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Des Herrn von Hallers
Tagebuch
der
medicinischen Litteratur
der Jahre 1745. bis 1774.

Gesammelt, herausgegeben und mit verschiedenen Abhand-
lungen aus der Geschichte und Litteratur der
Medicin begleitet
von
Dr. J.J. Römer und Dr. P. Usteri.

Ersten Bandes zweyter Theil.


Bern, bey Emanuel Haller,
1790
.

[[III]]
xxx

Montags den 5ten Januar A°. 1665
ward in Paris ruë St. Jacques à l’ange gar-
dien
das erste Stük des journal des Savans
ausgegeben; und man darf wohl sagen,
daß seit Erfindung der Buchdruckerkunst
selbst, in den Annalen der Gelehrsamkeit
kein Tag merkwürdiger genannt werden
kann als jener, da der Parlementsrath
de Sallo durch die erste gelehrte Zeitung
der Welt ein Beyspiel gab, das für den
ganzen Geist der Wissenschaften und den
Gang der Litteratur, und selbst für den Ge-
schmak ganzer Nationen die unübersehlich
größten Folgen gehabt hat.

[Seite IV]

Unläugbar hat von der eine Seite die
Fluth von gelehrten Zeitungen, Biblio-
theken etc. womit seit jenem unvergeßlichen
Tag Europa überschwemmt worden, und
die Leichtigkeit womit sich allerhand ober-
flächliche Kenntnisse daraus abschöpfen las-
sen, den tiefen und gründlichen Studien
im ganzen eben so sehr geschadet, als der
parteiische, oder seichte, oder gar scurrili-
sche Ton in manchen derselben, der Wahr-
heit und dem guten Geschmak nachtheilig
worden ist. – Aber wie unendlich sind da-
gegen auch die Vortheile, die dieses grosse
litterarische Hülfsmittel gewährt hat. Tau-
send nützliche Kenntnisse, die sonst im en-
gen Kreis der Gelehrten von Profeßion ein-
geschränkt gewesen, und die vielleicht auch
selbst da als todtes Capital geblieben wä-
ren, sich wenig oder nicht verintreßirt ha-
ben würden etc. sind nun durch diesen Weg
in allgemeinen Umlauf gebracht, allgemein
verbreitet, nutzbar worden. Die Ueber-
sicht des Steigens und Fallens der Wissen-
schaften überhaupt, des neuen Zuwachses
[Seite V] in jedem Fach insbesondre, wie sehr wird
die nicht dadurch erleichtert, da sie ohne
dieses Hülfsmittel, zumal in unsern Tagen
wo der Leipziger Meß-Catalogus biswei-
len zu einem Alphabet und drüber ange-
schwollen ist, einem nur irgend sonst be-
schäftigten Gelehrten, so gern er auch mit
seiner Wissenschaft fortgehen möchte, un-
möglich fallen würde.

Diese und viele andere wichtige Vor-
theile leisten die gelehrten Zeitungen schon
als Recensionen betrachtet; aber sie können
einen noch ungleich ausgedehntern und blei-
bendern Werth haben, wenn sie von Män-
nern abgefaßt sind, die des beurtheilten
Gegenstandes Meister sind; so sind (wie
Herr Hofr. Heyne in der Vorrede zum
allgemeinen Register über die Göttingi-
schen gelehrten Anzeigen sagt) die Resul-
tate dessen was sie dabey gedacht haben,
oft mehr wehrt als das ganze Buch. Und
gerade dies ist die Seite von der manche
Journale noch lange nicht genug benuzt
[Seite VI] worden; da man sie meist bloß als Zeit-
schrift ansieht, und so vielleicht manches
gute Saamenkorn das ein heller recensiren-
der Kopf beyläufig darinn ausgestreut hat,
vielleicht gerade bey den damaligen Lesern
nicht den fruchtbaren Boden getroffen hat,
den es vielleicht lange nachher bey einem
andern der so einen Journal-Band mit
Musse und Nachdenken zur Hand nimmt,
finden würde.

Zu den Journalen die solcher Körner
noch die Fülle enthalten, gehören vorzüg-
lich auch die Göttingischen gelehrten An-
zeigen, und in denselben namentlich die
unzähligen darinn befindlichen Recensio-
nen aus der Feder des grossen Hallers.

Man kann kein vollkommneres Ideal
einer lehrreichen, für Wahrheit und Wis-
senschaften wohlthätigen gelehrten Zeitung
denken, als das ist das Herr von Haller
in der berühmten Vorrede zum Jahrgang
1747 der gedachten Anzeigen, da er die
[Seite VII] Direction derselben übernahm, gegeben
hat. Aber man kann auch schwerlich ei-
nen Gelehrten nennen, der als Recensent
dieses grosse Ideal glücklicher erreicht hätte,
als Er selbst!

Seine unermeßliche Gelehrsamkeit ver-
bunden mit einer fast beyspiellosen Stärke
des Gedächtnisses, machte daß ihm beym
Durchlesen der neuen Bücher immer das
eigenthümliche Neue auffallen mußte, das
er dann von dem gemein bekannten aus-
hob und in der ihm so ganz eigenen gedrun-
genen und doch so reichhaltigen Kürze oft
in wenigen Zeilen alles zusammenfaßt was
in einem vielleicht voluminosen Werke we-
sentlich eignes enthalten war. Dann aber
auch aus dem unsäglichen Reichthum sei-
ner eignen Kenntnisse unzählige Bemer-
kungen, Reflexionen, Winke etc. einschal-
tete, die gerade seine Recensionen, und die
Zeitungsblätter worinn sie enthalten sind,
zu einer noch lange nicht genug bekannten
und genuzten Fundgrube machen.

[Seite VIII]

Vielleicht ist es nicht zu viel gesagt,
wenn man Hallers Recensenten-Arbeiten
zu seinen wichtigsten und größten Verdien-
sten zählt, die ihm doch, so sehr auch seine
Urtheile bleibendes Muster von Billigkeit
und Würde sind –, wie er selbst klagt,
am wenigsten verdankt, vielmehr mit vie-
len Unannehmlichkeiten vergolten worden.

Bekanntlich hat Hr. von Haller die
Hauptschiksale seines eigenen Lebens unter
der Maske des Oel-fu im Usong beschrie-
ben. Hier sagt Oel-fu Haller von sei-
nem Ruf nach Göttingen:

‘„Endlich wurde in einer von meiner
Vaterstadt entlegnen Provinz eine Man-
darinstelle in den Wissenschaften ledig:
ich kannte niemand daselbst, und wurde
berufen. – – Man gab mir das Amt
eines Richters der Bücher: ich mußte
sie lesen, in einen Auszug bringen, und
mit einem Zeichen unterscheiden, ob ich
die Schriften gut hieß. Ich zog einen
[Seite IX] blauen Kreis um den Namen des Ver-
fassers, wenn sein Werk mir misfiel,
und die Billigung drukte ich mit einem
rothen Kreise aus.”’

‘„Ich that nach meiner besten Ein-
sicht, ich sparte dennoch aus Menschen-
freundschaft meinen blauen Pinsel, und
brauchte immer mehr roth, als ich nach
der Strenge hätte thun sollen. Dennoch
wurde es bekannt, daß ich der Bücher-
richter war, und alle Gelehrte verschwu-
ren sich wider mich; ich wurde mit Ver-
theidigungen, mit Widerlegungen, und
mit Spottschriften umringt und fast un-
terdrükt etc. etc.”’

Um so wünschenswerther ist es daher,
daß jener gute, in Hallers Recensionen
noch so reichlich enthaltene Saame, dessen
Aussaat ihm damals so theuer zu stehen
gekommen, dafür auch noch in der Zu-
kunft immer mehr reiche und vielfache
Frucht bringe, und man wird daher hof-
[Seite X] fentlich das ausnehmend verdienstvolle der
Arbeit erkennen, der sich die Herren Her-
ausgeber des gegenwärtigen Tagebuchs,
durch die Auswahl der reichhaltigen medi-
cinischen Anzeigen des unsterblichen Man-
nes aus dem gedachten Göttingischen Jour-
nal unterzogen haben: ein Unternehmen
das der gelehrten Welt nicht nur Ueber-
sicht und Kern und Mark von allem ver-
spricht, was in jenem grossen Zeitraum
von 1745–74 wichtiges und neues in der
ganzen Arzneywissenschaft geliefert worden,
sondern auch unzählige äusserst intressante
beyläufige Anmerkungen des um die Wahr-
heit und die Wissenschaften überhaupt, und
um die Arzneykunst und um Göttingen ins-
besondere so unendlich verdienten Hallers.

Göttingen, den 24sten Januar 1790.
Joh. Friedr. Blumenbach.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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