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Annalen
der
Braunschweig-Lüneburgischen
Churlande.

Dritter Jahrgang.
Zweytes Stück.

Hannover,
gedruckt bey W. Pockwitz jun.
1789
.

XIV.
Ehrengedächtniß des alten Regiments-
Chirurgus Wreden nebst einer Ein-
leitung.

[Seite 389]

Von J. Fr. Blumenbach.

Anno 1720. ward K. Georg des Ersten Enkelin
Anna, die älteste Prinzeßin des damaligen Prin-
[Seite 390] zen von Wallis, (nachherigen K. Georg II.) die hier-
auf an den Prinz von Oranien vermählt worden,
mit den natürlichen Blattern, aber so gefährlich befal-
len, daß sie fast ohne Hoffnung lag.*) Diese Gefahr
brachte zuerst ihre Mutter, die nachherige Königin Ca-
rolina
auf den Gedanken, ob sie nicht die Inoculation
der Morgenländer, die schon seit 6 Jahren aus den von
Timoni und Pylarini davon gegebenen Nachrichten,
so wie auch durch die Lady Worthley Montague
zwar in England zuerst bekannt, aber übrigens unbe-
folgt geblieben war, zur Sicherung ihrer übrigen Kin-
der sollte anwenden lassen. Sie that daher eine Vor-
bitte für 6 arme Sünder, die die Pocken noch nicht ge-
habt, daß ihnen diese inoculirt, und dafür das Leben ge-
schenkt werden möchte. Dies ward bewilligt, und den
9ten August 1721. inoculirte der Wundarzt C. Mait-
land
(der selbst mit dem Gesandten Worthley Monta-
gue
in Constantinopel gewesen, und im März 1717. zu
Pera den Sohn desselben**), auch nachher in England
im April 1721. dessen Tochter inoculirt hatte) in Newgate
6 Delinquenten, 3 Mannsen und 3 Weibsen, meist zwi-
schen 19 und 25 Jahren, mit dem glücklichsten Erfolg.
[Seite 391] Der Leibarzt des Königs, Hofrath Steigerthal*) hat
eine genaue Nachricht von diesem für das christliche Eu-
ropa so wichtig gewordnen Versuch**) nach Hannover ge-
[Seite 392] schickt, wo sie im ersten Jahrgang der damals von den
dasigen geschickten Regiments-Wundärzten herausgegebe-
nen chirurgischen Collectaneen befindlich ist.

Und weil denn doch – wie in dergleichen Fällen
gewöhnlich – der Neid nun die Zähne zu fletschen be-
gann*), und unter andern auch den ohnmaaßgeblichen
Zweifel äußerte, ob das nun auch wahre Pocken gewe-
sen, und die Genesenen dadurch für Ansteckung von na-
türlichen Pocken gesichert seyn würden, so vermochten
Dr. Steigerthal und der Arzt des Prinzen von Wallis,
Hans Sloane, eins jener inoculirten Mädgen durch
ein Stück Geld dahin, daß es nach Hertford ging, wo
damals gerade die bösartigsten Blattern im Christ Spi-
tal aufs heftigste wütheten, und daselbst 10 Wochen
lang die Blatter Kinder wartete, und des Nachts immer
mit einem derselben im gleichen Bette schlief, und da-
[[393]] durch die Zuverläßigkeit der Inoculation unwiderredlich
vindicirte.

Nun ließ die nachherige Königin Carolina auch
6 Waisenkinder inoculiren, wovon ebenfalls 5 die wilde-
sten Blattern aufs glücklichste überstanden. Beym 6ten
konnte das eingebrachte Gift nicht haften, weil dieses
Kind, wie man nachher erfuhr, schon ehedem die natür-
lichen Pocken gehabt, und es, um das den inoculirten
gebothene Geschenk zu haschen, geläugnet hatte.

Hierauf faßte diese würdige Prinzeßin den großen
Entschluß, dieses wohlthätige Mittel auch bey ihren Kin-
dern anwenden zu lassen. Sloane ward deshalb zu K.
Georg dem Ersten gefordert, und um seine Meynung
befragt. Das Bedenken des vorsichtigen Arztes: ‘„daß
sich unmöglich voraus sagen lasse, ob nicht auch einmal
gefährliche Zufälle auf die Inokulation folgen könnten”’
beantwortete der weise König mit der treffenden Anmer-
kung, daß auch Leute sterben können, die im Seiten-
stechfieber zur Ader lassen oder in jeder andern Krankheit
bey aller Sorgfalt die passendsten Mittel anwenden. –
Und sogleich ward die Inoculation seiner Enkelinnen, der
damals in England befindlichen beyden jüngern Töchter
des Prinzen von Wallis beschlossen, und bald darauf,
ebenfalls durch Maitland, glücklich vollzogen.

Anno 1724. ward dann eben dieser Wundarzt nach
Hannover geschickt, um auch dem nachherigen Prinzen
von Wallis, damaligen Herzog von Glocester, der sich
in jenen Jahren daselbst aufhielt, die Blattern einzu-
[Seite 394] impfen. Dies geschah im May 1724. mit gleich glück-
lichem Erfolg. Der bekannte Reisende, de la Motraye,
sah den Prinzen daselbst 14 Tage nach überstandenen
Blattern*), wo er ihm die englische Ausgabe seiner Rei-
sen überreichte, die bekanntlich selbst allerhand Nachrich-
ten von der Inoculation bey den Morgenländern ent-
hält. Der Prinz sagte ihm: ‘„die Operation sey so leicht
zu machen, so leicht auszuhalten, und nach aller Erfah-
rung so wenig bedenklich, daß man erstaunen müsse, wie
es noch Leute geben könne, die die Pocken noch nicht ge-
habt, und sie sich doch auch nicht wollten einimpfen
lassen.”’

* * *

Kein Wunder, wenn das Beyspiel des geliebten
Thronerben die Hannoveraner zur Nachahmung ver-
mocht hätte. Allein schon weit früher, eh Maitland in
dieser Absicht herausgeschickt war, hatte man schon seit
länger als zwey Jahren in Hannover selbst mit dem be-
sten Glücke inoculirt.

Der verdienstvolle Mann, der dies daselbst, und in
ganz Deutschland, und vermuthlich außer England im
ganzen christlichen Europa**) zu allererst unternom-
[Seite 395] men, war der dasige Regiments-Chirurgus und Demon-
strator anatomicae
Johann Ernst Wreden, der den
2ten Febr. 1722. erst einem 3jährigen Soldatenmädgen,
dann den 6ten März einem 3jährigen Buben und einem
10jährigen Mädgen, und von der Zeit an immer meh-
reren die Pocken mit dem besten Erfolg inoculirte.

Die erste kurze Nachricht von diesem für die hiesi-
gen Lande so merkwürdigen, und selbst schon dem natür-
lichen guten Menschenverstand ihrer Einwohner so eh-
renvollen Unternehmen, gab er im 2ten Jahrgange der
gedachten chirurgischen Collectaneen, der zu Hildesheim
1723. gedruckt, aber so wie der erste bey weitem nicht
nach Verdienst bekannt und genutzt ist.

Umständlicher hingegen handelt er davon, und von
dem fernern glücklichen Fortgange der Inoculation zu
Hannover, in einer besondern, aber vollends sehr wenig
bekannten Schrift, die den Titel führt: J.C. Wreden
vernünftige Gedanken von der Inoculation der
Blattern, vier Abhandlungen.
Hannover 1724.
79 S. in Octav, mit einer Zueignungsschrift an den
nachherigen Prinzen von Wallis, der nun so eben die
inoculirten Pocken selbst überstanden hatte.

[Seite 396]
* * *

Da ich oft gefunden, daß alle diese Umstände schon
halb vergessen worden, und zumal der Name des alten
Reg. Chir. Wreden selbst in hiesigen Landen vielen auf-
geklärten und unterrichteten Leuten weniger bekannt
scheint als Tronchin’s und anderer Aerzte Namen, die
dadurch immortalisirt worden, daß sie ein Viertheil-
Jahrhundert später die Inoculation in Frankreich und
andern Ländern zuerst versucht haben, so hielt ich es für
billig, einmal sein Andenken in den Annalen des Landes
wieder aufzufrischen.

[[461]] [Seite 462] [Seite 463] [Seite 464]
Notes
*).
[Seite 390]

S. hans sloane’s account of inoculation, in
den philosoph. Transactions vol. XLIX. P. II. 1756.
pag. 517.

**).
[Seite 390]

Eine alte Griechin inoculirte den jungen Wort-
ley
am einen Arm, und Mailtand zugleich am
andern.

*).
[Seite 391]

*) J.G. Steigerthal von Nienburg war anfangs
Hofmedicus bey Herzog Georg Wilhelm von
Celle, und zugleich Prof. der theoretischen Medi-
cin zu Helmstädt. Dann Leibmedicus bey der
großen Churfürstin Sophia zu Hannover, die
das unbeschränkteste Vertrauen in ihn setzte; und
nachher bey K. Georg I. und dessen Thronfolger.
– Seine Schriften zeigen ihn als einen sehr ge-
lehrten und dabey hellen und selbstdenkenden Kopf.

**).
[Seite 391]

Ich darf wohl einige Zeilen aus dieser Nachricht
von Maitland’s Procedur zur Vergleichung mit
den nachher so sehr simplificirten Inoculations-Me-
thoden hieher setzen:

‘„Des Tags zuvor öffnete der Operateur bey
einem Patienten, der eine gute Art Blattern
hatte, verschiedene Pusteln, so zur vollen Reife
gekommen, preßte die Materie in eine kleine sil-
berne Büchse, welche zuvor in heißem Wasser
gewärmt, verschloß dieselbe fest, und nachdem er
solche in ein warm Tuch gewickelt, trug er dieselbe
bis zur Operation am Leibe, damit die Materie
nicht kalt und dicker würde.’

‘„Am 9ten August Vormittags zwischen 9 und
10 Uhr geschah die Operation auf folgende Art:
Der Operateur machte an allen 6 Personen in
der Haut an beyden Armen und am rechten Bein
eine Incision ins Creuz, an denen Orten, wo
man sonst pflegt die Fonticulos zu legen: hernach
brachte derselbe mit einem kleinen Löffel die an-
noch flüßige Blattermaterie in die Wunde, ver-
mischte dieselbe mit dem Blut so herausfloß, und
bedeckte die Wunde bey einigen mit einer halben
Nußschaale, bey andern mit einer Cupula von
[Seite 392] Silber: hierauf legte er den Verband, damit das
mit der Blattermaterie vermischte Blut nicht ab-
fließen konnte.”’

*).
[Seite 392]

Unter andern ereiferten sich besonders Se. Hoch-
ehrw. der Herr Dr. Massey in einer Anti-Ino-
culations-Predigt gar sehr gegen diese teuflische Er-
findung, wie er sie nannte. Denn er nahm für
bekannt an, daß Satanas zuerst den frommen
Hiob inoculirt habe, (– the Devil ingrasted
Job of the confluent sort of Small – pox.
) und
schloß mit der Ermahnung: ‘„Laßt den Atheisten
und den Spötter, den Heiden und den Ungläu-
bigen der Vorsehung die Hände binden wollen –
laßt sie inoculiren und inoculirt werden – Wir
Christenkinder aber etc.’

*).
[Seite 394]

S. Voyages du Sr. de la motraye. à la Haye
1727. Fol.vol. II. p. 474.

**).
[Seite 394]

Es ist ohnlängst in Göttingen gedruckt worden:
‘„ein ungrischer Arzt, Namens Raymann, habe
Anno 1717. an einem seiner eigenen Kinder in
Ungarn zuerst, und vielleicht auch in ganz Europa
[Seite 395] zuerst, die Pockeninoculation versucht. Erft fünf
Jahr später sey die Kenntniß davon durch Worth-
ley Montague nach England gekommen.”’ – Das
letztere ist unwahr. Denn Timoni’s Nach-
richt von der Inoculation ist schon 1714. in den
philosoph. Transact. bekannt gemacht worden. Und
das erstere wird schon dadurch unwahrscheinlich,
daß Raymann erst 1690. gebohren ist.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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