedigen sollen, der in allen Thei-
len, die zu dem Ganzen der Natur in einer be-
stimmten Hinsicht gehören, den dynamischen Zusam-
menhang zu entdecken sucht, durch welchen das
Einzelne etwas Bestimmtes im Verhältnis zum
Ganzen wurde. Die beiden Hauptprincipien, die
man von einer solchen Classification verlangt, sind,
nach dem Verf.: daß sie durch oryctognostische An-
ordnung so weit als möglich, der geologischen Ord-
nung entgegen komme, nach welcher die Natur im
Großen und Ganzen die Gebirgsarten hervorge-
bracht; und, daß in der Bestimmung der Gattungs-
charactere auf die Crystallisation vorzüglich Rücksicht
genommen werde, so weit es möglich ist; vollends
da durch Hauÿ’s Entdeckung, daß die chemisch ver-
einigten Bestandtheile eines Crystalls in bestimm-
tem Verhältniß zu einer Kerngestalt etc. stehen, eine
Characteristik der Fossilien-Gattungen möglich ge-
worden, die man vorher nicht ahnete. – An der
Spitze aller Gattungen, die zu Einem Geschlecht
gehören, stehen also nach dieser Ansicht die wirklich
crystallisirten, z.B. Kalkspath. Unmittelbar auf
diese folgen die bloß crystallinischen, d.h. diejenigen,
deren Textur zwar crystallinisch ist, die wir aber
nicht im vollkommen crystallisirten Zustande kennen,
wie z.B. körniger Kalkstein und Marmor. Den
Beschluß in einer bestimmten Reihe von mineralogi-
[Seite 1243] schen Gattungen machen diejenigen Fossilien, die nur
dicht und durchaus formlos verkommen, wie der
dichte Kalkstein und Marmor. – Scharfsinnige Be-
merkungen, um durch Combination einiger Grund-
sätze mit mineralogischen Thatsachen etwas zur Be-
stimmung der allgemeinen Geschlechter- und Classen-
charactere in der Mineralogie beyzutragen. – Die
unvermeidlichen Mängel einer Classification, die von
der Beobachtung des physischen Wesens und der pla-
stischen Tendenz der Mineralkörper ausgeht, drücken,
wenn die Theorie das Ihrige gethan hat, das hö-
here Gesetz der Natur selbst aus, die nicht für gut
fand, ihre Producte nach einer Tabelle (oder Bon-
netischen Leiter etc.) zu bilden: überdem aber ist es
auch oft nichts interessanter, zu wissen, warum in
gewissen Fällen eine bestimmte Classification möglich,
als, warum in andern Fällen keine möglich ist. –
Dann über die Rangorhnung der plastischen Tendenz
bey den Erdarten, die sich bey der Kieselerde am
allerbestimmtesten und stärksten zeigt; weit schwä-
cher schon bey der Thonerde, wo sich der plastische
Character weit minder durch Crystallisation, als
durch die auffallend blätterige Textur auszeichnet;
und vollends im Talkgeschlechte, das sich durch die
fadenartige Bildung characterisirt: so daß man,
um die Verschiedenheit des plastischen Characters
dieser drey Erden in mineralogischer Beziehung ma-
thematisch zu bezeichnen, gewisser Maßen sagen
dürfte, daß die Natur im Kieselgeschlechte mit aus-
gezeichneter Kraft auf den vollendeten Körper, im
Thongeschlechte mehr auf die bloße Fläche, und im
Talkgeschlechte auf die Linie, hinarbeite. Auch sey
es wohl mehr, als bloß wahrscheinlich, daß diese
drey Geschlechter Eine mineralogische Reihe bilden,
[Seite 1244] welcher das Kalk-, Strontian- und Barytgeschlecht
als eine zweyte Reihe entgegen stehen. – Am
Schlusse ein scharfsinniger Versuch, die Gattungen
aus den drey Geschlechtern jener ersten großen mi-
neralogischen Reihe nach obiger Rücksicht in cry-
stallisirte, oder aber nur crystallinische, oder end-
lich gänzlich formlose, mit Hülfe der Wernerschen
Unterabtheilung in Familien oder Sippschaften, zu
ordnen.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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