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Chirurgische
Bibliothek.

Des achten Bandes erstes Stück.


Göttingen,
gedruckt und verlegt bey J.C. Dieterich,
1785
.

XIII.
Medicinische Bemerkungen auf einer
Schweizerreise. Von dem Hrn. Prof.
Blumenbach, aus dessen Bibliothek.

[Seite 142]

Ich habe den vorjährigen Sommer auf einer
Schweizerreise zugebracht, und hoffe daß es den
Lesern mcht unangenehm seyn wird, hier zu Zeiten
einige der medicinischen Bemerkungen zu finden,
die ich während derselben beyläufig zu machen Ge-
legenheit gehabt.

Diesmal ein Wort von einigen in der Schweiz
einheimischen Krankheiten. – Und zwar zuerst
von den Ursachen der durchgehends in den Alpen,
besonders aber in den sogenannten kleinen Canto-
nen beym männlichen Geschlecht so ausnehmend
häufigen Brüchen*).

Ihre Menge läßt sich schon daraus schließen,
daß, wenigstens vor dem, die Schweiz das rechte
Ablager der umherziehenden Bruchschneider war,
die bekanntlich mit Extirpation des Testikels ope-
[Seite 143] rirten, so daß sich daher Hr. von Haller dieser
seiner verstümmelten Landsleute nebst den Hotten-
totten als einer wichtigen Instanz gegen die Büs-
fonischen molecules und moules interieurs be-
dient*). Auch hat man, da im lezten bürgerli-
chen Schweizerkriege a. 1712 nach der Schlacht bey
Vilmergen die Todten auf der Wahlstatt ausgezo-
gen worden, eine unglaubliche Menge derselben
gebrochen gefunden.

Am allerhäufigsten habe ich das Uebel im in-
nern Roden des Appenzellerlandes bemerkt; einem
der sonderbarsten, aber nicht sehr bekannten Schwei-
zerländer, das sowohl wegen des romantischen An-
sehns seiner Gegenden, die einem mit tausenden
von einzelnen Hütten übersäeten grünen Teppiche
gleichen, als wegen des ganz arcadischen Lebens
und des offenen Charakters und der Gasconischen
Lebhaftigkeit seiner Einwohner merkwürdig ist.

Und eben bey der einfachen Lebensart dieser
ehrlichen Aelpler lassen sich die Ursachen der bey
ihnen so häufigen Brüche desto leichter und sicherer
ausfinden: und wie ich, – besonders nach der
Vergleichung mit andern Cantonen – glaube,
vorzüglich auf folgende fünfe zurückbringen.

[Seite 144]

Die erste ist wohl das sehr gewaltsame Ringen
und Schwingen und Kämpfen u.a. dergl. insge-
mein so sehr gepriesene athletische Uebungen ihrer
Jugend von 10 bis 15 Jahren: wodurch freylich,
so wie durch die athletische Gymnastik der Alten,
der Körper stark und gelenk gemacht, aber auch
leicht durch den dabey unvermeidlichen heftigen
nixus oder einen zufälligen Stoß etc. in die Wei-
chen, ein Bruch veranlaßt werden kann: und wie
ich sicher weiß, bey den Appenzeller-Buben gar
oft veranlaßt wird.

Die zweyte ein andres eben so allgemeines aber
noch gefahrvolleres Wettspiel des erwachsenen
Mannsvolkes, wobey zwey Spiele der Alten, –
das Springen unter schweren Lasten, und die La-
cedemonische Discobolie – mit einander verbun-
den werden, nämlich das sogenannte Steinstoßen.
Diese Uebung besteht darin, daß sie schwere Steine,
theils von 80 und mehrern Pfunden in der aufge-
hobnen rechten Hand auf die rechte Achsel legen,
und dann mit einem plötzlichen Sprunge oder
Schwunge des Körpers so weit als möglich weg-
werfen.

3. Eben so gefährlich sind ihnen die eben so
gewaltsamen Efforts bey einigen ihrer Alpenarbei-
[Seite 145] ten, zumal aber beym Eintragen des Heues, da
sie wohl Bunde von 2 Centn. und drüber mit einer
gefährlichen Bewegung des Körpers sich aufladen
und forttragen. Sie binden nämlich den zusam-
mengelegten Haufen mit einem Stricke fest; legen
sich dann rücklings auf das Bund, fassen die En-
den des Striks über die Schultern, werfen die
Beine erst hoch in die Luft, und stürzen sich dann
sogleich vorwärts auf ihre Knie, so daß die ganze
Last Heu ihnen auf die Schultern und den Nacken
fällt, mit welcher sie dann aufstehen und fortlaufen.

Daß diese unnatürliche Leibesbewegung einen
Hauptanlaß zu den häufigen Brüchen der Appen-
zeller gebe, schließe ich unter andern auch daraus,
weil diese Schäden in Entlibuch, dessen Einwohner
übrigens in ihrem ganzen Naturell, Lebensart,
Arbeiten u.s.w. die größte Aehnlichkeit mit jenen
haben, doch ungleich seltner sind, wo man sich
zum Transport des Heues eines inventieusen leich-
ten kleinen Wagens mit zwey Räderchen bedient. –
Wie leicht aber schon durchs Kniefallen Leisten-
brüche entstehen können, beweißt das, jezt frey-
lich bey vielen Truppen schon abgeschafte seltsame
Manoeuvre des Niederfallens beym Chargiren, das
bey manchen Infanterieregimentern fast eben so
[Seite 146] viele Bruchbänder nöthig machte als bey denen
von der Cavallerie.

Viertens mag doch wohl sicher auch der lebens-
wierige und unaufhörliche Genuß der meist sehr
fetten Milchspeisen*), und der Molken statt des
Getränkes dazu, zu Brüchen disponiren, und ihre
Entstehung erleichtern. Eben auf den höhern
Appenzelleralpen findet man bey manchem Sen-
nen nichts anders zu essen, als alten Käse, als
Käse und frischen Käse statt Brod dazu; beson-
ders nemlich den sogenannten Fetzenzieger, eins
ihrer gewöhnlichsten Surrogate des Brods, da
nemlich große Klumpen von übrig gebliebenen Zie-
ger (Marten) in ein Tuch geschlagen, und über
dem Heerde geräuchert, und nachher so trocken
zum Käse gegessen werden. – Wahrscheinlich ist
auch die diaeta lactea der Holländer eine Haupt-
ursache der ebenfalls bey ihnen bekanntlich so häu-
figen Brüche.

[Seite 147]

Und was endlich, fünftens, jezt wenigstens,
wohl als die wichtigste causa praedisponens der
Brüche in der Schweiz angesehn werden muß, ist
die, durch alle vier vorhergehende Ursachen seit
langen Generationen präparirte erbliche Disposi-
tion, – von deren unläugbaren Zuverlässigkeit
und Einfluß ich täglich mehr überzeugt werde.
Hr. Hofr. Richter hat es in seinem Werke von den
Brüchen durch eigene ihm bekannte Bespiele be-
stätigt, daß Brüche selbst in einzelnen Familien
erblich werden können; wie viel mehr also in ei-
nem Lande, wo her Schade aus so mancherley und
tiefliegenden Ursachen gleichsam endemisch worden
ist. – Sind doch Gicht und Schwindsucht und
Gemüthskrankheiten und die rosenfarbnen Augen
der weissen Mohren erblich, so gut wie Familien-
wuchs und Familien-Physiognomie; und können
doch Künsteleyen am Körper, erzwungne Form der
Schedel, verkürzte Vorhaut und dergleichen end-
lich erblich werden; warum nicht auch solche Ge-
brechen? – Ich kenne einen Officier, dem in
seinen jüngern Jahren der kleine Finger der rechten
Hand zerhauen und krumm geheilt worden war;
und dessen Kinder beyden Geschlechts, den kleinen
Finger derselben Hand von Mutterleibe an eben-
falls krumm baden. – Und sicher werden andre
Fälle der Art nicht unerhört selten seyn; – und
[Seite 148] sie verdienten bekannter gemacht zu werben, da
sie manches Licht zur Aufhellung des Zeugungsge-
schäftes versprechen.

Die Behandlungsart der Brüche ist zwar jezt
auch in der Schweiz im ganzen genommen weit
Vernunft- und Kunst-mäßiger als vordem. Ich
habe selbst in den kleinen Cantonen ganz gute
Bruchbänder gesehen, und nur selten gehört, daß
Leute an den Folgen ihres Schadens gestorben wä-
ren. (– Vielleicht daß auch überhaupt Brüche
aus erblicher Erschlappung dem Einklemmen nicht
so leicht ausgesezt sind als andre. –) Allein es
ist vielleicht kein civilisirtes Land in der Welt, wo
doch die Medicinalverfassung, zumal auf dem
Lande, schlechter wäre als in der Schweiz. –
Eine unglückliche Folge der sonst so gepriesenen
Freyheit dieses glücklichen Landes. In Demokrati-
schen Cantonen ist ohnehin auf keinen Schatten ei-
ner medicinischen Policey zu rechnen: aber man
weiß aus Hrn. Hofr. Zimmermann’s Schriften,
aus Hrn. Chorh. Rhan’s medicin. Magaz. u. s w.
wie schwer es auch selbst in den aufgeklärtesten
Aristokratischen Cantonen hält, den Marktschrei-
enden und Landstreichenden Praktikern Einhalt zu
thun. – Ich habe selbst ihrer eine Schaar ken-
[Seite 149] nen gelernt, und ich weiß, daß in dem gleichen
Sommer, da ich in der Schweiz war, sich nur al-
lein in Luzern binnen 3 Monaten nicht weniger
als 18 solche Quacksalber eingefunden und eine
Zeitlang aufgehalten hatten. – Nun und da ist
denn begreiflich wie mancher Bruch auch durch
solches Gesindel verpfuscht werden muß*).


[[I]] [[II]]
Notes
*).
[Seite 142]

I.H. Freytag Diss. de oscheo – entero – et bubo-
nocele Heluetiae incolis frequentibus. Argent
. 1721.

*).
[Seite 143]

Oper. minor. T. III. pag. 183.

*).
[Seite 146]

Ueber die bewundernswürdige Mannigfaltigkeit der-
selben s. des seligen Prof. Schinder systematische
Darstellung der Schweizerischen Milchspeisen; im
Schweizerischen Museum; 2 Jahrg. 2 St. 1784.
S. 133 u.s.w. – und schon des würdigen Conr.
Gesner libellus de lacte et operibus lactariis. Ti-
gur
. 1541. 8.

*).
[Seite 149]

S. Hrn. Chorh. Rhan’s Magaz. 1 Jahrg. 6 Stück
S. 623. u.f.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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