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Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band,
auf das Jahr 1804.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

Braunschweig.

[Seite 329]

Ueber Massen und Steine, die aus dem Monde
auf die Erde gefallen sind, von F.A. Freiherrn
von Ende, Oberappellationsrath in Celle.
90
Seiten in gr. Quart. Vieweg’s Verlag.

Noch ist es wohl sehr problematisch, welche von
beiden Schwachheiten des menschlichen Geistes, ob
Leichtglaubigkeit oder Unglaube, die Aufnahme und
den Fortgang der Naturkenntniß am meisten erschwert
und behindert hat. Beide empfehlen sich durch die
Bequemlichkeit, mit welcher sie ihre Anhänger der
Mühe des eigenen Prüfens und Forschens über-
heben; der Unglaube aber gewährt den Seini-
gen noch obendrein den Anschein von Aufgeklärt-
heit, und ist im Durchschnitt doch wohl von desto
größerem und bleibenderem Nachtheil für die Natur-
wissenschaften gewesen. Denn daß z.B. einst der
Leichtglaube im 16. und 17. Säculum eine Zeit lang
sich weiß machen ließ, daß mitunter den Kindern
auch Zähne von reinem Ducatengolde im Maule
wüchsen, das hat übrigens auf diese Wissenschaften so
[Seite 330] gut wie keinen nachtheiligen Einfluß gehabt. Daß
aber viele Denker im darauf folgenden aufgeklärten
Jahrhundert meinten, es schicke sich nicht für sie, den
ehrlichen Leuten zu glauben, die Steine vom Him-
mel hatten fallen sehen, das hat die Untersuchung
eines höchst interessanten Phänomens wenigstens
für lange Decennien verspätet. Denn wenn man
das in vorliegendem Werke S. 28 bis 75 enthal-
tene ansehnliche Verzeichniß von Steinregen und
vom Himmel gefallener Massen durchsieht, das sich
aus alten Chronisten und Topographen und Samm-
lern von Wunderzeichen etc. gelegentlich immer mehr
vergrößern wird: so begreift man kaum, wie die
Sache bey der Fülle von größten Theils so unbe-
fangenen Zeugnissen, nahmentlich über die auffallen-
de Uebereinstimmung der Umstände und der äussern
Aehnlichkeit der gefallenen Steine nicht schon vor-
längst die ernstere Untersuchung eines präjudizlosen
Naturforschers hat veranlassen müssen. – Da
endlich das Factum selbst sich nicht länger mit
Ehren wollte bezweifeln lassen, so galts nur Ver-
suche, es zu erklären, Hypothesen über die Ab-
stammung der gefallenen Massen. Unter diesen
hat bekanntlich die von dem Senateur La Place in
einem Briefe an den Freyherrn von Zach geäusserte
Vermuthung große Aufmerksamkeit erregt, ob sie
vielleicht aus dem Monde zu uns geschleudert seyn
könnten? Er schließt die dem Hrn. Obristen dar-
über mitgetheilten Ideen mit den Worten: ‘“La
petitesse de la masse de la Lune, et l’extreme
tenuité de son atmosphére (si elle en a une)
rendent la chose possible, et il serait assez
singulier, que nous communiquassions ainsi
avec ce satellite. C’est une conjecture que je
Vous propose, mais il convient avant que de
[Seite 331] l’admettre d’examiner les faits avec soin, et
toutes les autres Explanations que l’on peut
en donner
”’. Eine solche sorgfältige Prüfung der
Thatsachen und der Conjectur des Hrn. La Place,
verglichen mit andern Erklärungen des Phänomens,
so viel derselben bis zu Anfang vorigen Jahres be-
kannt waren, macht nun den Inhalt der interessan-
ten Schrift aus, die wir anzeigen. Ihr Verfasser
hat alle zu dieser Untersuchung erforderlichen Data
zusammengestellt, wie z.B. einerseits die Charakte-
ristik der gefallenen Massen, und die Umstände,
unter welchen sich ihr Fall ereignet; anderseits
die vulcanische Beschaffenheit der Mondsfläche, ver-
glichen mit den weit kleineren Vulcanen auf unse-
rer Erde und deren dennoch so gewaltigen bekann-
ten Kräften; so wie die Bedingungen, die nach
den Gesetzen per Mechanik angenommen werden
müssen, falls ein Körper von den ungeheuern Monds-
vulcanen auf die Erde geschleudert werden sollte etc.
und aus dieser Zusammenstellung und Vergleichung
zieht er den Schluß, daß die Vermuthung des Ver-
fassers der Mécanique céleste wenigstens größere
Wahrscheinlichkeit für sich habe, als eine der andern
Hypothesen, die zu Lösung des räthselhaften Prob-
lems bisher aufgestellt worden.

Die vom Himmel gefallenen Steine gleichen kei-
nem bis jetzt bekannten Fossil, und sind folglich
wohl gewiß nicht tellurischen Ursprunges. Aber die
Stoffe, die sie enthalten, finden sich (den gediege-
nen Nickel ausgenommen) allerdings auch, obschon
in andern Verhältnissen der Mischung und des Ge-
menges, in den Fossilien unserer Erde. Folglich
ist die Vermuthung wohl ganz natürlich, daß sie
doch von einem der Erde ähnlichen, ihr gleichsam
nahe verwandten, Planeten abstammen mögen.
[Seite 332] Nun aber wissen wir von keinem nähern, als ihrem
Begleiter, dem Monde, und was uns die genaue-
sten Selenographen, vor allen aber Hr. Justizrath
Schröter, durch seine bewundernswerthen Beobach-
tungen von der Beschaffenheit desselben gelehrt,
das scheint die Vermuthung gar sehr zu begünsti-
gen, daß jene Steine von ihm ausgeschleudert seyn
möchten. Die eingetieften Krater, womit seine
Rinde wie durchwühlt ist, sein ganzer vulcanischer
Habitus, und die Art der Revolutionen, die sich
auf seiner Oberfläche noch jetzt zu Zeiten unter den
Augen der Beobachter ereignen, dieß alles spricht
dafür, daß die mächtig großen Mondsberge mit
ihren ungeheuern Schlünden erst durch eingeschlossene
Dämpfe aufgetrieben worden, und daß die Cata-
strophen, welche der Mond in seiner Rinde erlitten
hat, die auf unserer Erde eben so bey weitem über-
steigen, wie unsere Vulcane von der ungeheuern
Größe der auf dem Monde befindlichen bey weitem
übertroffen werden. Nun hierzu die Kleinheit die-
ses Weltkörpers, folglich seine geringe Schwerkraft
und seine ohnehin noch problematische, auf allen
Fall aber sehr dünne, Atmosphäre gerechnet, so
wird es durch alles dieß nur um so wahrscheinlicher,
daß die Massen quaest. durch die auf dem Monde
wenigstens fünf bis sechs Mahl stärkere vulcanische
Kraft wohl aus dem Anziehungskreise dieses klei-
nen Nebenplaneten herausgeschleudert werden kön-
nen, so daß sie nicht wieder auf ihn zurückfallen,
als wozu höchstens eine Geschwindigkeit von 8000
Fuß in der ersten Secunde erforderlich seyn würde.
Unter gewissen, freylich sehr bestimmten, Verhält-
nissen der Richtung u.a. Bedingungen könnten wohl
manche solche Massen, wenn sie gerade nach der
Erde zu geworfen würden, auch geradesweges in
[Seite 333] den Anziehungskreis derselben gelangen. Die übri-
gen hingegen, die nach andern Richtungen geschleu-
dert werden, müßten im weiten Weltraum herum-
kreisen. Aber auch von diesen könnten dann man-
che wieder mittelbar, durch Perturbation ihrer
Bahnen etc. als Fragment gesprengter Feuerkugeln
zu uns herabkommen. Denn auch von vielen die-
ser Meteore ist es dem Verf. nach Gründen, die
er angibt, wahrscheinlicher, ihren Ursprung in Ex-
plosionen anderer Planeten, als in einer zufälligen
Conglomeration im weiten Weltraume zu suchen.
Mit der gewiß seltenen Combination so mancher,
zur Ankunft solcher Massen erforderlichen, Bedin-
gungen reimt sich übrigens noch die Seltenheit des
Phänomens selbst (so wie sich aus dem gedachten
Unterschied, ob die Steine geradesweges aus dem
Monde, oder aber erst nach langem Herumkreisen
zu uns kommen, auch die Verschiedenheit derselben
in ihrem äussern Habitus erklären ließe, da z.B.
der berühmte Donnerstein von Ensisheim im Ober-
elsas, den anderwärts gefallenen, so viele dersel-
ben genau beschrieben worden, in diesem seinem
äussern Ansehen sehr unähnlich ist). – Und so
schließt denn der Verf., daß man diese Hypothese
wohl so lange für die wahrscheinlichste unter den
bisher aufgestellten zu halten habe, bis man eine
befriedigendere zu geben im Stande sey.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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