Nach dem was uns die Erscheinungen an
den Blattläusen und am Kugelthier, be-
sonders aber die Erfahrungen über das bebrüte-
te Hünchen, über den Laich der Frösche und die
Eyer der Zweyfalter, lehren; wird es mehr als
bloße Wahrscheinlichkeit, daß wir von jeher als
Keime bey unsern Müttern gelegen haben, und
daß unsre Väter, so wie alle übrigen männli-
chen Thiere, am Ende nicht viel mehr als eine
Zugabe sind, deren Bestimmung blos ist, die
[Seite 39] im ewigen Schlaf erstarrten Keime gelegentlich
zu beleben, und zur Entwickelung zu ermun-
tern. Als Keim liegt der künftige Mensch im
Eyerstocke seiner Mutter, von einer besondern
Hülse umschlossen, die von ihrer Bildung und
nach ihrem Erfinder den Namen des Graafischen
Bläschens erhalten hat. So bald er zur Ent-
wickelung angereizt worden, ändert er seinen
bisherigen Aufenthalt, und gelangt nunmehr in
die Gebärmutter selbst, wo er ohngefähr 40
Wochen lang, nemlich bis zur Geburt, vom
mütterlichen Blute, auch wohl mittelst des
Wassers, in welchem er schwimmt, ernährt
wird. In den ersten Wochen nach der Em-
pfängniß ist sein Körper in Verhältniß gegen
den Raum der Gebärmutter noch klein genug,
um gerade ausgestreckt in diesem Wasser schwim-
men zu können. Allein diese Lage würde bald
beym zunehmenden Wachsthum des Fötus, für
ihn und für die Mutter beschwerlich, und in
die Länge ganz unmöglich werden. Sein Rü-
cken krümmt sich also, der Kopf senkt sich vor-
wärts, die Füße werden in die Höhe gezogen,
die Arme zusammen geschlagen, und er be-
kommt nun eine kugelförmige Lage, bey der
er den wenigsten Raum einnimmt und seiner
Mutter am mindsten unbequem fällt. An-
fangs sitzt er auch dann noch aufrecht, stürzt
sich aber, 5 oder 6 Wochen bevor er aus sei-
nem Kerker hervorbricht, um, so daß diese letzte
Zeit über der Kopf unten zu liegen kommt.
Nach dem Lauf der Natur wird immer
nur ein menschlicher Keim auf einmal ent-
wickelt. Doch trifts wohl unter hundert Fäl-
len einmal, daß zwey, äusserst selten aber, daß
3 oder 4 Kinder zugleich gebohren werden: und
[Seite 40] die sind denn, zumal im letztern Fall, immer
schwächlich wie Abortus, und keines langen
Lebens fähig. Man weiß kaum zwey ganz
ungezweifelt zuverläßige Beyspiele von fünf
auf einmal gebohrnen Kindern; und diese Zahl
hat schon Plutarch fürs non plus ultra mensch-
licher Fruchtbarkeit angenommen, und die fünf
Fackeln dahin gedeutet, die bey den alten Hoch-
zeitgebräuchen den Neuverehlichten vorgetragen
zu werden pflegten.
Gewöhnlich begrüßt der Mensch die Welt,
die er zum erstenmal betrit, mit Weinen.
Man braucht aber auch nur geringe physiolo-
gische Kenntnisse zu besitzen, um über diejeni-
gen Weltweisen lächeln zu können, die in die-
ser bekannten Erscheinung einen Spiegel des
frühen menschlichen Elends haben suchen wol-
len. Ein Thier, daß 9 Monate lang in war-
mem Wasser schwamm, durch dessen klein ge-
preßte Lungen sich noch keine Luft den Weg
gebahnt hatte, kann sich das Ungewohnte des
ersten Athemholens Lurch kein Bestreben so
glücklich erleichtern, als durchs Weinen.
Man hat im Laufe des menschlichen Le-
bens, von der Geburt bis zum natürlichen
Tode, drey große Epochen angenommen: Wachs-
thum, Blüthe, Abnahme; wovon die mittle-
re das männliche Alter begreifen soll. Allein
diese Eintheilung hält keine strengere Analyse
aus. Es ist wahr, daß wir in den beyden
Extremen unsers Lebens-Laufs Kinder sind,
und daß das männliche Alter den physischen
Menschen im Meridian seiner Größe fin-
den soll. Aber doch besitzen wir Fähigkeiten,
die im zehnten Jahre mehr Stärke zeigen als
im zwanzigsten; und hingegen andre, die erst
[Seite 41] bey spätern Jahren, als die männlichen sind,
zur Reife gelangen.
Neun Monate ward der Fötus mit den
mütterlichen Säften genährt; und ohngefähr
eben so lange wird nachher der gebohrne Mensch
mit Muttermilch gesäugt. Dieb sind aber
auch die einzigen Perioden, worinn der Mensch
eine einförmige Nahrung genießt. Im übri-
gen Leben zeichnet er sich schon durch seine
unbegränzten Nahrungsmittel von allen an-
dern organisirten Körpern aus. Er speist die
Thiere, von seinem Nebenmenschen an bis zur
Auster, und die Pflanzen vom Palmbaum bis
zur Trüffel herab.
Um die Zeit wenn das Kind entwöhnt
worden, fangen die ersten Zähne an hervorzu-
brechen, ein Geschäfte dessen Ende sich meist
bis ins 2te Jahr verzieht, da dann in allem
20 Zähne hervorgekommen sind. Allein diese
ersten Zähne sind nicht zum Gebrauch für die
ganze Lebenszeit des Menschen bestimmt. Sie
sollen in der Zwischenzeit vom 7ten zum 13ten
Jahre mit 32 andern dauerhaftern Zähnen
ausgewechselt werden, von denen doch bey vie-
len Menschen die letzten Backzähne entweder
gar nie, oder doch erst späte zum Vorschein
kommen. Meist zugleich mit den ersten Zäh-
nen, das heist zu Ende des ersten Lebensjah-
res, stellt sich auch das Vermögen zu gehen
und zu sprechen ein.
Bis ins 15te Jahr ist, wie jeder Zerglie-
derer weiß, die Substanz des Gehirns unge-
mein weich, und eben deswegen scheint sie
dann für Eindrücke empfänglicher; wenigstens
ist allgemein bekannt, daß das Gedächtniß in
diesen frühen Jugend-Jahren am stärksten ist;
[Seite 42] so wie sich hingegen im folgenden Jahrzehend
die Einbildungskraft am lebhaftesten, und im
reifern Alter die Urtheilskraft am richtigsten
zeigt.
In den beyden äussersten Epochen des
menschlichen Lebens sind beyde Geschlechter in
Rücksicht der Geschäfte ihres körperlichen Le-
bens einander völlig gleich. Der Geschlechts-
Unterschied zeigt sich nur in der mittlern Pe-
riode, die wir oben Blüthe des Lebens genannt
haben; in welcher der Mensch die groste Be-
stimmung eines jeden organisirten Körpers,
nemlich seines gleichen hervorzubringen, erfül-
len soll. Die Fähigkeit dazu äussert sich beym
männlichen Geschlecht durch den Ausbruch des
Barts, beym weiblichen durch Zufälle, die,
beydes wegen der Gefahr und Gêne, die mit
ihnen verbunden sind, die natürliche Achtung
gegen dieses Geschlecht noch um ein beträcht-
liches erhöhen müssen. So wie sich diese Er-
scheinung, und auch die Mannbarkeit beym
andern Geschlecht wiederum verliert, so fängt
sich allmählich die dritte und traurigste Epo-
che des menschlichen Lebens an. Die Epoche,
die uns nach und nach dieses Leben minder
werth, seine Reizungen weniger auffallend ma-
chen, und uns zum Abtrag der Schuld der
Natur vorbereiten soll. Das zunehmende hö-
here Alter ist das gerade vis à vis der Kind-
heit, statt daß in jenen Jahren die festen Theile
des Körpers geschmeidig, empfindsam, reizbar:
die Säfte gelinde waren; so ist hingegen beym
Greis alles trockner, mit Erdtheilen überhäuft;
Reizbarkeit und Empfindlichkeit gestümpft u.
s.w. Die Phantasie verliert fast ganz, und
das Gedächtniß doch großentheils, ihre vorige
[Seite 43] Stärke. Auch die äussern Sinne, zumal aber
Gehör und Gesicht, werden gegen die äussern
Eindrücke gefühlloser, bis endlich der Mensch,
wenn er sich am Ende seiner Laufbahn fin-
det, wenn er sich dem natürlichen Tode, den
doch so wenige sterben, nähert, fast mit der
gleichen Rolle beschließt, die er beym ersten
Auftritt in diese Welt spielte. Er wird un-
vermöglich, fremder Hülfe bedürflicher, kann
zuletzt nicht mehr sein Haus, weiter hin nicht
mehr sein Zimmer, und endlich nicht einmal
sein Bette mehr verlassen; verschläft, wie er
als Kind that, den grösten Theil seiner Zeit;
seine Sinne vergehen allmählich ganz; bis zu-
letzt auch die Geschäfte des Athemholens und
des Blutumlaufs, und mit ihnen die Bewe-
gung der ganzen Maschine aufhört.
Wenn sich diese letzten Phänomene ein-
stellen, das heist, wie alt der Mensch werden
solle, läßt sich nicht categorisch beantworten.
Er hat selbst zu viele, theils ganz unbemerkte
Wege ersonnen, sich seine Reise abzukürzen,
daß man nur von wenigen sagen kann, sie
legen sie nach dem Maase der Zeit zurück, das
ihnen die Natur bestimmt hat. Aber davon
ganz abstrahirt, bleibt doch, nächst der ewigen
Klage der Sophisten vom Elend des mensch-
lichen Lebens, wovon wir oben einen so ge-
wöhnlichen Beweis beleuchtet haben, keine an-
dre ungegründeter, als die über die Kürze des-
selben. Unter allen Thieren, die dem Men-
schen in Rücksicht ihrer körperlichen Oeconomie
verwandt sind, also unter allen Säugethieren,
erreicht keins nach Proportion ein so ausneh-
mend hohes Alter, als der Mensch. Alle Epo-
chen seines Lebens verlängern sich ungleich
[Seite 44] mehr als bey diesen seinen Mitgeschöpfen.
Keins dieser Thiere bleibt so lange Kind, keins
wird so späte mannbar, keins ist im Stan-
de, bey einer so mäßigen Körpermasse vielleicht
ein Jahrhundert zu durchleben.