Das, was ich von dem eigenthümlichen Le-
ben gewisser Theile des menschlichen Kör-
[Seite 6] pers sonst, und vorzüglich in meinem physiolo-
gischen Handbuche gesagt habe, hat bei meh-
rern vortreflichen Physiologen Beifall, bei einigen
andern aber auch Tadel gefunden. Unter leztern ste-
hen zwei der berühmtesten Aerzte Italiens, Agliet-
tia) und vorzüglich Gallinib) oben an, wel-
chen es gefallen hat, jenes eigenthümliche Leben oh-
ne weiteres zu den unbekannten Kräften zu rechnen.
Dieses Urtheil hat weder Verwunderung noch
Unwillen bei mir erregt, denn ich wußte schon längst,
daß diese Art zu reden und zu vergleichen, bei man-
chen Italienischen Physiologen, in Beurtheilung der
Arbeiten Anderer über die Lehre von den Lebenskräf-
ten, nichts ungewöhnliches sey; indem selbst Hal-
lers Meinung von der Reizbarkeit von zweien und
zwar nicht gemeinen Physiologen Italiens, Joh.
Bapt. Bianchi und Joh. Bapt. Fè mit aus-
[Seite 7] drüklichen Worten zu den unbekannten Kräften ge-
rechnet worden ist.c)
Ich gebe ihnen gern Recht, so fern sie nur das
Wort unbekannte Kräfte in dem Sinne gebraucht
haben, in welchem es, wie jeder billige und verstän-
dige Mann zugeben wird, einzig und allein von die-
ser Art von Lebenskräften, welche ich abhandle, ge-
braucht werden kann; daß es nehmlich eine gewisse
Bestimmung des Körpers, deren hinreichender Grund
aus der Beschaffenheit, dem Bau und dem Mecha-
nismus der Theile nicht erklärt werden kann, bezeich-
netd). Indessen begreife ich dann nicht, wie sie
nur das eigenthümliche Leben, oder die Reizbarkeit,
dahin rechnen konnten, da ich, ich gestehe es, mit
anderen freimüthigen Naturforschern immer der Mei-
nung gewesen bin, daß überhaupt alles, was die Ur-
sachen und Natur der Lebenskräfte anlangt, zu den
bei weitem unbekanntesten Dingen gehöree).
Derselben gelehrten Unwissenheit sind die man-
nigfaltigen und wunderbar von einander abweichen-
den Begriffe und Definitionen der Physiologen von
der Lebenskraft und dem Leben selbst zuzuschreiben;
so wie die unsäglichen Zwistigkeiten über den Siz der
Vitalität: ob z.B. blos die festen, oder auch die
flüssigen Theile des menschlichen Körpers damit ver-
sehen seyen; und dieß vorausgesezt, ob dieselbe blos
in dem Blute, oder auch in den übrigen Säften sich
befinde; in Ansehung der festen Theile aber, welchem
Bestandtheile derselben sie zunächst anhänge; ob
z.B. dem thierischen Leime? Dann, ob sie allen fe-
sten Theilen unseres Körpers zukomme, oder nicht?
Ferner, ob es nur eine einzige Art der Vitalität ge-
be, oder ob sie ein Innbegriff mehrerer von einan-
der verschiedener Kräfte, welche den gemeinschaftli-
[Seite 9] chen Namen Lebenskräfte führen, sey? – und noch
mehrere dergleichen problematische Fragen, welche
nur zu deutlich beweisen, wie dunkel und verborgen
die Eigenschaften der Lebenskräfte selbst sind.
Diese Dunkelheit aber, in welcher eine so höchst
wichtige Lehre noch liegt, darf keinen Wahrheitsfor-
schenden abschrecken, die so sehr verschiedenen Hypo-
thesen über obige Fragen zu prüfen; dem, was ihm
mit der Natur und den Erscheinungen in derselben am
meisten übereinzustimmen scheint, als dem wahr-
scheinlichsten beizupflichten, und die seiner Beobach-
tung und seinem Nachdenken aufgestoßenen, zur Er-
läuterung dienenden Beweise zu vertheidigen. Dieses
Rechts will auch ich mich jezt bedienen und sowohl
über das vermeintliche Leben des Bluts, als über das
meiner Meinung nach nicht zu läugnende eigenthüm-
liche Leben gewisser Organe des menschlichen Körpers
einiges sagen. Jedoch wünsche ich (um die Worte
des großen Harvey zu brauchen), daß dies nicht
so aufgenommen würde, als wollte ich gleichsam von
einem Dreyfuß herab sprechen und den Beifall aller
übrigen erzwingen; sondern ich fordre nur die nemli-
che gerechte und billige Freiheit, welche ich andern
gern verstatte, das was in dunklen Materien wahr-
scheinlich zu seyn scheint, so vortragen zu dürfen, daß,
wie Cicero sagt, man bereit ist, ohne Hartnäckig-
keit zu widerlegen und ohne Zürnen widerlegt zu
werden.
Daß ich die Lehre von der Lebenskraft des Bluts,
welche ich ehemals in einer eignen kleinen Schrift ab-
gehandelt hatte, von neuem durchgieng, dazu bewog
mich unter anderen vorzüglich das neulich mir zuge-
kommene klassische Werk des schäzbaren John Hun-
ters über das Blut, welches nach seinem Tode er-
schienen ist und sich großentheils mit der Vertheidi-
gung der Vitalität des Bluts beschäftigt.*) Ich
hielt es daher der Mühe werth, mit Hinweglassung
dessen, was ich schon vor 8 Jahren über diesen Ge-
genstand gesagt habe, das Vorzüglichste von dem an-
zuführen, was mich seit jener Zeit, in meiner ehe-
mals vertheidigten Meinung, immer noch mehr be-
stärkt hat.
Das, was man a priori sagt, daß überhaupt
kein Grund vorhanden sey, warum nicht auch Flüssig-
[Seite 11] keiten Vitalität haben sollten, kann ich gar wohl zu-
geben, da die Begriffe von dem Wesen der Flüssig-
keit selbst so relativ und zweideutig sind. Man ver-
gleiche nur z.B. den vergänglichen Schimmel und
ähnliche sehr zarte und fast aus blosser Feuchtigkeit be-
stehende Vegetabilien, mit den zähen Harzen; oder
dem ersten gallertartigen Keim eines Hühnchens in ei-
nem seit kurzem bebrüteten Ey, oder gar die Nar-
bef) in einem nicht befruchteten Ey, mit der pech-
[Seite 12] ähnlichen Masse, welche in den Beuteln des Mo-
schus oder des Bibergeils abgeschieden wird. So
scheinen auch die Blutkügelchen, in Ansehung ihrer
Festigkeit, so vielen Infusionsthierchen kaum etwas
nachzugeben; dennoch wird Niemand, auch nicht der
strengste Vertheidiger der Vitalität des Bluts, wie
ich zuverlässig glaube, dieses schwachen Scheins von
Festigkeit wegen, jene Kügelchen für belebt erklären,
oder mit den gedachten Würmern vergleichen, da sie
nur, wie der Augenschein lehrt, unthätig und abge-
sondert, in der übrigen Masse des Bluts schwimmen.
Das Blut aber, behauptet man, enthalte doch
einen Stoff, wodurch alle belebten festen Theile er-
nährt werden. Wie wenig aber ein solcher Schluß
Beweißkraft habe, das lehren mich die eben jezt vor
mir stehenden Hyacinthen, welche schon herrlich grü-
nen, obgleich ihre Zwiebeln, seit mehrern Genera-
tionen, blos auf der Oberfläche von Brunnenwasser
gelegen haben; ich gebe zwar gern zu, daß das Was-
ser der Pflanze auf gleiche Art Stoff gebe, werde
aber mich nie überreden lassen, daß dieses Wasser des-
halb auch selbst Leben besitzen solle.
Feuchtigkeit ist zwar in einem belebten festen
Theile nöthig, damit er seine Lebenskraft thätig äus-
sern kann; daß aber diese Flüssigkeit keinesweges
selbst Lebenskraft besitzen müsse, lehren die bekannte-
sten Beispiele lebendiger organischer Körper aus bei-
den Naturreichen, welche blos des Wassers zu ge-
dachtem Entzwecke bedürfen, und die sogar, wenn
ihnen dieses fehlt, saftlos, ausgetroknet und alles Le-
bens beraubt zu seyn scheinen, jedoch ihr Lebensprin-
cip behalten, so daß sie durch ein wiederholtes Be-
feuchten mit Wasser wieder aufleben und die Verrich-
tungen ihrer organischen Oeconomie aufs neue fortzu-
setzen im Stande sind.
Dieß bezeugt der Saame der Pflanzen, welcher,
wenn er auch Jahrhunderte lang trocken aufbewahrt
worden, nichts destoweniger sein Lebensprincip un-
versehrt erhält, und hernach dem Schooß der Erde
anvertrauet, gehörig keimtg). Hier kann also das
so fest haftende und in dem saftlosen Körperchen in
tiefem Schlafe liegende Lebensprincip durch den hin-
zutretenden Reiz des blossen Wassers aufs neue er-
wekt werden.
Die sogenannten vollkommneren Geschöpfe hinge-
gen, bedürfen einer erregbarern Lebenskraft, und die-
se einer reizendern und weit zusammengeseztern Flüs-
sigkeit, nemlich des Bluts. Dennoch spricht weder
Vernunft noch Erfahrung dafür, daß eben diese, ob-
gleich mehr zusammengesezte Flüssigkeit, auch wirk-
lich mit Vitalität versehen sey. Geht man von den
einfachsten organischen Körpern an, durch die Ord-
nungen der blutlosen Thiere (wie sie ehedem genannt
wurden) und erinnert sich hier vorzüglich solcher Thie-
re, welche gar kein Schlagader- und Blutadersystem
haben, wie z.B. so viele Raupen, schreitet dann zu
den Classen der kaltblütigen, aber schon rothblütigen,
und endlich zu den warmblütigen Thieren fort, so
wird man in dieser Stufenleiter keinen Punct fest-
setzen können, wo zuerst Vitalität der die festen thie-
rischen Theile befeuchtenden Flüssigkeit a priori noth-
wendig vorhanden seyn müsse, oder durch Erfahrung
bewiesen werden könne.
Man beruft sich ferner auf die das ganze Leben
hindurch fortdaurende, ungestörte Unversehrtheit des
Bluts, und glaubt diese seiner eigenthümlichen Le-
benskraft zuschreiben und leztere selbst daraus bewei-
sen zu können.
Ich gestehe es frei, die Kraft dieses Cirkels in
den Beweisen für das Daseyn der Vitalität im Blu-
te, habe ich unter allen am wenigsten empfunden,
[Seite 15] weil ich mir diese Unversehrtheit des Bluts im le-
benden Körper, weit leichter und einfacher aus der
beständigen, dem Blute widerfahrenden Erneuerung
seiner Bestandtheile erklären zu können glaube. Von
der einen Seite bekömmt das Blut, durch den fri-
schen Nahrungssaft und andere eingesogene Feuchtig-
keiten einen neuen Zusaz, von der andern verliert es
Bestandtheile durch die Ernährung und durch die Ab-
sonderungen. Vor allen Dingen aber kömmt hier
die beständige Veränderung der Hauptelemente dessel-
ben, vermittelst des phlogistischen Processes, wie er
ehemals hieß, in Betrachtung; wie wichtig diese sey,
lehrt uns schon allein das Athemholen (der zu einer
ähnlichen Function bestimmten Organe, nemlich der
allgemeinen Bedeckungen und des Darmkanals nicht
zu gedenken) gar leicht, bei welchem in den Lungen,
bei jedem Einathmen, der Masse des Bluts, wel-
ches wenigstens zwanzig Mahl in jeder Stunde dieses
Eingeweide durchläuft, eine neue Quantität Sauer-
stoff beigemischt wird.
Endlich nimmt man auch daher, daß das Blut
eine plastische Kraft habe, indem der lymphatische
Theil desselben zu festen Massen gerinnt, einen Be-
weiß für die Vitalität des Blutes.
Das, was ich hierauf zu antworten habe, kön-
nen die, welchen die Sache interessant und wichtig
ist, theils in meiner erstern Abhandlung de vi vitali
[Seite 16] sanguinis, theils in meiner Schrift: Ueber den
Bildungstrieb, größtentheils schon auseinander-
gesezt finden; sie werden daraus leicht einsehen, daß
ich den Ausdruk, Bildungstrieb, gerade deswe-
gen gebraucht habe, um eine Kraft zu bezeichnen, die
von jener, welche bei den Alten hin und wieder un-
ter dem unbestimmten Namen der plastischen Kraft
vorkömmt, gar wohl zu unterscheiden ist.
Die plastische Kraft, wenn man diesen Ausdruk
wörtlich nimmt, erkenne ich allerdings in der soge-
nannten Entzündungshaut an, glaube aber, daß man
eben so wenig berechtigt ist, diese geronnene Blut-
masse von einer Lebenskraft des Bluts herzuleiten,
als die ebenfalls durch Gerinnung entstandene Form
des Aegyptischen Kiesels, irgend einer Vitalität der
Kieselfeuchtigkeit zuzuschreiben. Man müßte denn
mit Mazini, einem strengen Jatromathematiker
im Anfange dieses Jahrhunderts, selbst die Bildung
der Frucht im Mutterleibe, auf eine sogenannte Kry-
stallisation zurükbringen wollen.*)
Ich habe mich deshalb des Ausdruks Trieb
(nisus) bedient, um dadurch gleich eine lebendige
Kraft anzudeuten, deren Würksamkeit in den dreier-
[Seite 17] ley bildenden Erscheinungen der organischen Oecono-
mie, nemlich in der Erzeugung, Ernährung
und Reproduktion, ich genauer erforscht habe.
Es freut mich, daß sowohl die größten Physiolo-
gen, als auch die scharfsinnigsten Philosophen, vor-
züglich aus der Kantischen Schule, mich nicht
allein vollkommen verstanden haben, sondern auch
meiner Lehre vom Bildungstriebe beigetreten sind.
Diejenigen hingegen, welche die plastische Kraft
für gleichbedeutend mit dem Bildungstriebe halten,
legen meinen Worten entweder stillschweigend einen
ganz verschiedenen Sinn unter, oder sie schreiben den
Schriftstellern über die Lehre von der plastischen Kraft
etwas zu, dringen ihnen mit Gewalt etwas auf, wo-
ran, so viel ich weiß, keiner von ihnen gedacht hat.
Denn ich habe zu wiederholten Mahlen, bis jezt
aber immer vergebens gebeten, man möchte mir doch
einen nennen, welcher auf eben die Art, wie ich,
bei der Erklärung der organischen Natur das physisch-
mechanische Princip, schon mit dem rein teleologi-
schen Beweiße vereinigt hätte, worauf doch alles bei
der Lehre von dem Bildungstriebe ankömmt.
Wer aber blos an den Worten hängt und die
Ausdrücke, Bildungstrieb und plastische Kraft, wegen
ihrer Aehnlichkeit mit einander verwechselt, der hüte
sich ja, daß er nicht auf eben die Art das calidum
[Seite 18] innatum der Alten, mit der thierischen Wärme nach
den Grundsätzen der Neuern, für einerley halte.
Ich gehe nun zum zweiten Theile meiner Unter-
suchung, durch welchen diese zuerst entstanden ist,
über, nemlich zu dem eigenthümlichen Leben einiger
Theile des thierischen Körpers.
Unzählige Schriften und viele Zwistigkeiten der
Physiologen haben sich mit der so oft erörterten Fra-
ge beschäftigt: ob es schiklicher sey, die verschiedenen
Erscheinungen der Lebenskraft in ähnlichen belebten
festen Theilen, nur auf verschiedene Modificationen,
wie sie sagen, dieser nemlichen und einzigen Lebens-
kraft, oder vielmehr auf besondere ganz verschiedene
Gattungen derselben zurükzubringen. Ein ähnlicher
Streit entstand auch unter den Physikern, deren eini-
ge beweisen wollten, die physischen Kräfte der Mate-
rie müßten einzig und allein auf die Anziehungskraft
zurükgebracht werden, andere aber zugaben, daß ihrer
mehrere und verschiedene seyen. Ja es gab sogar
vortrefliche Physiologen, welche selbst die Lebenskraft
für eine Art der Anziehungskraft ausgabenh).
Ich habe schon ehemals meine vielfachen Gründe
angeführt, warum ich es für rathsamer halte, meh-
rere von einander verschiedene Ordnungen der Lebens-
kräfte anzunehmen, und glaube diese am füglichsten
so festsetzen zu können, daß ich, ausser dem allen be-
lebten festen Theilen zukommenden Bildungstrie-
be, die übrigen in allgemeine und eigenthüm-
liche eintheile. Zu den ersten rechne ich die Zu-
sammenziehungskraft (contractilitas) des
Schleimgewebes, insgemein Zellgewebe genannt,
dann die Reizbarkeit (irritabilitas) oder Mus-
kelkraft, und endlich die Empfindungsfähigkeit
(sensibilitas) oder Nervenkraft; die lezteren aber
begreife ich insgesamt unter dem Namen des eigen-
thümlichen Lebens (vita propria).
Es braucht wohl kaum erinnert zu werden, daß
mehrere dieser Arten von Lebenskräften, ob sie gleich
zu verschiedenen Ordnungen gehören, dennoch in der
genauesten Verbindung mit einander stehen, indem
z.B. in so vielen Theilen das Schleimgewebe, als
die Grundlage derselben (zugleich der Sitz der
Zusammenziehungskraft) auch mit Muskelfasern, die
reizbar, und mit Nerven, die empfindlich sind, durch-
flochten ist.
Ich gebe sogar auch das zu, daß es bei manchen
Erscheinungen schwer fällt, zu bestimmen, zu wel-
[Seite 20] cher Art der Lebenskräfte man sie hauptsächlich rech-
nen soll?
Nichts destoweniger scheint es doch der Vernunft
und Erfahrung gemäß, gewisse Erscheinungen, welche
in solchen Organen sich äussern, die in Absicht ihres
Baues und Gewebes von allen übrigen verschieden,
in ihren Verrichtungen ganz besonders und in ihrer
Art einzig sind, vielmehr einem eigenthümlichen Le-
ben zuzuschreiben; bis es erst bewiesen ist, daß so-
wohl der Bau dieser Organe, als die Art ihre Vi-
talität zu äussern, zu jenen allgemeinen Ordnungen
der Structur und der Lebenskräfte hingehören.
Man wird auf diese Art gewiß weniger irren, als
wenn man jene Erscheinungen zu voreilig und mit
Gewalt, in eine oder die andere Ordnung der allge-
meinen Lebenskräfte hinein drängen wollte.
Aus allem diesem erhellet, wie das eigenthüm-
liche Leben, der Gegenstand dieser Abhandlung,
in dem Sinne, wie ich es eben erklärt habe, von an-
deren entweder mit ähnlichen Namen bezeichneten
oder durch ganz falsche Auslegung damit verwechselten
Erscheinungen der Lebenskraft, verschieden sey.
Weit verschieden ist daher dieser Sinn von dem,
welchen Willdenow der Benennung eigenthümli-
[Seite 21] ches Leben, untergelegt hat, denn bei ihm ist dieses
gleichbedeutend mit der Lebenskraft überhaupt.i)
Ferner ist das eigenthümliche Leben auch unter-
schieden von dem Lebensprincip, welches nach John
Hunters Meinung in verschiedenen thierischen
Theilen noch eine Zeit lang haftet, wenn diese auch
von dem übrigen Körper getrennt worden sind, und
vermöge dessen die noch frischen Theile mit dem Kör-
per, zu welchem sie gehörten, oder auch mit ei-
nem fremden belebten, wieder zusammen wachsen
könnenk).
Noch weniger gehört, wie schon von selbst deut-
lich erhellet, die Beziehung, in welcher die belebten
festen Theile mit den darauf würkenden Reizen ste-
hen, oder der Grund, warum jene nach Verschieden-
heit der Organe, oder nach der subjectiven Verschie-
denheit des Alters, Geschlechts, Temperaments, der
Idiosyncrasie, Gewohnheit, Lebensart u.s.w. auf
verschiedene Art von diesen afficirt werden, hierher;
ich würde auch dieser specifischen Reizbarkeit,
wie sie von den neuern Engländern zuerst genannt
wurde, hier schwerlich erwähnt haben, wenn ich nicht
zu meiner Verwunderung gesehen hätte, daß ein übri-
[Seite 22] gens vortreflicher Schriftsteller, das eigenthümliche
Leben, mit dieser specifischen Reizbarkeit ausdrüklich
verwechseltl).
Etwas naher scheint Helmont’s, des Vaters,
vita participans (so viel sich nemlich aus dem my-
stischen und dunklen Styl dieses Schriftstellers muth-
maaßen läßt) meiner Meinung von dem eigen-
thümlichen Leben zu kommenm); doch am aller-
nächsten des großen Physiologen Johann von
Gorters besondere Würkung der lebenden Thei-
le (actio viventium particularis)n); jedoch
[Seite 23] scheint er darinne gar sehr gefehlt zu haben, daß er
fast allen Theilen des menschlichen Körpers diese be-
sondere Würkung beilegte und fast alle Verrichtun-
gen von eben so vielen besonderen Würkungen her-
leitete.
Denn obgleich der Rath großer Gelehrten auf
der einen Seite sehr weise ist, nicht durch zu große
Sucht nach Vereinfachung und Sparsamkeit bei der
Lehre von den Kräften und Elementarstoffen der Din-
ge in der Natur, uns zu täuschen und getäuscht zu
werdeno); so muß man sich doch auf der andern
Seite hier wie in jedem andern Falle hüten, die
Dinge nicht ohne Noth zu vervielfachenp). Man
[Seite 24] darf deshalb nur den wenigen Organen eigenthümli-
ches Leben beilegen, welche sowohl vermöge ihres
besondern Baues, als ihrer ganz eignen und gleich-
sam anomalischen Bewegungen und Verrichtungen,
von den übrigen so abweichen, daß alle diese Erschei-
nungen, bis jezt, nach den Gesetzen der allgemeineren
Lebenskräfte, schwerlich oder gar nicht erklärt werden
können.
Es ist daher nöthig, entweder die Charaktere
der bisher angenommenen Arten jener allgemeineren
Lebenskräfte zu verändern, neue festzusetzen, und die
Grenzen jeder Art genau anzugeben; oder, bis die-
ses geschehen ist, jedem zu erlauben, die ganz eigenen
Verrichtungen, wodurch sich jene besonderen Organe
auszeichnen, von den Ordnungen der allgemeinen Le-
benskräfte abzusondern, und durch die Benennung,
eigenthümliches Leben, zu unterscheiden.
Beispiele solcher Theile, welchen in diesem Sin-
ne eigenthümliches Leben zuzukommen scheint, habe
ich schon anderswo angeführt, und sehe auch, daß
hin und wieder sehr scharfsinnige Physiologen meine
Lehre durch ihren Beifall unterstüzt und noch mehr er-
[Seite 25] läutert haben, z.B. der berühmte Brugmans,
bei Gelegenheit der eigenen Vitalität der Lymphge-
fäße.q)
Es mag daher hinreichend seyn, zum Beschluß
nur ein einziges Beispiel, als das wichtigste von al-
len, anzuführen oder vielmehr meine Leser nur daran
zu erinnern, nemlich an den Uterus, welcher sowohl
in Absicht seines ganz eigenen Baues, als auch sei-
ner Verrichtungen, wenn man diese zumal durch die
verschiedenen Classen und Ordnungen der Thiere ver-
folgt, so merkwürdig ist, daß er, Statt aller übri-
gen, zur Erläuterung des eigenthümlichen Lebens,
wovon hier gesprochen wird, dienen kann.
Ich will zwar die in neuern Zeiten so oft und so
verschiedentlich erörterte Frage: ob der Bau des Ute-
rus muskulös sey oder nicht, keinesweges hier wie-
derholen; indessen werden doch die Anhänger der er-
stern Meinung einräumen, daß diese ihre angenom-
menen Muskelfasern, wenn ja welche da sind, ihren
Eigenschaften nach, von allen übrigen im ganzen
menschlichen Körper, gar sehr abweichen.
So werden z.B. die angeblichen Muskelfasern
des Uterus, unter denselben Bedingungen, nemlich
[Seite 26] bei der größten Ausdehnung, erst sichtbar, unter wel-
chen andere Muskeln (z.E. die geraden Bauchmus-
keln bei der Schwangerschaft selbst) so verdünnt wer-
den, daß man ihre Fasern kaum noch erkennen kann.
So äussern ferner die Fasern des Uterus ihre
stärkste Kraft unter denselben Bedingungen, unter
welchen andere Muskeln geschwächt werden, ja (wie
dies ebenfalls bei den geraden Bauchmuskeln oft der
Fall ist) selbst in einen fast paralytischen Zustand ge-
rathen.
Endlich verlieren sie nicht, so wie andere Mus-
keln, durch lange Ruhe und Unthätigkeit ihre Kraft,
denn sie werden nur wenige Mahle im ganzen Leben,
bei der Geburt, in Thätigkeit gesezt, und äussern
dennoch zu dieser Zeit die heftigsten Bewegungen.
Und ausser den angeführten, geben die Verrich-
tungen des menschlichen Uterus noch gar viele ganz
eigne und in ihrer Art einzige Erscheinungen:
Der Uterus ist, im gesunden Zustande, und sei-
ner Natur nach, einzig und allein periodischen Blut-
flüssen unterworfen.
Er allein zeigt, wenn er vermöge seiner Natur
durch den höchsten Grad von Wollust im Beischlafe
gereizt wird, die Zufälle der Entzündung, und
[Seite 27] schwizt sogar nach Art der entzündeten Eingeweide,
eine plastische Lymphe in seine Höle aus, welche die
dicke membrana caduca s. decidua bildet. Dassel-
be geschieht auch, wenn die Empfängniß der Frucht
nicht in der Höle der Gebärmutter selbst, sondern in
einer oder der andern tuba geschehen ist. Und auch
bei einer solchen conceptio extrauterina wird doch
die leere Gebärmutter zur bestimmten Zeit, wo nem-
lich die Geburt einfallen müßte, nichts destoweniger
von den gewöhnlichen Wehen befallen.
Der Uterus ist ferner der Sitz, oder wenigstens
die ursprüngliche Quelle der eben genannten merkwür-
digen Erscheinung, nemlich der wollüstigen Empfin-
dungen.r)
Auf welche wunderbare Weise umfassen nicht die
Franzen (simbriae) bei jener wollüstigen Erschütte-
rung, die bestimmten Stellen der Eyerstöcke, an wel-
chen die zur Losreissung reifen Graafischen Bläs-
[Seite 28] chen hängen, welches schon an der Gebärmutter des
Menschen und anderer Säugthiere, vorzüglich aber
bei den Vögeln unsere ganze Bewunderung verdient.
Wer nur einmal die Zeugungstheile einer eyerlegen-
den Henne, vorzüglich aber die Mündung des fran-
zenartigen Trichters am Ende des Eyergangs (ovi-
ductus), und dessen Beschaffenheit und Zusammen-
hang mit den reifen in ihrem Behältniß (calyx)
hägenden Dottern, einigermaaßen genau untersucht
hat, der wird sich davon sogleich überzeugen müssen.
Nach gehöriger Erwägung und Vergleichung aller
dieser Umstände, finde ich mich bewogen, der
Gebärmutter (diesem Wunder der Natur, wie
Swammerdam sagte,) eigenthümliches Leben,
wenn dieß irgend einem Theile des thierischen Kör-
pers zukömmt, beizulegen und zu glauben, daß die
Alten sie zwar metaphorisch, aber nicht unschik-
lich, ein Thier in einem Thiere genannt haben.
Außerdem, daß dieser Aufsaz (er erschien zuerst als
Programm: De vi vitali sanguini neganda, vita au-
tem propria solidis quibusdam c.h. partibus adse-
renda curae iteratae. Götting. 1795. 4.) schon an
sich ein sehr wichtiger Beitrag zu den neuesten Un-
tersuchungen über jene streitigen Gegenstände ist, so
sind wir dem berühmten Verfasser die Aufnahme
desselben in dieses Journal gewissermaßen schuldig;
S. Journal der Erfind. 7. St. S. 48. Zugleich
kann er zu einer sehr lehrreichen Vergleichung mit
[Seite 6] den Gründen dienen, die Hufeland in seiner Fa-
thogenie für die Vitalität des Bluts aufgestellt hat.
Wir überlassen diese unseren Lesern.
In dem Giornale per servire alla Storia ragionata
della medicina di questo Secolo. T. VI.
S. dessen Saggio d’Osservazioni concernenti li
nuovi progressi della Fisica del corpo umano.
Deutsch Berlin. 1794. 8.
Opuscoli di vari autori sulla irritabilità Halleriana,
raccolti da Giac. Bart. Fabri. T. II.
‘„Die thätige Kraft, oder Triebkraft, oder Sensi-
bilität, oder Reizbarkeit, oder die sogenannte Le-
benskraft, kann ihrer Natur nach nicht erkannt wer-
den.”’ Fr. Bern. Albinus.
‘„Es ist etwas, was ich noch als unbekannt vor-
aussetze, in den lebendigen Körpern u.s.w.”’ Joh.
de Gorter.
‘„Leben ist eine Eigenschaft, welche wir nicht ken-
nen.”’ John Hunter.
‘„Wir sind noch in einer tiefen Unwissenheit über
die geheime Natur oder das Wesen der verschiedenen
im Ganzen verbreiteten Kräfte, und vorzüglich über
die, welche das vegetabilische und thierische Leben
ausmachen.”’ C. Bonnet.
Aehnliche Bekenntnisse anderer Schriftsteller, habe
ich in der dritten Ausgabe der Schrift über den
Bildungstrieb angeführt.
A Treatise on the Blood, Inflammation and gun-
shot wounds, by the late John Hunter. Lond.
1794. 4. Vergl. Götting. gel. Anzeigen 1795.
No. 190. 191. wo eine ausführliche Darstellung der
Hunterschen Meinung von der Vitalität des Bluts
zu lesen ist.
Denn ich glaube, diese Narbe, so wie die besondern
im Ey sichtbaren Häute müssen als feste, und zwar
in einem noch frischen Ey, sollte es auch ein unbe-
fruchtetes seyn, als feste, eine Zeit lang mit einer
gewissen Lebenskraft versehene Theile angesehen
werden, und hoffe, daß dieß Niemanden ungegrün-
det scheinen werde, der den innern Bau des Eyes
mit Sorgfalt untersucht und die Häute desselben
mit ähnlichen von den einfachsten Thieren, z.B.
mit dem blasenähnlichen Sack der Würmer aus der
Classe der Hydatiden, verglichen hat. Vorzüglich
aber dient jener merkwürdige Umstand, den diejeni-
gen, welche neuerdings das Ey zum Beweise der
Vitalität des Bluts gebraucht haben, übersehen zu
haben scheinen, ob er gleich schon von dem großen
Harvey angemerkt wurde, daß nehmlich die fau-
lichte Verderbniß des Eyes gerade an der Stelle der
Narbe ihren Anfang nimmt, zu einem Beweise:
daß die Flüssigkeiten des Eyes nur so lange unver-
[Seite 12] sehrt bleiben können, als die gedachten festen Theile
ihre Vitalität behalten. Diese nun ist in unbefruch-
teten Eyern freilich geringer und vergänglicher, als
in befruchteten, weil ihnen das Leben blos von der
Mutter, und ohne Hinzutritt des männlichen Saa-
mens, nur in sehr geringer Maaße mitgetheilt wor-
den ist.
S. des verehrungswürdigen und gelehrten Grafen
de St. Simon vortrefliches Werk des Jacintes; des-
gleichen v. Swieten Comment. T. IV. im Kapitel
vom Podagra.
Wirklich ist das neuerlich wieder von Reil gesche-
hen. Archiv für die Physiologie. 1. St.
The attraction of life. Fordyce on muscular mo-
tion, in Philosoph. Transact. Vol. LXXVIII.
Nemlich Gautier, welcher in seiner zu Halle 1793
herausgegebenen Dissertation: De irritabilitatis no-
tione, natura et morbis, mit eben so wenigem Rech-
te eigenthümliches Leben mit der specifischen
Reizbarkeit verwechselt hat, als er bemüht ist, sich
die Entdeckung der lezteren zuzueignen; indem be-
reits beinahe fünf Jahre vor der Erscheinung sei-
ner Dissertation, ein berühmter Londner Arzt Bla-
ne diejenige Beziehung, welche zwischen den beleb-
ten festen Theilen und den darauf specifisch würken-
den Reizen Statt findet, mit demselben Namen
(– the specific irritability –) unterschied, und
ihre Wichtigkeit in der thierischen Oeconomie weiter
auseinander sezte. S. dessen Lecture on muscular
motion. 1788.
‘„Wie viele Erscheinungen sieht man nicht, die bei
aller ihrer Aehnlichkeit doch so verschieden sind!
Aber man wirft dies alles unter einander, unter
dem Vorwande, zu vereinfachen; als ob die Ver-
schiedenheit in den Erscheinungen nicht auch ei-
ne Verschiedenheit in den Ursachen anzeigte!”’
De Luc.
‘„Die Erfahrung hat mich längst gelehrt, daß die-
jenigen Erklärungen der Dinge in der Natur (der
physiologischen Erscheinungen) welche durch ihre ele-
gante Simplicität wahrscheinlich werden sollen, sel-
ten zuverlässig sind.”’ Haller.
‘„Es dürfen nicht mehrere Ursachen der Dinge in
der Natur angenommen werden, als die wirklich ge-
[Seite 24] gründeten und zur Erklärung ihrer Erscheinungen
hinreichenden. Würkungen der Natur von einerley
Art, müssen daher auch einerley Ursache, sofern es
thunlich ist, zugeschrieben werden.”’ Newton.
Dieses hat, wie ich nicht anders weiß, zuerst Jac.
Berengarius, insgemein von seinem Vaterlande
Carpus genannt, beobachtet, welcher die Geschichte
einer Frau erzählt, der ihr Vater die Gebärmutter
ausgeschnitten hatte. ‘„Nach diesem Verlust, –
sagt er, – war die Person völlig gesund und im
Stande, den häuslichen Geschäften vorzustehen, auch
noch zum Beischlafe geschikt; – doch erregte ihr
derselbe nicht die geringste wollüstige Empfindung.”’