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Medicinische
Bibliothek
herausgegeben
von
Joh. Friedr. Blumenbach,
der Medic. Prof. ord. zu Göttingen.
Ersten Bandes zweytes Stück.
xxx

Prüfet alles, und das Gute behaltet.



Göttingen,
bey Johann Christian Dieterich
.
1783
.

I.
Nachricht von der auf der Göttingischen
Bibliothek befindlichen Meibomischen
Sammlung medicinischer Handschriften.

[Seite 368]

Das Königliche Ministerium zu Hannover hat
die hiesige Bibliothek mit dem ganzen me-
dicinischen Fach der seit dem Jahr 1768 auf der
dortigen befindlichen Meibomischen Manuscripte
bereichert: und da ich nur in dem kleinen Theil,
dieser aus mehr als anderthalbhundert Fascikeln
bestehenden Sammlung, den ich seitdem zuweilen
zur nähern Untersuchung vorgenommen, vieles
eben so unverhofftes als lehrreiches gefunden habe,
so wird zu Zeiten einige Nachricht von dieser klei-
nen Ernde in diesen Blättern den Lesern derselben
hoffentlich nicht unwillkommen seyn.

Die ganze Sammlung schreibt sich von den
beiden berühmten Aerzten und Helmstädtischen Leh-
rern, Joh. Heinr. Meibom, dem Vater, und
Heinrich, dem Sohn, her, und da jener a. 1590
[Seite 369] gebohren war, und dieser a. 1700 starb, beide
aber bey ihren ausgebreiteten Kenntnissen und gros-
sen Ansehn einen ausgedehnten Briefwechsel unter-
hielten, so ist sie schon aus dieser Rücksicht gleich-
sam als ein Archiv fast der ganzen medicinischen
Litteratur des vorigen Jahrhunderts anzusehen.

Sie enthält aber ausser den eignen Arbeiten
und Briefwechsel dieser beiden universalgelehrten
Aerzte, auch verschiedne ältere Manuscripte, da-
von einige eine besondere Anzeige verdienen.

Dahin rechne ich z.B. die vorzüglichsten medi-
cinischen Werke des berühmten Arnaud von Vil-
leneuve
(Arnoldus Villanovanus) der bekanntlich
gegen das Ende des 13ten Jahrhunderts in Mont-
pellier Medicin lehrte, und a. 1313 in seinem
78sten J. starb: und der gerade für unser Zeital-
ter ein dreyfaches Interesse erhält, das ihn schwer-
lich seinen eigenen Zeitgenossen nur halb so merk-
würdig machen konnte:

Denn erstens hat er wie weiland Hr. Ziehen,
mit dem jüngsten Tag gedroht, der auch so wie bey
dem Zellerfelder Propheten bald nach seinem Tode
einbrechen sollte. Zweytens hat er, so gewiß als
[Seite 370] der nun auch entschlafne Dr. Price, Gold gemacht,
und das Recept dazu ganz klar und deutlich seinem
Rosario philosophorum einverleibt. Und drittens
hat er pro sustentatione ordinis Cartusiensis ge-
schrieben, dem man schon damals die Abstinenz
vom Fleischessen als einen der Natur und Bestimmung
des Menschen ganz widersprechenden Zwang vorge-
worfen hatte.

Auch soll schon Er lange vor dem sittsamen
Paracelsus den großen Diogenisch-Prometheischen
Gedanken gehabt haben, aus puren männlichen
Saamen in einem Glase ein kleines Menschgen zu
fabriciren*), und was dergleichen Vergehungen
mehr sind, die aber doch alle, dadurch – soll
man sagen, noch übertroffen oder aber wieder gut
gemacht werden, daß auch Er, und nicht wie
insgemein gesagt wird, Raimundus Lullus,
den Brantewein erfunden hat**).

Die Handschrift seiner Werke die ich vor mir
habe, scheint aus der Mitte des 15ten Jahrhun-
derts, und enthält vorzüglich das vormals so be-
rufne breviarium practicae a capite usque ad
[Seite 371] plantam pedis, das Astruc, (doch wie es scheint
mit schwachen Gründen) dem Neapolitanischen Arzt
Joh. Casamida zuschreiben wollte. Hier führt
es ausdrücklich die Ueberschrift: Ego Arnoldus de
Villanova domini papae physicus, aggregavi flo-
rem omnium physicorum medicinae super omnes
aegritudines quae in humano corpore nasci pos-
sunt a capite usque ad plantam pedis, secundum
quae veri philosophi probaverunt et pro parte
probavi, vel per probatas et fide dignas perso-
nas probatum accepi
.

Auf den tractatus de aquis Arnoldi de Villa-
nova
folgen die proprietates multarurn aquarum
ex primo tractatu magistri magnini octo tracta-
tuum. Et est tertia summa tractatus primi de
aquis specialibus artificiose factis
. Hierdurch
scheint eine unwahrscheinliche Behauptung des um
die medicinische Litteratur sonst verdienten Bar-
thol. Corte
*) widerlegt zu werden, der doch
auch Hr. v. Haller vollkommen beypflichtete**),
daß nemlich Magninus ein erdichteter Name sey un-
ter welchen sich Arnaud Selbst, aus dem Grunde ver-
steckt habe, weil sein eigner vielen Leuten verhaßt ge-
wesen u.s.w. Magninus war so gut ein Arzt als Ar-
naud,
u. sein Zeitgenoße: daß aber manche ihrer
[Seite 372] Werke bald des einen bald des andern Namen in den
verschiedenen Handschriften führen, ist für jene
Zeiten sehr begreiflich, und sehr gewöhnlich, und war
z.B. der Fall mit Albertus Magnus und Henr.
de Saxonia,
und manchen andern.

Ungleich wichtiger ist mir ein Band ungedruck-
ter Arbeiten eines der größten und verdienstvollesten
Zergliederers die je gelebt! – Es ist gabrielis
fallopii
anatomia simiae –; anatomia canis –;
administrationes et demonstrationes anatomicae
–:
rhapsodiae in librum Galeni de ossibus (auch diese
sind von der gedruckten expositio verschieden) –
u.a.m. Dieser Codex war ehedem im Besitz des
Helmstädter Prof. Joh. Sigfried, der sich ausser
eignen Arbeiten auch schon durch eine systematische
Ausg. von Fallopii observat. anat. bekannt gemacht
hat, und der auch hier diese anecdota drucken zu
lassen muß willens gehabt haben. Es ist hier nicht
der Ort ein umständliches Detail von denselben zu
geben: nur eine einzige Stelle hebe ich zur Probe
aus, welche die von den Zergliederern so oft bestrittene
Frage*) über den wahren Erfinder der Klappe
im Grimmdarm
entscheidet, und offenbar be-
[Seite 373] weist, daß schon Fallopius, früher als Post, Va-
rolius, Casp. Bauhin
oder Sal. Alberti diese
Valvel und ihre Verrichtung gekannt, und daß
Vidius auch hier ein undankbarer Copiste sei-
nes großen Lehrers gewesen, und sich mit seinen
Federn geschmückt, ohne ihn zu nennen.

Sie steht in der anatomia simiae bey der De-
monstration vom 2ten Febr. 1553 wörtlich also:
‘,,Coeci usus est in simiis neregurgitet cibus ad par-
tes superiores cum prona incedunt: quodque hic
usus sit, signum est, quia si in rectum aqua im-
mittatur, aut flatus, perveniet in coecum, non trans-
gredietur autem crassa. At si superius immitta-
tur, pertransiet. Ratio est: quia ad insertionem
ilei plicae sunt duae quae in inflatione et repletione
comprimuntur, ut in corde fit, et prohibent re-
gressum: unde nec clysteria possunt pervenire ad
partes illas , et pertransire, ita ut ejiciantur per
vomitum in homine, nisi debilibus et morbo exi-
stentibus intestinis
–.“’ Es erhellet offenbar daß
Fallopius die Klappe nicht etwa blos, (so wie Eu-
stachius die Speisesaftröhre,) gesehen ohne sie zu
kennen, sondern ihre ganze Bestimmung genauer
als alle die gedachten nachwärtigen Zergliederer,
vorgetragen hat. Freylich kann deshalb auch die-
sen würdigen Männern das Verdienst des Selbst-
[Seite 374] erfindens
nicht abgesprochen werden! Die ange-
führte Stelle dient doch aber immer, auch ausser
dem historischen Interesse, zu einem aberma-
ligen Beweis, wie lehrreich und wichtig die
Lectür solcher alten Schriftsteller werden kan, da
man so häufige Spuren von nachherigen Entdek-
kungen in ihnen findet, und eben so zuverlässig
auch noch tausend Keime von künftigen großen Er-
findungen, die entweder damals nicht weit ge-
genug verfolgt, oder aber nicht bekannt oder ver-
gessen worden, in ihnen liegen, die einen nur irgend
scharfsinnigen und aufmerksamen Leser gar leicht
selbst auf ihre weitere Entwickelung führen können.

Unter den eignen Melbomischen Handschriften
habe ich bis jezt nur einige vom jüngern, nämlich
von Heinrichen, durchblättert, die ungemein viel
intressantes, besonders auch im anatomischen Fach
enthalten, worinn er bekanntlich seinen Namen
durch die Erfindung der Talgdärmchen in den Au-
genlidern, und des foram. coeci hinten auf der
Zungenwurzel*) verewigt hat. Auch den merk-
würdigen Eintritt des Eydotters in den dünnen
Darm des bebrüteten Küchelgen hat Meibom, wie
[Seite 375] sein nachher dadurch berühmt wordner Freund
Stenonis selbst gesteht*) noch vor diesem
entdeckt. Er war ferner ein früher und männ-
licher Vertheidiger des Harveyischen Blutum-
laufs, dem sich doch der große Haufe seiner
Zeitgenossen so muthig widersezte: und die zahl-
reiche Menge der unter seinen Papieren befindlichen
anatomischen Bemerkungen, zumal auch zur ana-
tome comparata
, und die von ihm angestellten phy-
siologischen Versuche an lebendigen Thieren bewei-
sen überhaupt seine vortrefliche Kenntnisse in die-
sem Fache, die schon damals ein sehr gültiger und
doch im Lobe anderer gar nicht freygebiger Rich-
ter, der große Malpighi an ihm bewunderte**),
und die doch auch schon theils aus seinen gedruck-
ten Schriften erhellen, deren mehrere der Hr.
v. Haller wieder auflegen lassen.

Aber auch für andre Fächer unserer Wissenschaft
ist dieser gelehrte Nachlaß lehrreich. Besonders
für Pathologie und materia medica.

Zu letzterer finde ich einige fast schon ganz aus-
gearbeitete Schriften. Z.B. de mandragorae radi-
cis usu, ad i. iac. wepfervm epistola
. Ein
quacksalbernder Schulmeister am Harz giebt einem
[Seite 376] 22 jährigen Bergmann verlange über kurzen Othem
und Engbrüstigkeit geklagt hatte, in der Absicht
ihm den Schleim von der Brust zu schaffen oder
sonstige Stockungen zu heben, eine Dosis Pulver
von anderthalb Quenten, die aus gleichen Theilen
Rad. helenii, imperatoriae, rhabarbari et mei
besteht, wozu er dann nur 8 oder 9 Gran Alraunwur-
zel
thut, die der Kranke in warmen Bier einnimmt
aber bald darauf sehr elend wird, die Sprache
verliert, nicht mehr schlucken kan, die Augen ver-
dreht, sich angstvoll mit Zuckungen herumwirft,
und nachdem sich diese legen, 12 Stunden nach
dem genommnen Pulver stirbt. Dabey der Sections-
bericht, und Versuche mit der Alraunwurzel an le-
bendigen Thieren.

Ein anderes ist de veneno interfectis diiudi-
candis exercitatio
, ebenfalls an den würdigen
Wepfer. Enthält viele merkwürdige Fälle von
Vergiftungen, zumal mit Arsenic und Sublimat.
z.B. Ein Chirurgus streut auf einen offnen Brust-
krebs, Arsenic
den er mir Salpeter versezt, der aber
24 Stunden lang unaussprechliche Schmerzen mit
Erbrechen und heftiger Beängstigung verursacht, wor-
auf die Kräfte plötzlich schwinden, der Puls sich
verliert und die Kranke Tags drauf sterben muß.

[Seite 377]

Beyläufig sind diesen Fällen gar intressante
Collectanea eingestreut, auch historischen Inhalts:
z.B. umständlich über die Todesart Kaiser Hein-
richs
VII.

Unter den beygelegten Facultäts Responsis ist
mir eins von den damaligen Leidner Facultisten,
Sylvius, v. Horn und Flor. Schuyl aufgefal-
len. Es betrift den plötzlichen Tod eines atrabila-
rischen Mannes nach dem Genuß von Miesmu-
scheln, wobey aber auch starker Verdacht von ab-
sichtlicher Vergiftung mit Sublimat eintritt. Man
muß lächeln, wenn man sieht wie die wackern
Männer alle Umstände der Todesart aus den bei-
den damals so berufnen Sylvischen Hypothesen,
nämlich dem Aufbrausen im Zwölffingerdarm, und
dem Uebergang der Galle aus der Blase in die Le-
ber durch die ductus bilarios hepaticos so bündig
zu demonstriren und alles so genau wie Schachtel
und Deckel aufeinander zu passen wissen!

J.F.B.


Notes
*).
[Seite 370]

io. marianae histor. de reb. Hisp. S. 681. der To-
leder Ausg. v. 1592. Fol.

**).
[Seite 370]

astrvc hist. de la fat. de Med. de Montp. S. 162.

*).
[Seite 371]

Not. intorno a med. Milan. S. 21. u.f.

**).
[Seite 371]

bibl. pract. Th. I. S. 449.

*).
[Seite 372]

haller elem. physiol. Th. VII. S. 132.

*).
[Seite 374]

ivst. schrader observ. et hist, c harvei lib. de gener.
animal. p.
186.

*).
[Seite 375]

elementor. myologiae specim. p. 68.

**).
[Seite 375]

Op. posth. p. 55. ed Ven. 1698. f.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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