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Goettinger Taschen
CALENDER
vom Jahr
1781.
beÿ Joh. Chr. Dieterich.

Der
Schneidervogel.

[Seite 35]

Herr Johann Gideon Loten, ehemaliger
Gouverneur auf der Insel Ceylon, besizt
eine grosse Anzahl Zeichnungen von Natura-
[Seite 36] lien, welche er während seinem Aufenthalt
in den heissen Gegenden Asiens gesammelt,
und denen er viele wichtige Beobachtungen
beigefügt hat. Einige dieser Zeichnungen sind
unter dem Titel: Indian Zoology, kürzlich er-
schienen; allein das Werk ist äusserst selten,
weil es unvollendet geblieben. Wir ziehen
hier folgenden Artikel aus, der manches lehr-
reiche enthält.

‘„Ohne eine besondere Gabe des Instinkts,
hätten die Vögel des heissen Erdstrichs ihre
Nester mit eben so weniger Vorsicht als die
europäischen gebaut. Allein ein gewisses Vor-
gefühl von Gefahren, eine Erkentniß ihrer
eigenen Schwäche, lehret dort die kleineren
Sorten ihre Nester an die äussersten Baum-
zweige zu heften. Sie wissens, möchte man
sagen, daß die Feinde ihres Lebens und ih-
rer jungen Brut, am Stamme hinan sich
windende Schlangen, und raubbegierige Af-
fen, in ihren Wohnplätzen wimmeln. Die
Natur giebt ihnen aber Unterricht, dem
Schleichen jener, so wie der Geschwindigkeit
der leztern zu entgehn.’

[Seite 37]

‘Die Waldungen Indiens kan man sich
nicht malerischer denken. Alles lebt in den
Bäumen; groteske Affen schütteln die stärke-
ren Aeste, und auf den zartesten Sprossen,
hoch über unsern Häupten, wiegen sich un-
zählige gefiederte, harmonische Geschöpfe. Weg
mit den Fabeln der Vorzeit, welche im Vo-
gelheere der heisseren Welt, nur den Schim-
mer des Federnkleides bewundern, und der
Bildnerin Natur die Macht absprechen, auch
dort harmonische Kehlen zu schaffen! Ceylon
hat nicht nur seinen lieblichen Dominiquino,
sondern noch eine Menge anderer Sangvögel,
die mit den europäischen in die Wette singen
dürften. Man hört sie auf allerhand Bäu-
men trillern, welche sonderbar belaubt, und
oft mit gesunden und wohlschmeckenden Früch-
ten belastet sind. In freyeren Stellen des
Waldes sieht man Vögel von den schönsten
Farben vorüberziehn; und wenn zahlreiche
Pfauenheerden den hundertäugigten Schweif,
an einer Sonne entfalten, welche dort mäch-
tiger würkt, und jede Schönheit in völli-
gem Glanze zeigt, so vollenden sie gleich-
[Seite 38] sam die ganze Pracht dieser geschmückten
Scene.’

‘Dem belebten Theile der Schöpfung ent-
spricht in vielen ostindischen Reichen die An-
muth der Landschaft. Die hohen, steilen Ge-
birge und Klüfte sind mit Wäldern gekrönt,
und mit Wasserfällen von ungewöhnlicher
Form und Grösse geziert. Eine eigenthüm-
lich erhabene Schönheit herrscht besonders um
verschiedene natürliche Cascaden auf Celebes,
wovon Herr Loten Zeichnungen besizt. So
mächtig aber der Zauber dieses Welttheils ist,
so ists dennoch unmöglich dessen Schätze ru-
hig zu geniessen. Die brennende Hitze ver-
zehrt in einer Jahrszeit alles; unaufhörliche
Regenfluthen verunstalten alles in der an-
dern. Giftige Insekten ziehn in ganzen Wol-
ken, zur Plage herum; man lebt in steter
Besorgnis vor den fürchterlichen Sprüngen
des Tigers, und dem tödtlichen Visse der
Naja*). Es herrscht daselbst noch grössere
[Seite 39] Feindseeligkeit zwischen den Thieren als an-
derwärts; und die Vögel müsten eine unge-
wöhnliche List ersinnen, ihre Brut den Wür-
gern unzugangbar zu machen. Jeder sucht
diesen Endzweck auf eine eigne Art zu errei-
chen; bald hat das hangende Nest die Ge-
stalt eines langen Beutels, der oben oder an
der Seite offen ist; bald, wenns der Vogel
noch sorgfältiger zusammensetzt, ist die Oef-
nung ganz unten am Ende, und der Platz
der Jungen zuoberst angebracht.’

‘Allein der kleine Schneidervogel, den wir
hier beschreiben, scheint wohl vor allen das
größte Mistrauen zu hegen. Er wagt es
nicht, sein Nest an die äusserste Spitze eines
dünnen Aestchens zu weben, sondern thut
noch einen Schritt der Sicherheit näher, und
befestigt es an das Blat. Zu dem Ende lie-
set er ein erstorbenes Blat auf, und nähet
es an ein frisches, welches mit seinem Sten-
gel noch am Baume sizt. Der kleine dünne
Schnabel ist bey dieser Arbeit die Nähnadel,
und einige sehr zarte Fäserchen der Zwirn.
Das Nest ist mit Federn, Daunen, und der
[Seite 40] feinsten Pflanzenwolle ausgefüllt. Die Eyer
sind weis. Die Farbe des Vogels, der zum
Grasmückengeschlecht (Motacilla) gehört, ist
hellgelb, und seine Länge beträgt drey Zoll.
Kaum wiegt er neunzig Gran. Seine ge-
ringe Maße, nebst den Materialien woraus
das Nest besteht, sind folglich viel zu leicht,
um diese Wohnung, so los sie immer hängt,
herunter zu reissen.„’

Ein solches Nest wird im Brittischen Mu-
seum aufbewahrt. In China giebts auch der-
gleichen Schneidervögel, wovon Hr. Martinet
im Catechismus der Natur, 2ten Th. etwas
erwähnt.

[Seite 134] [Seite 135] [Seite 136]
Notes
*).
[Seite 38]

Eine Schlange, die auch Cobra de Ca-
pello
heißt.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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