Beyträge zur Naturgeschichte, von J. Fr.
Blumenbach. Zweyter Theil. 1811. 144 S.
in Octav, mit Vignetten. – Dieses Bändchen
enthält zwey Aufsätze, die, so wenig sie auch
unter einander in Verbindung stehen, doch beide
auf den ersten Theil Bezug haben. Der eine vom
Homo sapiens ferus Linn., und nahmentlich
vom Hamelschen wilden Peter; der andere
über die Aegyptischen Mumien.
I. Vor etlichen und 80 Jahren ward bey Ha-
meln ein ungefähr zwölfjähriger so genannter wil-
der Junge eingefangen, welchen König Georg I.
bald darauf nach England bringen ließ, von wo
aus er unter den Philosophen und Naturforschern
seiner und der folgenden Generationen eine allge-
meine Celebrität erlangt hat. Man hoffte durch
diesen wilden Peter (den Nahmen hatten ihm gleich
bey seiner ersten Erscheinung in Hameln die Stra-
ßenjungen gegeben, und der ist ihm bis in sein
Greisenalter geblieben) die Aufgabe zu lösen, ob
es angeborne Begriffe gebe; auch beschäftigten sich
[Seite 1354] daher die ersten Nahmen aus dem damahligen gül-
denen Zeitalter der Englischen Litteratur, Swift,
Arbuthnot etc. mit ihm; späterhin erhoben ihn
Büffon, J.J. Rousseau und so viele Andere zum
Musterbilde des ursprünglichen wilden Naturmen-
schen; Linné hat ihn im Natursystem unter dem
Nahmen von juvenis Hannoveranus einrollirt;
und noch neuerlich erklärte Lord Monboddo seine
Erscheinung für merkwürdiger, als die Entdeckung
des Uranus, oder als wenn die Astronomen noch
ein 30,000 neuer Sonnen zu den schon bekannten
hinzufänden. Schon diese so allgemeine und so
hohe Sensation, welche Peter erregt hat, veran-
laßte den Verf., vollends bey den wundersamen,
theils gerade einander widersprechenden, Varian-
ten und theils abenteuerlichen Sagen, die von
Peter the wild Boy in Umlauf gekommen, seine
wahre Geschichte und Leben und Wandel nach au-
thentischen, großen Theils ungedruckten und gleich-
zeitigen, Notizen, die er zusammengebracht, auf-
zustellen und mit den Nachrichten von andern so
genannten wild gefundenen Kindern zu vergleichen. –
Und da ergibt sich dann 1) daß Peter selbst nichts
mehr und nichts minder war, als ein blödsinniges,
stummes Kind eines Gastwirths im Paderbornischen,
das sich gar nicht lange vor seiner nachherigen
Captur von Hause verlaufen, und dessen Vater
keinen Beruf fühlte, es, da er es versorgt wußte,
eben zu reclamiren. 2) aber, daß unter den
sämmtlichen übrigen Beyspielen von Homo sapiens
ferus(wie Linné, sonderbar genug, im Syst. Nat.
diese vorgeblichen wilden Kinder nennt), alles evi-
dent Fabelhafte bey ihren Biographen abgerech-
net, auch nicht zweye sind, die mit einander über-
einkommen, und nicht Eins, das als Musterbild
des ursprünglich wilden Naturmenschen aufgestellt
[Seite 1355] werden dürfte, sondern daß das Resultat da hin-
ausläuft, daß sich für den Menschen, der zum
Hausthier geboren ist, gar kein ursprünglich wil-
der Naturzustand gedenken läßt. – Andere Haus-
thiere wurden es erst durch ihn; Er ward es von
Natur. Jene wurden durch ihn vervollkommnet;
Er ist das einzige, das Sich Selbst vervollkomm-
net. – Statt daß aber so manche andere Haus-
thiere, Katzen, Ziegen u.s.w., wenn sie durch
Zufall in Wildniß gerathen, im Naturell gar bald
wieder ihrer wilden Stammraße nacharten: so wa-
ren hingegen alle jene so genannten wilden Kinder
in ihrem Benehmen, Naturell etc. himmelweit von
einander verschieden, eben weil sie in gar keine
ursprünglich wilde Stammraße zurückarten konnten,
als dergleichen in dem zum vollkommensten aller
Arten von Hausthieren erschaffenen, und jeder La-
ge, jeder Lebensweise, so gut wie jeder Zone, sich
anpassenden Menschengeschlechte, nirgend existirt.
II. Ueber die Aegyptischen Mumien hatte der
Verf. schon früher zwey Abhandlungen drucken las-
sen. Eine in unsers sel. Lichtenberg’s Göttingi-
schem Magazin; die andere in den Philosophical
Transactions; letztere, die auch in verschiedenen
Französischen und Italiän. Journalen übersetzt, aber
noch nicht Deutsch, erschienen, ward dadurch ver-
anlaßt, daß ihm mehrere berühmte Gelehrte in Lon-
don, besonders aber die Vorsteher des Brittischen
Museums, mit einer eben so seltenen als wahrhaft
edeln Humanität Gelegenheit gaben, nicht weniger
denn sechs Mumien öffnen und theils zerlegen zu
können. Daß er aber nun beide jene Abhandlungen
hier zusammen ich Eins verbunden, aber großen
Theils umgearbeitet und sehr vermehrt, herausgibt,
das verdankt er der Gnade Sr. Durchl. des regie-
renden Herrn Herzogs zu Sachsen-Gotha und
[Seite 1356] seines Herrn Bruders, des Prinzen Friedrichs
Durchl., die ihn vor kurzem mit einer ausnehmend
wohl erhaltenen Mumie aus dem Privatnachlaß ih-
res hochsel. Herrn Vaters beschenkt, und dadurch
zugleich die Einzige bisherige bedeutende Lücke in
seiner anthropologischen Sammlung von Schedeln
und theils ganzen Skeleten und Mumien u.s.w.
auf das vollkommenste gefüllt haben.