Table of contents

[titlePage_recto]
Göttingische
gelehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band
auf das Jahr 1820.

Göttingen,
gedruckt bey J.C. Baier.

Göttingen.

[Seite 561]

In der Versammlung der Königl. Societät der
Wissenschaften am 18ten März hielt der Oberme-
dicinalrath Blumenbach die Vorlesung

de animantium coloniis, siue sponte mi-
gratis, siue casu aut studio ab homini-
bus aliorsum translatis
.

Voran einiges über den zuerst von Kant recht
bestimmten Unterschied zwischen eigentlicher Na-
tur-Geschichte und bloßer Natur-Beschrei-
bung
; zwischen Physiogenie wie mach jene nach
ihm benannt hat, und Physiographie.

Wie schlechterdings unentbehrlich genaue und
deutliche Naturbeschreibung für solides Studium
der Naturkunde ist, dafür gibt schon die Ge-
schichte
der Naturhistorie den bündigsten Be-
leg. Wie manches in den Schriften der alten
Griechen und Römer, dieser trefflichen Beobachter
und Muster in der Kunst zu sehen, ist noch jetzt
dunkel und zweydeutig, bloß weil man bey der
Unbestimmtheit ihrer Terminologie und mangel-
haften Characteristik oft kaum nur ahnen kann,
wovon sie sprechen. Freylich waren ihnen bey
[Seite 562] dem beschränkten Umfange ihrer Kenntniß der
Naturgeschichte, als welche mit der Erweiterung
der Erdkunde gleichen Schritt hält, jene Hülfs-
mittel entbehrlicher als uns, wie jeder fühlt der
eine Karte vom sogenannten orbis vetus mit ei-
ner von den jetzt bekannten fünf Welttheilen, und
zugleich ein Namenregister der von jenen Griechen
und Römern genannten Thiere und Pflanzen mit
der Ausbeute unsrer exotischen Faunen und Flo-
ren vergleicht. Dazu kam, daß sie selbst von ih-
ren vaterländischen Naturproducten so vieles, wie
z.B. die sogenannten blutlosen Thiere nur we-
nig beachteten; und daß ihnen beym Mangel der
Microscope der ganze mundus invisibilis wie
ihn Linné nennt, unbekannt bleiben mußte.
So waren ihnen zur Bezeichnung jener nicht zahl-
reichen ihnen bekannten Naturproducte die gäng
und geben Trivialnamen derselben hinreichend, da
bey dem jetzigen Umfang und täglichen Zuwachs
der Wissenschaft genaue Naturbeschreibung in
scharfbestimmter Kunstsprache fürs Studium der
N.G. unentbehrliches Bedürfniß ist. Uebri-
gens ist aber dieses wichtige physiographische Hülfs-
mittel von der eigentlichen Natur-Geschichte
nicht minder verschieden, als etwa das musterhaf-
teste Signalement in einem Paß oder Steckbrief
vom Leben und Thaten des Bezeichneten. Und es
ist daher wundersam zu sehen, was sich manche
wackre Naturhistoriker für eine Vorstellung von
ihrem Studium machen konnten; wie z.B. der
übrigens hochverdiente Artedi, wenn er – ge-
rade in dem Theile seines Werks den er philo-
sophia
ichthyologica
nennt, – so höchst un-
philosophisch meint, das ausführliche Studium
der Lebensweise der Thiere, ihrer proprietatum
et qualitatum
, sey in der N.G. unnütz, ‘“qua-
tenus vera et naturalis methodus in dig-
noscendis Generibus et Speciebus rerum
[Seite 563] creatarum, unicus et praecipuus
(–
sic –) finis Historiae Naturalis sit.“’ Da
doch das, was schon das Wort Geschichte der
Natur ausdrückt, vorzüglich die Untersuchung der
Veränderungen, die diese im Laufe der Zeiten er-
fahren, und namentlich was der Mensch als Herr
der Erde dazu gewirkt, der Gegenstand ihrer For-
schung seyn muß. Denn, wie sich Büffon
ausdrückt: ‘“L’état dans lequel nous voyons
aujourdhui la Nature, est autant notre ou-

vrage que le sien.”’

Nun einen Beytrag zu dieser eigentlichen Na-
tur-Geschichte liefert die genannte Vorlesung,
aus welcher wir einiges vorläufig ausheben.

Versteht sich daß hier nicht von den jährlichen
bestimmten Wanderungen und Zügen von man-
cherley Gattungen von Thieren aus verschiedenen
Classen die Rede ist, sondern von außerordentli-
cher Emigration aus Einer Gegend und An-
siedelung
in einer andern: so wie nächstdem
von zufälliger oder absichtlicher Verpflanzung;
eine Untersuchung, die beyläufig auch manchen
Aufschluß über gelegentliche Verbreitung des
Menschengeschlechts, besonders die Bevölkerung
unwirthbarer Küsten und Inseln darbiethet.

Die Auswanderungen von Thieren sind am öf-
tersten bey gewissen Gattungen von Vögeln, Fi-
schen und Insecten bemerkt. So in hiesiger Ge-
gend die unerwartete Erscheinung der zahllosen
Menge von Schnee-Ammern im Winter 1766,
und hierauf von Schnee-Finken in dem des fol-
genden Jahres. – Die Heeres-Züge einer Art
von Wasserjungfern (Lib. depressa) wie sie
sich zu Zeiten in Schweden, Sibirien und na-
mentlich in einigen Jahren des vorigen und jetzi-
gen Sec. im mittlern Deutschland haben sehen
lassen. – Die Ursachen dieser Auszüge sind
schwer auszufinden. Zuweilen wohl Mangel an
[Seite 564] Nahrung, zuweilen aber auch gewaltsame Stöh-
rungen, wodurch die Thiere aus ihrem sonstigen
ruhigen Aufenthalte verscheucht worden. So hat
dem Verf. ein vormahliger Zuhörer und sehr ge-
nauer Beobachter, der Schwedische Major Pol-
let
, der dem Schwedisch-Russischen Seekriege
a. 1789 und 1790 beygewohnt, genau die Um-
stände angegeben, wie sich nach dem großen Tref-
fen vom 9ten und 10ten Jul. des letztern J. die
sonst im Finnischen Meerbusen so häufigen Hä-
ringe zum großen Nachtheile der dortigen Küsten-
bewohner fast gänzlich verlohren: was denn spä-
ter auch Buniva und Millin als Folge
des Canonendonners von andern wichtigen Fi-
schen im Mittländischen Meere-angemerkt haben.
So auch die Häringe von Kamtschatka nach dem
häufigen Erdbeben 1730 u. dergl. m., was aber
freylich auch gar mancherley andern Anlaß haben
kann, besonders bey dem eben genannten Fische,
dessen Emigrationen aus seiner sonstigen Heimath
man schon oft erfahren. Z.B. nach Peter von
Dusburg
als Augenzeugen a. 1313 von den
Preußischen Küsten (mithin dann gewiß ohne
Einwirkung des Schiespulvers).

Zunächst ging der Verf. zu den Erscheinungen
und Ursachen der Verbreitung der Thiere in frem-
de Gegenden über. Sie lassen sich unter zwey
Hauptclassen bringen: freywillige Ansiedelung;
und Verpflanzung. Die letztre wiederum
entweder zufällig (durch andre Thiere und
Menschen) oder aber durch Menschen absichtlich.

Der Grund der freywilligen Ansiedelung muß
wohl meist mit den angegebenen der Emigration
wie Wirkung und Ursache zusammenhängen.
Wenigstens paßt das auf die bleibende An-
kunft der Häringszüge an Küsten, denen sie vor-
her fremd waren. In andern Fällen mag beque-
mer Aufenthalt und reichliches Futter die neuen
[Seite 565] Colonisten gelockt haben. So im vorigen Jahr-
hundert die Hamster ins Wirtembergische, die
Graufinken nach Lothringen u. dergl. m. Ein
überaus merkwürdiges Beyspiel liefert die neuer-
liche Einnistelung vieler Tausende von Scharben
auf der Holsteinischen Insel Laaland. Dieser wi-
derwärtige verderbliche Vogel (– unter dessen
Gestalt Milton den Satan das Paradies re-
cognosciren läßt –) war vorher nicht auf jener
Insel gesehen, bis 1810 ein einziges Paar sich
da einfand und brütete, welchem aber in den
nächstfolgenden Jahren so viele andre nachfolg-
ten und sich so vermehrten, daß man im Früh-
jahr 16 ihre Zahl auf 20,000 schätzte: ohne daß
nur Eine derselben Selbst genistet hätte, son-
dern alle sichs dadurch bequem machten, daß sie
die Reiher, Raben und Krähen aus ihren Ne-
stern auf den dortigen hohen Buchen vertrieben.

Eben so hier nur einige Beyspiele statt vieler
von der andern Hauptart der Verbreitung der
Thiere, – durch Verpflanzung.

Erst wieder durch andre Thiere. So z.B. die
Bettwanze durch Schwalben u. dergl. – Was
die Baschkiren dem ältern Gmelin von der
Verpflanzung der Karauschen in ihre Seen durch
wilde Enten etc. versicherten, das hat der Verf.
hier zu Lande an befruchtetem Laich von Hechten
bestätigt gefunden, in Fischteichen, wo die uner-
wünschte Erscheinung der jungen Hechte an keine
andre Erklärung denken ließ.

Hauptsächlich aber durchs grenzenlose Verkehr
unter dem Menschengeschlechte selbst, theils zu-
fällig, theils absichtlich. So erzählt wenigstens
Montgon ganz umständlich, wie Kaiser Carl
V. aus Liebhaberey Raben und Krähen aus Flan-
dern habe nach Aranjuez verpflanzen lassen; – so
wie nach Olig. Jacobäus im vorletzten Jahr-
hundert sein verdienter Landsmann, der Hofmar-
[Seite 566] schall Pet. Oxe die Feuerkröte nach Däne-
mark. Doch bedarf es hier nur eines Blicks auf
die Umschaffung die einige wenige Europäische
Nationen seit Entdeckung der neuen Welt zwi-
schen ihr und der alten vorgenommen haben, da
z.B. kein Hausthier der letztern vorher als sol-
ches
und von der gleichen Gattung in America
einheimisch war. (– Gelegentlich ein paar Bey-
träge zur Geschichte der nach America verpflanz-
ten Hunde aus beiden Extremen jenes Erdtheils.
Der Neufundländer war nach Rich. Whit-
bourne
’s genauen Nachrichten vor 1622 noch
nicht auf dieser Insel einheimisch; und von den
Hunden auf dem Feuerlande versichert Don An-
tonio de Cordova
ausdrücklich ihre Europäi-
sche Abkunft. –)

Die vielfache Verpflanzung von Thieren, zu-
mahl durch Schifffahrt, Handel und Wandel,
und Krieg, und dann durch zufällige andre Ge-
legenheiten. So brachte ein Dänischer Guthsbe-
sitzer ein paar Steinmarder aus Pommern nach
der Insel Fünen, wo sich ihre verwilderte Nach-
kommenschaft zür großen Beschwerde der dasigen
Landwirthe zahlreich vermehrt hat. Dasselbe ist
jetzt der Fall mit den Racoons auf dem Bahami-
schen Providence Island, wo die durch Liebhaber
dahin gebrachten ersten Paare, sich eben so lästig
verbreitet haben. – So sind die freylich nutzba-
ren Weinbergsschnecken durch ein beym Trans-
port über den St. Gotthard verunglücktes Faß
voll derselben nun im Ursererthal einheimisch.

Besonders merkwürdig ist die weite Verbreitung
einer der furchtbarsten Hausplagen, mancher Gat-
tungen von Schaben. So kam z.B. die Blatta
americana
neuerlich zuerst mit Zuckerkisten
nach Jever. Die Bl. australasiae nach Th.
Bartholin schon im vorletzten Jahrhundert mit
Ostindischem Zucker nach Copenhagen. Die nun
[Seite 567] freylich in alle Welt verbreitete Bl. orientalis
im dreyßigjährigen Kriege erst durch die Heere in
manche Gegenden von Deutschland; wie z.B.
durch die Bayerschen ins Erzgebirge; und die in
Südindien einheimische, aber von Linné unbe-
greiflicherweise sogenannte Bl. germanica
durch die Französischen Kriegsvölker neuerlich nach
Preußen.

Bey Anlaß jenes Misgriffs im Linnéischen letzt-
genannten Trivialnamen zum Schluß noch einige
eben so auf irrige Abstammnng gegründete Be-
nennungen. – So nannten die Anglo-Ameri-
caner eine gerade zur Zeit der Revolution ihrem
Feldbau sehr furchtbar gewordene Schnake (– die
Tipula Destructor –) die so viel bekannt aus-
schließlich in ihren Provinzen einheimisch und nie
lebendig in Europa gesehen war, the Hessian
Fly
; und die Anhänger des Prätendenten be-
legten vor hundert Jahren aus gleicher Unkunde
die damahls aus Norwegen nach England ge-
brachte Wander-Ratte mit dem Namen von
Hanoverian Rat, zu einer Zeit wo dieses,
nun auch über einen großen Theil der Erde ver-
breitete Thier im ganzen nördlichen Deutschland
noch unbekannt war. – Aber auch über die Ab-
stammnng und Verpflanzung der Haus-Ratte ha-
ben sich manche Irrthümer lange in der N.G.
erhalten. Ursprünglich wild scheint sie sich wohl
eben so wenig als die Hausmaus, das Schaf und
das Meerschweinchen mehr zu finden. Linné’s
paradoxe Meinung, als ob sie erst aus Westin-
dien nach Europa verführt sey, fand selbst Pal-
las
deßhalb nicht unwahrscheinlich ‘“quod apud
antiquos, licet musculi frequens mentio,
nulla occurrat Ratti
.”’ Aber gerade dadurch
wird dieser Irrthum am kürzesten widerlegt, daß
die besten Historiker und Zoologen, die das nörd-
liche Europa im medium aevum gehabt hat, we-
[Seite 568] nigstens seit Silvester Giraldus im 12ten
Sec. von der Hausratte als einem von der Haus-
maus ganz verschiedenem Thiere, sprechen.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
This page is copyrighted