|| Schon vor sechstehalb Jahren
erhielt ich vom Hrn. Amtmañ
Schwickard zu Mariengar-
ten ein Fläschgen Milch mit der Nach-
richt, ‘„daß dieselbe von einem damals
drittehalbjährigen Ziegenbocke sey,
der auf dem dasigen Hofe geworfen
worden, der auch selbst schon sein
Geschlecht weiter fortgepflanzt, und
im vorigen Herbst zwei Lämmer er-
zeugt habe, davon das eine schon
wieder von ihm trächtig sey. –
Dieser Bock muß aus seinen beiden
Zitzen, die neben dem Scrotum sitzen,
einen Tag um den andern förmlich ge-
molken werden, da er jedesmal ei-
nen flachen Teller voll Milch gebe,
und wenn man ihn zu melken verab-
säume, so würden die Zitzen wie ent-
zündet, roth, angeschwollen, u.s.w.”’
Ich habe, so wie unzählige andere
Augenzeugen, diesen, auch schon we-
gen seiner ansehnlichen Größe und
Wuchses merkwürdigen Bock seitdem
manchesmal selbst gesehen; und da
das abentheuerliche Phänomen in der
hiesigen Gegend wie natürlich Aufse-
hen macht, und ich hundertmal über
|| dasselbe und über seine Ursachen be-
fragt worden bin, so ist wohl ein klei-
ner Aufsatz darüber in dieser hierländi-
schen Wochenschrift nicht am unrech-
ten Orte.
Erst also ein Paar Worte über die
Sache selbst; und dann eine Idee,
wie sie etwa erklärt werden könte.
So ungewöhnlich und auffallend
allemal das Factum bleibt, so ist es
doch schon seit mehr als zwei tausend
Jahren bekant, und bei mancherlei
vierfüßigen Hausthieren männlichen
Geschlechts, und selbst bei Manns-
personen bemerkt worden.
Hin und wieder finden sich bei den
sogenannten Observatoren dergleichen
Beispiele von Widdern, männlichen
Hunden, Katzen, u.s.w. aufgezeich-
net, und noch ganz kürzlich schrieb mir
Hr. Doct. Forster aus Halle, ‘„daß
in der gräflich Malzahnischen freien
Standesherrschaft Militsch in Schle-
sien ein Bulle sey, der ebenfalls so
viele Milch habe, daß er ordentlich
gemolken werde.”’
Ich will die ganz zahlreichen Paral-
lelfälle der Art nicht lange zusammen-
[755/756] || stoppeln, sondern nur von melkbaren
Ziegenböcken ein Paar zur Verglei-
chung mit dem in Mariengarten, und
dann eben so ein Paar von Manns-
personen, die Milch gegeben, anfüh-
ren; weil, wo ich nicht irre, diese
Beispiele aus dem Menschengeschlecht
auf eine nicht unwahrscheinliche Lö-
sung des ganzen Räthsels zu führen
scheinen.
Gerade bei Böcken ist die Sache zu
allererst, und nachher am öftersten ange-
merkt worden. Schon Aristoteles
erzählt in seiner, an ungemeinen und
scharfsichtigen Beobachtungen so un-
erschöpflich reichhaltigen Thiergeschich-
te, daß ein Bock auf der Insel Lem-
nos aus den Zitzen zu beiden Seiten sei-
ner Zeugungstheile so viele Milch ge-
geben, daß man Käse daraus gemacht.
Und diese Sonderbarkeit habe sich
auch auf die von ihm erzeugte männ-
liche Nachkommenschaft fortgeerbt.
Freilich aber gehöre das zu den sehr
seltnen Abentheuren, daher auch der
Herr jenes Bocks das Orakel über die
Bedeutung davon um Rath gefragt,
und die angenehme Antwort erhalten:
das bedeute großen Seegen in Ver-
mehrung der Heerde, u.s.w.
Matthiolus, einer der allberühm-
testen Aerzte seiner Zeit, hat vor mehr
als zwei hundert Jahren die Abbildung
eines ähnlichen Bocks gegeben, der-
gleichen damals drei in verschiednen
Gegenden von Böhmen zu sehen ge-
wesen. Einer davon sey dem Erzher-
|| zog Ferdinand von Oesterreich zuge-
schickt worden, der denselben denn ihm
zur nähern Untersuchung nach Prag
ins Haus gegeben, besonders weil die
Rede gegangen, daß diese Bocksmilch
ein Specificum gegen die Schürken
(Epilepsie) der kleinen Kinder sey etc.
Der gute Doctor setzt hinzu, er habe
die Heilkraft an Kindern und Erwach-
senen, vorzüglich aber an jenen in der
That bewährt gefunden. –
Und in der großen Sammlung von
Meibomischen medicinischen Hand-
schriften, womit das Königliche Mi-
nisterium vor einigen Jahren die hie-
sige Universitätsbibliothek bereichert
hat, finde ich ebenfalls eine Nachricht
von einem melkbaren Bock, den Hein-
rich Meibom, der gelehrte Arzt und
Geschichtforscher zu Helmstädt, Anno
1676 in seinem Hause gehabt. Er
war ihm von einem benachbarten Dor-
fe zugeschickt worden, hat zwar keine
Hörner gehabt, aber schon mehrma-
len sein Geschlecht fortgepflanzt etc.
Nun und das gleiche ist, wie gesagt,
auch hin und wieder beim Menschen-
geschlecht bemerkt worden, daß nem-
lich Mannspersonen Milch aus ihrer
Brust gegeben, und das theils in sol-
cher Menge, daß sie Ammenstelle ha-
ben vertreten können. Man hat so-
gar schon aus der Mitte des vorigen
Jahrhunderts von einem gewissen Flo-
rentinus eine besondre Schrift dar-
übera), die eigene Beobachtungen nach
der Natur enthalten soll, die ich aber
[757/758] || aller angewandten Mühe ungeachtet,
noch nirgend habe auftreiben können.
Auch schon Aristoteles gedenkt
der Milch bei Mannspersonen, doch
nur wie vom unbestimmten Hören-
sagen.
Der sogenannte Avicenna hinge-
gen, das Haupt der arabischen Me-
dicinalschule, der zu Ende des zehnten
Jahrhunderts lebte, aber noch heute
das Orakel der türkischen Aerzte ist,
versichert selbst, einen Mann gesehen
zu haben, dem so viel Milch aus der
Brust gemolken wurde, daß man Käse
davon machte.
Einer von den verdienstvollsten Wie-
derherstellern der Arzneiwissenschaft
nach der Barbarei des medii aevii,
Aelex. Benedetti, erzählt in seinem
damals canonischen Handbuch der Zer-
gliederungskunst die Geschichte eines
Syrers jener Zeit, dem die Frau ge-
storben war und ihm einen kleinen
Säugling hinterlassen hatte, den der
hülflose Vater, eigentlich blos um
das kleine Geschöpf nur zum Scheine
zu beruhigen, an seine Brust gelegt,
das aber durch dieses Spiel in kurzem
würkliche Milch in dieselbe gezogen,
so daß es zum allgemeinen Erstaunen
von dem Vater vollends gestillt worden.
Und gerade einen völlig ähnlichen
Fall schreibt mir der gedachte berühmte
Weltumsegler, Hr. Doct. Forster,
‘„von einem armen Manne im Norden
von England, der es wagte, seinen,
ihm von der im Kindbette verstorbenen
Frau hinterlassenen Zwillingen, die
Brust zu reichen; sie sogen an, die
|| Milch zog hin, schwellte die Brüste
an, und er hatte zuletzt Nahrung
genug, seine Kinder zu säugen.”’
Ja, was noch mehr, ich finde es
in einem Aufsatze, den Hallers Leh-
rer, der von Tübingen nach St. Pe-
tersburg berufene Düvernoi der da-
sigen Akademie der Wissenschaften vor-
legt, als eine Art von Nationalson-
derbarkeit bei den rußischen Manns-
personen angemerkt, daß er fast in al-
len Leichen derselben, die ihm auf die
dortige Anatomie geliefert werden, bei
gelindem Druck an ihren Brüsten,
Milch aus denselben pressen könne.
Allein eben je häufiger die Facta
der Art bemerkt worden, desto größer
wird das Interesse, einigen Aufschluß
über den Grund derselben zu erhal-
ten. Und hier muß man sich dann
zuförderst erinnern, daß im Grunde
das ganze Wunderbare in allen den
gedachten Fällen blos darin besteht,
daß man bei erwachsnen Manns-
personen Milch in den Brüsten ge-
funden hat. Denn bei neu gebornen
Kindern findet sie sich in beiden Ge-
schlechtern fast ohne Ausnahme; nur
bald mehr bald weniger, bald würk-
lich milchicht, bald aber nur molken-
artig, u.s.w.
Diese Erfahrung war längst in den
Wochenstuben und unter den Hebam-
men allgemein bekant; ist aber erst
später eben so allgemein von den ge-
lehrten Aerzten agnoscirt worden, da
es manche wenigstens blos von den
neu gebornen Mädchen wolten gelten
lassen etc. bis Boerhave und Mor-
[759/760] || gagni aus ihren eignen Untersuchun-
gen die Richtigkeit der Sache entschie-
den, und so allem etwanigen Zweifel
darüber ein Ende gemacht haben.
Nun aber eben der Grund dieses
sonderbaren Phänomens bei den neu
gebornen Kindern?
Wenn ich mir eine Vermuthung er-
laube darf, so ließ sich etwa folgende Er-
klärung darüber geben; wobei ich aber
freilich ein wenig weit ausholen muß.
Bekantlich braucht der Milchsaft,
der aus unsern Speisen bereitet und
dem Blute zu Rekrutirung dessen was
ihm während seines Kreislaufs ent-
geht, zugeführt wird, erst einige Zeit,
bevor er während dieses Kreislaufs
innigst mit dem Blute gemischt und
gleichsam selbst in Blut verwandelt
werden kan. Daher es eine nicht gar
zu seltne Erscheinung ist, die mir
selbst einmal hier in Göttingen vorge-
kommen, daß dieser Chylus bei einer
Aderlasse noch unvermischt in seiner
milchichten Gestalt mit dem Blute
ausgeflossen.
Während der Schwangerschaft
wird folglich mit der großen Menge
Blut, die sich dann zur Ernährung
der Leibesfrucht nach dem Orte ihres
Aufenthalts zieht, auch von Zeit zu
Zeit in den nächsten Stunden nach
der Mahlzeit noch unvermischter Milch-
saft dahin geführt. Daher die häu-
fige Erfahrung, die so eben noch vom
Hrn. Professor Selle bestätigt wor-
den, daß man bei Leichenöfnungen von
Kindbetterinnen reine Milch aus der
Gebärmutter drucken konte.
|| Ein solcher roher, noch nicht ge-
nug aßimilirter Milchsaft wäre ver-
muthlich der zarten Leibesfrucht nicht
angemessen: und es scheint daher viel-
leicht unter andern eine Function des
Mutterkuchens zu seyn, daß er in die-
sen Fällen das Blut von seinem rohen
Chylus reinigt, ehe er es durch die
Nabelblutader zum neugebornen Kin-
de läßt. Wenigstens reimt sich dies
wieder mit einer andern mehrmaligen
Erfahrung, da man nach der Ent-
bindung eine Menge reiner Milch in
dem Mutterkuchen gefunden.
Diese Abscheidung gilt aber wohl
blos von dem noch ganz unvermisch-
ten, gleichsam allzu rohen Milchsaft.
Hingegen gelangt mit dem mütterli-
chen Blute wohl genug halb vermisch-
ter Chylus zur Leibesfrucht, wodurch
dieselbe schon vorläufig zum künftigen
Genuß der reinen Muttermilch vorbe-
reitet wird.
Und da scheinen nun die Brüste
dem neugebornen Kinde dazu zu die-
nen, um auch dann noch den etwani-
gen Ueberfluß von Milchsaft, den es
mit dem mütterlichen Blute empfan-
gen, von dem seinigen wieder abzu-
sondern und einstweilen aufzunehmen.
Nach der Geburt ceßirt dann diese
bisherige Verrichtung, so wie so vie-
le andre, die auch nur dem neugebor-
nen Kinde eigen sind, und sich verlie-
ren, so bald es das Licht der Welt
begrüßt hat.
Nach dem gewöhnlichen Gange der
Natur unterbleibt folglich alsdann
dieser Zug des Milchsafts nach den
[761/762] || Brüsten: – und zwar bei den Kna-
ben für immer, bei Mädchen aber bis
sie einst selbst Mütter werden.
Bei beiden Geschlechtern kan aber,
wie es scheint, dieser Zug, nach ei-
nem der allgemeinsten Erfahrungssätze,
in der ganzen Haushaltung des thie-
rischen Körpers, daß, wo Reiz wirkt,
die Säfte zufließen, (ubi irritatio ibi
affluxus) durch wiederholten oder an-
haltenden Reiz zuweilen mit den Jah-
ren, auch zur Unzeit, wieder in Gang
gebracht werden.
So kan sich bei erwachsnen Mäd-
chen durch allerhand locale oder con-
sensuelle sinnliche Eindrücke wieder
|| vor der Zeit Milch nach den Brüsten
ziehen, das schon in den hypocrati-
schen Aphorismen berührt, und auch
in der peinlichen Gerichtsordnung an-
erkant wirdb).
Und so, – besonders durch sau-
gen eines angelegten Säuglings, wie
in den gedachten und mehrern andern
Fällen, auch bei Mannspersonen.
Und so endlich auch durch mancher-
lei leicht begreifliche zufällige Reize bei
andern männlichen Säugethieren, und
namentlich bei dem Ziegenbock in Ma-
riengarten, der mir eben zu allen die-
sen kleinen Digreßionen den Anlaß ge-
geben hat.
Göttingen. J.F. Blumenbach.
J. Maria Florentinus de genuino puerorum lacte, mamillarum usu, et in viro
lactifero structura. Lucae. 1653. 8.
b) Art. XXXVI. – Nach dem aber etliche Leibärtzt sagen, daß auß etlichen natür-
‘„chen Vrsachen etwañ eyne, die keyn Kindt getragen, milch iñ prüstẽ haben
möge, darumb so sich eyn dirñ inn disen Fellen also entschuldigt, soll deß-
halb durch die hebammen oder sunst weither erfarung geschehen.”’