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Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band
auf das Jahr 1814.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

Göttingen.

[Seite 665]

Der königl. Societät der Wissenschaften ist von
ihrem thätigen Correspondenten, dem Hrn. Prof.
Gravenhorst zu Breslau ein handschriftlicher Auf-
satz unter dem Titel zugeschickt worden: De transitu
et mutabilitate specierum in regno animali sum-
matim, et de varietate quorundam Ichneumonum
apterorum
speciatim.
Lehrreich sowohl für die
Philosophie der Naturgeschichte als für die Metho-
dologie derselben. Der Herr Prof. faßt den Begriff
von Uebergängen nicht in dem vagen schwankenden
Sinne wie so manche Verfechter der Bonnetischen
Leiter und andrer dergleichen bildlichen Vorstellun-
gen von so genannter Stufenfolge, sondern be-
schränkt ihn auf solche zweydeutige Individuen oder
auch Gattungen (Species), wo es bey erstern
zweifelhaft bleibt, ob sie zu dieser oder jener Gat-
tung; sind bey letztern in welches Geschlecht (Ge-
nus)
sie gehören. Dergleiche Fälle kommen am
öftersten in den beiden so genannten niedern Thier-
classen, nähmlich unter den Insecten und Würmern
vor. Aus seiner reichen entomologischen Samm-
[Seite 666] lung gibt der Verf. ein überaus merkwürdiges Bey-
spiel von nicht weniger als 64 Haupt-Spielarten
einer ungeflügelten Gattung des Schlupfwespen-
geschlechts, des Ichneumon agilis, die lauter bloße
Uebergänge bilden, deren manche von unsern Ento-
mologen für eigene Gattungen gehalten worden.
So z.B. I. vagansund celerOliv., cursor
Schrank., agilis Fabr., fuscicornis
und apte-
rus
Villers., hortensis Christ., publicaris
des
gedruckten Verzeichnisses der zoologischen Samm-
lung des Verf. und insectum apterum Brünnich.
Nr.
20. Die kleinern Abweichungen zwischen
jenen 64 Haupt-Spielarten mitgerechnet, so hat
der Herr Prof. ein Heer von 209 hiehergehörigen
Individuen zusammengebracht, die doch alle im
Ganzen so mit einander übereinkommen, daß man
durchaus keine specifische Grenze zwischen dieser
Reihe von Uebergängen ziehen kann. Von den
beiden Extremen derselben ist die eine tota nigra,
longitud.
1 lineae; die andere aber testacea, ocu-
lis et segmenti tertii basi fuscis, longitud. 1½ li-
near.
Und gerade diese beiden waren bis jetzt noch
von keinem Entomographen beschrieben. – Ver-
muthungen über die Ursachen dieser so zahlreichen
Ausartungen. Da ein guter Theil derselben in dem
kleinen Bezirk von Warmbrunn im Hirschbergischen
Kreis gefangen worden, so kann die Verschiedenheit
des Climas, diese sonst gar ergiebige Quelle der
Ausartung bey weitverbreiteten Thieren, hier nicht
in Anschlag gebracht werden. Hingegen wohl haupt-
sächlich Einfluß der Nahrung, nach Verschiedenheit
der mancherley Insecten, welchen die befruchteten
Schlupfwespenmütter ihre Eyer in den Leib legen,
und von welchen sich nachher die ausgekrochnen Lar-
ven nähren. Nächstdem aber ferner die Paarung
der Varietäten unter einander. (– Letzteres ließe
[Seite 667] sich noch weiter ausdehnen, wenn man auch auf die
so oft beobachtete Paarung verschiedener Gattungen
aus Einem Geschlechte, z.B. unter Coccinellen,
Chrysomelen, Curculionen etc. ja sogar von zwey
Insecten aus ganz verschiedenen Geschlechtern, wie-
z.B. einer Cantharis mit einem Elater, Rücksicht
nehmen wollte. –)

Am Schluß noch eine gewagte Hypothese (denn
für was mehr will sie der Verf. selbst nicht ange-
sehen wissen), ob nicht auch durch Erdcatastrophen,
wodurch ein so großer Theil des vormaligen festen
Landes mit Ocean bedeckt worden, gar viele Zwi-
schenglieder von Uebergangsvarietäten untergegan-
gen seyn möchten, so daß vielleicht verschieden-
scheinende Thiere die jetzt in weit von einander
entfernten nun durch große Meere von einander ge-
schiedenen Erdtheilen leben, und die man für be-
sondere Gattungen ansieht, weiland unter einander
als Varietäten von einer und derselben Species ver-
wandt gewesen seyn könnten.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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