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Göttingische Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band,
auf das Jahr 1800.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

Göttingen.

[Seite 609]

Hr. Hofr. Blumenbach hat der königl. Societät
der Wiss. als Nachlese zu zweyen seiner in den Com-
mentationen befindlichen Abhandlungen (der de ni-
su formativo
und des Specim. physiologiae com-
paratae inter anim calidi sanguinis vivipara et
ovipara
) einige physiologische Bemerkungen über
ein äusserst sonderbares neu entdecktes Säugethier
aus Botanybay mitgetheilt, das er vom Hrn. Baro-
net Banks zum Geschenk erhalten, und dessen Vor-
stellung unter dem Nahmen des Schnabelthiers (Or-
nithorhynchus paradoxus
im . Heft der natur-
historischen Abbildungen, so wie die ausführlichere
Beschreibung im nächsten Stück von Hrn. Hofr.
Voigt’s neuem Magazin, erscheinen wird. Dieses
abenteuerliche Geschöpf, das in Menge in einem
Landsee jener Gegend des fünften Welttheils gefun-
den worden, ähnelt, den Kopf ausgenommen, im
übrigen Totalhabitus einer kleinen Fischotter; ist
[Seite 610] aber völlig zahnlos, und statt des Gebisses mit ei-
ner Art von flachem, breitem Entenschnabel versehen,
der, wie bey den Enten, mit einer nackten Haut über-
zogen, und der Rand des Unterschnabels auf beiden
Seiten auch eben so, wie bey diesen, sägeförmig
gezähnelt ist. Auf den ersten Blick scheint es recht
gemacht, um hie Bonnetische Vorstellung von Stu-
fenfolge in der Natur zu rechtfertigen: gibt doch
aber im Grunde vielmehr eine nicht unwichtige In-
stanz wider dieselbe ab. Denn auf jener (bloß
nach der äussern Bildung geordneten) einfachen Lei-
ter ist ja die Übergangssprosse von den Vögeln zu
den Quadrupeden schon durch die Fledermäuse be-
setzt; und doch können schwerlich zwey Gestalten
von Säugethieren gedacht werden, die auffallender
von einander verschieden wären (mithin in jener
Gradation weiter von einander abstehen müßten),
als die der Fledermäuse und des Schnabelthiers.

Ganz anders verhält es sich hingegen, wenn man,
so wie classische Naturforscher, und nahmentlich Hr.
Staatsrath Pallas und Hr. Prof. Hermann, längst
gethan haben, bey Bestimmung der Verwandtschaf-
ten u. Übergänge zwischen den verschiedentlich orga-
nisirten Körpern vorzüglichst auf die innere Öcono-
mie, auf die Physiologie der Functionen, Rücksicht
nimmt. – Da ist es lehrreich, zu sehen, wie die
Natur, um z.B. bey einzelnen Gattungen von Thie-
ren aus ganz diversen Classen gewisse ähnliche Zwecke
zu erreichen, auch ähnliche Mittel gebraucht; und
dem zufolge da, wo irgend eine einzelne Species der
Einen Classe eine gewisse besondere Function mit vie-
len Speciebus einer Andern gemein hat, jene dann
auch die gleichen dazu bestimmten besondern Organe
erhält, die sonst ihrer ganzen Classe nicht zukommen.
Also jenes paradoxe Säugethier auch den nähmlichen
Bau der weichen Theile an dem zum Tasten eingerich-
[Seite 611] teten, mit einem mächtigen Apparat von Nerven des
fünften Paares versehenen, Schnabel, wie die
Enten, weil beiderley, wenn gleich übrigens noch
so diverse, Geschöpfe ihr Futter auf eine ähnliche
Weise durchs Gefühl da aussondiren müssen, wo
ihnen weder Sehen noch Geruch dabey zu statten
kommen kann. Denn da der Hr. Hofr. die Schna-
belhaut des Ornithorhynchus in Wasser aufgeweicht
und abgelöset, so hat er die merkwürdige Verthei-
lung jener Nerven darin im Ganzen eben so gefun-
den, wie er sie im IX. B. der Commentationen am
Entenschnabel abgebildet und beschrieben.

So wie nun aber dieß dem teleologischen Prin-
cip in der Bildung der organisirten Körper aufs ge-
naueste entspricht, so ist zugleich anderseits an eben
diesem so anomalisch gebildeten Freßwerkzeuge der
eigentlich so genannte bloße Mechanismus der Na-
tur unverkennbar, da sie in gewissen Classen, zu-
mahl des Thierreichs, gleichsam ein allgemeines
Normal-Schema des Baues zum Grunde legt, und
dem zufolge wenigstens die Anlage zu Organen auch
bey solchen Gattungen anbringt, bey welchen sie nach
dem bloß teleologischen Princip sehr überflüssig schei-
nen (wie z.B. der Urachus der menschl. Leibesfrucht;
oder die ausser Verbindung mit dem Gerippe im
bloßen Fleische steckenden ossicula clavicularia man-
cher reissenden Thiere etc.). – Und so ist denn auch
die knöcherne Grundlage des Oberschnabels an dem
NeuholländischenThiere bey aller jener auffallenden
Ähnlichkeit mit der Enten ihrem, doch im Ganzen
eben so beschaffen, wie bey andern Säugethieren;
und hat namentlich auch zwey deutliche Schalt-
beine (ossa intermaxillaria), wenn gleich auch von
seltsam anomalischer Gestaltung, so daß sie vorne eine
breite Synchondrose zwischen sich lassen etc.

[Seite 612]

Und so dient dieses merkwürdige Thier zu einem
sprechenden Beyspiele des Bildungstriebes, d.h.
der Verbindung jener beiden Principien, des mecha-
nischen mit dem teleologischen, in der Erklärung
eines Naturzwecks als Naturproducts (wie sich Hr.
Kant in der Critik der Urtheilskraft ausdückt), so
wie in der Gründung einer den Phänomenen des
Zeugungsgeschäftes angemessenen Theorie desselben.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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