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Göttingisches
Magazin
der
Wissenschaften und Litteratur.
Herausgegeben
von
Georg Christoph Lichtenberg
und Georg Forster
.

Zweyten Jahrgangs fünftes Stück.


Göttingen,
bei Johann Christian Dieterich,
1782
.
[[I]]

V.
Einige zerstreute Bemerkungen über die
Fähigkeiten und Sitten der Wilden, von
Prof. Blumenbach.

[Seite 409]

Vor einiger Zeit erhielt ich aus einer gothaischen
Auction die manuscripte Reisebeschreibung eines
gewissen Caspar Schmalkalden, nachherigen gothai-
schen Canzellisten, der 1642, in holländischen Diensten
nach Brasilien gegangen war, und im folgenden Jahr
der merkwürdigen Expedition des Admiral Heinr. Brou-
[Seite 410] wer*) nach Chili, um dort, wo möglich die Spanier
auszustechen, beygewohnt hatte. Sie waren dabey we-
der durch Magalhaens Meerenge, noch durch le Maires
Strasse, sondern um Staatenland herum gesegelt, hat-
ten an dessen Ostküste gelandet, und dieß ist also die
seitdem so oft fälschlich sogenannte Brouwers-Strasse,
die auch den Präsid. de Brosse und viele andere
Geschicht- und Erdbeschreiber verführt hat

Caspar Schmalkalden hat auf diesen Reisen viele
genaue und vollständige Nachrichten zur Menschen- und
übrigen Naturgeschichte von Brasilien und Chili ge-
sammlet, hat Landcharten und Risse dasiger Gegenden
aufgenommen, allerhand Nationen, Thiere etc. mit le-
bendigen Farben abgemahlt u.s.w. und vorzüglich viel
von einem bekehrten Brasilianer der Schulmeister wor-
den, und bey welchem er im Quartier gelegen, und
dann von einem andern Deutschen, Nahmens Joh. Rab,
[Seite 411] der 4 Jahr lang als Dolmetscher unter den Tapuyern
gelebt, und alles ihm merkwürdige aufgeschrieben, er-
fahren: daher diese Handschrift viele nicht gemeine Beob-
achtungen enthält, deren einige den Anlaß zu den folgen-
den Blättern gegeben haben.

* * *

Bekanntlich haben sich einige Sophisten unter an-
dern Gründen, womit sie die Würde und die Vorzüge
der Menschheit zu bestreiten gesucht, auch unter andern
darauf bezogen, daß es noch jezt ganze Völker von so
äusserst eingeschränkten Geisteskräften gäbe, daß man
manchen Thieren hierinn den Vorzug vor ihnen zuge-
stehen müsse. Und in der That fällt es auf, wenn man
bey Montaigne liest, daß er Ochsen gesehen, die bis
auf hundert zälen konnten, und bey Hrn. von Conda-
mine
, daß ein Volk am Amazonenflusse (die Yameos)
nicht über drey zälen kan. Allein das auffallende des
ersten Blicks verliert sich auch hier gar sehr bey einer
nähern präjudizlosen Beleuchtung. Die Ochsen nemlich,
die Montaigne auf seinen Reisen in den königlichen
Gärten zu Susa gesehen, und die immer richtig ihre
hundert Touren im Brunnenrad machten, keinen mehr
keinen weniger – die zählten nicht – sie fühlten
[Seite 412] wol wenn der Eimer oben war, und hielten dann stille.
Und was hingegen die Yameos betrifft – so liesse sich
vielleicht an der ganzen Erzählung erst noch etwas rabat-
tiren, wenigstens Hrn. Condaminens Zusatz: ‘„die bra-
silische Sprache, welche doch nicht von so rohen Völ-
kern geredet werde, sey eben so arm, und wenn sie
über drey zälen wolten, müßten sie ihre Zuflucht zum
Portugisischen nehmen„’ – dieser Zusatz wenigstens
scheint unrichtig, da nicht C. Schmalkalden allein, son-
dern viele andere Reisende, die Brasilien 200 Jahre
früher als Hr. C. besucht, einstimmig sagen, daß des-
sen wilde Einwohner bis auf fünfe zälen können.
Doch dem sey wie ihm wolle: die Sache selbst gern
zugegeben – um so mehr, da man sie auch von meh-
rern wilden – zumal amerikanischen Völkern ange-
merkt hat, so bleibt doch der Schluß zu voreilig, den
viele Männer, unter andern auch der würdige Rousseau
von dieser scheinbaren Armuth der Sprache der Wil-
den auf die vermeinte Eingeschränktheit ihrer Geistes-
kräfte gezogen haben. Denn erstens läßt sich schon das
antworten, was auch der ehrliche Begert bey seinen
Californiern anmerkt, die auch nicht über 6, und theils
nur bis 3 zälen können: diese Wilden haben nichts zu
[Seite 413] zälen – am wenigsten grosse Summen – wozu soll-
ten sie sich also Worte für viele, ihnen unbrauchbare
Zalen ersinnen? aber zweytens will auch, (nach dem
ausdrücklichen Zusatz der aufrichtigsten, wenigstens nicht
nach blendenden Paradoxen haschenden Reisebeschreiber)
das Zälen der Wilden bis 3, bis 5 etc. nichts anders
sagen, als daß ihre Cardinalzalen nur so weit reichen,
(ohngefähr so wie ein Wilder von den Europäern sa-
gen könnte, sie zälten nur bis 10) und daß sie für hö-
here folgende Zahlen keine besondere Worte brauchen.
Kommt hingegen der Fall einmal, daß ein Kamtscha-
dale, Grönländer, Brasilianer etc. doch eine grössere
Zahl andeuten will, so hilft er sich zuerst mit seinen
20 Fingern und Fuszehen; und sind die noch nicht zu-
reichend, mit einer Art von Zahlpfennigen, womit er
sehr grosse Zalen genau bestimmen, und ein andrer
Wilder richtig begreifen kan. So sagt C. Schmalkal-
den
von den Brasilianern, daß sie auf die Art Calen-
der und Zeitrechnung, das Alter ihrer Kinder und merk-
würdiger Begebenheiten etc. mit ihren Castanien von
den Acajou-Aepfeln (Anacardium occidentale) anzugeben
wissen, die sie alle, bey 5 und 5, genau vorzurechnen
im Stande sind. So erzält der Freybeuter Wafer, daß
[Seite 414] als er im Begriff gewesen mit Cptn. Sharp 336 Mann
stark von Darien nach der Südsee abzugehn, und die
Darischen Indianer gern ihre Anzal wissen wollen,
so hätte sich bey der Musterung ein Wilder hinter eine
Hecke versteckt, hätte für jeden Mann ein Maizkorn ich
ein Körbchen geworfen, und diese 336 Körner nachher
seinen Landsleuten gebracht. Und so versichert H. Span-
genberg
*) daß, als er mit seinen Brüdern in Onondago
angekommen und den dasigen Sachems oder Häuptern der
fünf Nationen die Corallenschnur vorgezeigt, die sie lange
vorher einmal dem Grafen Zinzendorf bey seiner dortigen
Anwesenheit zum Friedenszeichen mitgegeben, sie dieselbe
sogleich erkannt, aber die daran befindlichen 186 Coral-
len nachgezält und genau gewußt, wie viel ihrer daran
gewesen wären.

Ein andres Argument, dessen sich manche Anthropolo-
gen zum vermeinten Erweis der thierischen Roheit man-
cher Wilden bedient haben, ist auf die Erzählungen von
Völkern, die den Gebrauch des Feuers nicht gekannt, ge-
gründet. Um doch die data hierüber zu vergleichen etc.
schlug ich den Goguet nach; war aber fast betreten, als
ich da eine Spanne lang Noten, Citat an Citat
[Seite 415] sah, die alle zum Erweis jener Behauptung dienen soll-
ten. Doch ich fand bald, daß auch hier die Sagen gar
sehr aufs ungewisse und gröstentheils gar aufs offenbar
unrichtige hinausliefen. So z.E. die Erzählung des
Vitruvs von Erfindung des Feuers (auf die doch wer
weis wie oft provocirt worden ist), wie einmal beym
Sturmwind die Aeste an Bäumen so stark wären an ein-
ander geblasen worden, daß sie darüber Feuer gefangen
u.s.w. Das Histörgen hat mich immer an die alte fran-
zösische Zeitungsnachricht von den Canonen erinnert, die
bey heissem Wetter für grosser Hitze von selbst gelöst wä-
ren; und paßt übrigens recht gut zu andern eben so scharf-
sinnigen Traditionen der lieben Alten über die Erfindung
der Künste, daß z.E. die Menschen das Häuserbauen
von der Fensterschwalbe, das Schiffen vom Nautilus ab-
gesehen hätten etc.

Unter der ansehnlichen Schaar der neuern Gewährs-
leute bey Goguet, haben die mehresten einander nachge-
schrieben, oder nur wie vom Hörensagen ganz unbestimmt
das Vorgeben berührt. Nur den ehrw. Vater le Go-
bien von der Ges. Jesu ausgenommen, der in seiner Be-
kehrungsgeschichte der Marianen die ganze Sache mit
einer Umständlichkeit erzählt, die fast keinem weitern Zwei-
[Seite 416] fel Raum zu lassen scheint. Er sagt nemlich: ‘„den Ein-
wohnern der Diebsinseln sey das Feuer vor Ankunft der
Europäer gänzlich unbekannt gewesen, sie hätten weder
seine Eigenschaften noch seinen Gebrauch gekannt, und
nichts habe dem Erstaunen geglichen, mit welchem sie es
zum erstenmale bey Magalhaens Landung auf einer ihrer
Inseln gesehn, wo dieser ein fünfzig ihrer Häuser zur
Strafe für ihre ihm verursachten Beschwerden verbrannt
habe. Sie hätten das Feuer anfänglich für eine Art von
Thier gehalten, das übers Holz herfiele und sich davon
nährte. Die ersten Wilden, die sich hinzu gemacht und
sich daran verbrannt, hätten die andern gewarnt, und es
nachher nicht anders als von der Ferne anzusehn gewagt,
um wie sie gesagt für dem Beissen und für der heftigen
Respiration dieses Thiers sicher zu seyn, bis sie sich all-
gemach daran gewöhnt es zu sehen und sich seiner so
wie wir zu bedienen„’ u.s.w.

So artig aber das alles klingt, so verwundert war
ich, da ich die Quellen aus welchen Pater Tobien, der
fast 200 J. nach Entdeckung dieser Inseln geschrieben, ge-
schöpft haben konnte, selbst besuchte; und von der ganzen
umständlichen Feuergeschichte kein Wort – sondern viel-
mehr soviel fand, daß sie wohl sicher erdichtet seyn müßte.
[Seite 417] Denn nach der Nachricht die Anton Pigafetta – Ma-
galhaens Gefährte – und Augenzeuge von jener Ex-
pedition, davon giebt, war Magalhaens gleich bey seiner
Ankunft in diese Gegenden über die Diebereien dieser In-
sulaner, die ihn an einer förmlichen langgewünschten Lan-
dung und Erholung hinderten, so aufgebracht, daß er
mit 40 Soldaten ans Land stieg, 40 bis 50 ihrer Hütten
und viele Boote verbrannte, auch 7 Wilde tödtete, ein
ihm von ihnen entwendetes Boot wieder wegnahm, und
eilig wieder zu Schiffe gieng und seine Fahrt weiter ver-
folgte,*) folglich wol schwerlich Zeit gehabt hat, diese
vom Hrn. Pater referirte Reflexionen der Insulaner
über das beisige Thier zu erfahren. Aber man braucht
sich überhaupt blos an die Lage der Ladronen; an die
Verwandtschaft der dasigen Landessprache und Sitten mit
den benachbarten etc. zu erinnern, und hierzu die Unent-
behrlichkeit des Feuers, (nicht blos zum wärmen, braten,
backen, kochen, oder statt Handwerksgeräthe zu Ver-
fertigung der Bote etc. sondern vorzüglichst auch zum
Verscheuchen der lichtscheuen Raubthiere und zu so viel-
fachen andern Gebrauch) und die Leichtigkeit mit welcher
[Seite 418] die Wilden aller Welttheile Feuer zu machen wissen,
zu summiren, um über so eine Gobiensche Erzälung lä-
cheln zu können.

Doch ich komme wieder auf den alten Canzellist
Schmalkalden zurück, der bey Beschreibung der Sitten der
beiden Südamerikanischen Nationen die er besucht, (der
Brasilianer und Chilier) auch ausdrücklich versichert, daß
sie allerdings von Natur Bart kriegen, ihn aber nicht
dulden, sondern sich ausraufen, und besonders bey
den Chiliern umständlich beschreibt wie sie es mittelst
einigen scharfen Muscheln zu thun pflegen, die sie zu
dieser Absicht am Halse tragen. Ich habe schon vor
mehrern Jahren ähnliche Zeugnisse gegen die vermeynte
allgemeine Barthlosigkeit der Amerikaner aufgestellt,
und nachher bey den Untersuchungen über den Bildungs-
trieb im Zeugungsgeschäfte aus der Vergleichung mit
andern erblich gewordenen Künsteleyen an Bildung des
menschlichen Körpers das würklich versicherte Ausbleiben
des Bartes bey einigen Westindischen Völkerschaften zu
erklären gesucht: da ich aber demohngeachtet noch zu-
weilen die Amerikaner als von Natur unbärtig geschil-
dert finde, so habe ichs der Mühe werth gehalten in den
Reisebeschreibungen die mir seit der Zeit beyläufig zu
[Seite 419] Handen gekommen die gegenseitigen Zeugnisse zu samm-
len, und hoffe, daß es den Lesern angenehm seyn soll,
die Anzeige dieser Stellen hier beysammmen zu finden.
Und zwar erstens, daß es von Labrador bis nunter zum
Feuerlande noch jetzt genug Amerikanische Völker giebt,
die sich den Bart wachsen lassen
. Von den Eskimos
versichert dieß Charlevoix Th. III. S. 179.*) und ich finde es
durch die gemalten Abbildungen dreyer Eskimos bestä-
tigt, die ich von der kunstreichen Hand des Herrnhuti-
schen Mignaturmalers Joh. Swertner, vor mir habe.
Der classische Naturforscher von Westindien, Oviedo,
sagt (beym Ramusio Th. III. S. 46. und 54. der
Ausg. v. 1565) daß man auf Hispaniola sowol, als
auf dem festen Lande, noch zuweilen bärtige Indianer
finde. Die Guanos und Othomaken in Guiana, ha-
ben nach Hartsinks Bericht (Th. 1. S. 5. u. 9.)
lange röthlichte Bärte. Viele Brasilianer einen schwar-
zen Bart, (Marcgrav S. 269.). Daß die Patagonen
bärtig sind, sagt Linschoten, in den Anm. zu seiner Ueberse-
tzung des Acosta S. 46, auch Bougainville S. 129. Und
[Seite 420] bärtige Feuerländer hat Sidney Parkinson auf der 1ten
Tafel seines Tagebuchs abgebildet. Zweytens aber das
ausraufen des Bartes versichern: von den Grönländern
Cranz S. 179. Jac. Adair der 40 Jahr lang im Engli-
schen America gelebt hat, von den dasigen Indianern
überhaupt
S. 6. beschreibt umständlichst die Werkzeuge
womit sie ihren Bart auswurzeln. Eben das bestätigt Car-
ver S. 224. Von den Wilden in Carolina und Florida
sagts Catesby im Anhang zu seinen großen Werk S. VIII.
Von den Cumanern Gonzales Davila (in. v.d. Aa Samml.
Th. IV. S. 191. der Folio Ausg.) Von den Caraiben
und andern Westindiern
Oldendorp S. 22. Von den
Apalachiten, Rochefort, S. 389. und 439. Von den Bra-
silianern
, Lery, S. 96. Von den Guianern, Barrere,
S. 96. (in der Göttingischen Samml.) und Hartsink S. 9.
und 11.

Der Grund dieser Sitte kan theils wol in der be-
schwerlich heißen Witterung, derentwegen auch die Ju-
den in Westindien sich den Bart nicht wachsen lassen;
theils auch in einer Art von Coketterie und Neigung zum
Putz liegen. Denn so ungezweifelt es auch ist, daß viele
Zierrathen den Wilden blos dazu dienen sollen, ihnen ein
desto furchtbarers kriegerisches Ansehen zu geben, so we-
[Seite 421] nig ist doch andernseits in vielen dieser Künsteleyen die
Absicht des Putzes zu verkennen. Der Wunsch zu gefallen,
ist wol sicher zu allgemein, als daß man bey irgend einem
Volke unter der Sonne keine Art irgend eines Putzes und
keine Complimenten finden sollte. Es verräth wenige
Menschenkenntniß, wenn man sich gegen die Deutschen
den Vorwurf erlaubt hat, daß sie viel Complimente
machten. Der Lohensteinische Gesellschaftston des vorigen
Jahrhunderts bleibt doch immer noch naive bündige Kürze
in Vergleich gegen die Conversation der Chinesen, der so
gepriesnen Persianer u.s.w. Man hat sehr oft aber sehr
unrecht, die Neger als Muster menschlicher Dummheit
und Ungeschliffenheit aufgestellt; – ich habe englische
und lateinische Gedichte von Negern gelesen, deren sich
wenige Europäische Dichter geschämt haben dürften, und
die besten Reisebeschreiber*) gestehen einmüthig diesen
schwarzen Völkern nicht blos lebhafte Phantasie, sehr
starke Memorie, sondern auch schnelle Urtheilskraft und
überhaupt sehr viel Fähigkeiten zu. Und von ihrer Höf-
lichkeit, ihren Complimenten, die sie, versteht sich, unter
[Seite 422] sich gebrauchen, hat Barbot u.a. umständliche Nachricht
gegeben. Nur ein Beweis, daß alle vermeinte Steifig-
keit der Europäischen ceremonieusen Etikette von vieler
wilden Völker ihrer noch weit übertroffen wird: Capt.
Matlin hatte bey seinen Streifereyen auf der Südsee A.
1681. an Juan Fernandez gelandet, ward aber bald dar-
auf Spanische Schiffe in der Ferne gewahr, machte sich
also mit seinem Volke geschwind wider an Bord, wobey
aber ein westindischer Moskite, der sich auf der Jagd ins
Gehölz verlaufen hatte, in der Eile zurück gelassen wer-
den mußte. Dieser blieb also, wie nachher Robinson-Sel-
kirk, drey Jahre lang bis A. 84. da Dampier da landete,
allein auf dieser Insel. Der erste der von Dampiers Leu-
ten ans Land stieg und ihn fand, war ein Landsmann von
ihm – auch ein Moskite. Wer dieß zum erstenmal liest,
wird vielleicht erwarten, daß die beiden Naturmenschen
einander in die Arme geflogen seyn werden? – Nicht
so geschwind, sondern, so wie sie einander ansichtig
wurden, gings an ein wechselweises verbeugen, proster-
niren, complimentiren etc. bis sie unter diesen Ceremo-
nien einander nahten, und sich dann erst herzlich um-
armten.

[Seite 423]

Unter andern Tugenden die C. Schmalkalden an
seinen wilden Brasilianern rühmt, ist auch ihre Ent-
haltsamkeit: daß z.B. die Weiber so lang sie guter
Hoffnung sind, auch theils so lang sie ihr Kind stillen,
sich des vertrauten Umgangs mit ihren Gatten enthalten.
Diese Art von Enthaltsamkeit war einer der Gründe,
deren sich weiland Mich Lyser, zum Erweis der Recht-
mässigkeit der Polygamie bediente. Denn dieser wunder-
bare Mann, (der, seinem Körperbau nach zu urtheilen,
bey weiten nicht einmal zur Monogamie, geschweige ein
Serail zu befriedigen getaugt hätte, und der doch
aus Ueberzeugung von der Bestimmung des Menschen
zur Vielweiberey seinen Pfarrdienst aufgab; der in
Stockholm von den für die Monogamie eiferndern
Frauenenzimmern, wie ein zweyter Orpheus zerrissen wer-
den sollte; und der nachher Jahre lang halb Europa
durchirrte, um nur in allen Bibliotheken neue Beyträge
zu seiner polygamia triumphatrix zu sammlen,) hat in
seinem eben genannten volumineusen Werke, unter an-
dern Argumenten für die Polygamie, daß sie z.E.
für die Geistlichkeit so vorzüglich profitabel sey,
daß sie den Kaufleuten, die nach der Frankfur-
ter und Leipziger Messe ziehen, so schön zu passe
[Seite 424] käme*), u.s.w. auch den angeführt, daß sie die Män-
ner, wärend der gesegneten Umstände ihrer Weiber,
jener sonstigen Enthaltsamkeit überhöbe**). Allein er
hat nicht bedacht, daß der Fall zwar bey polygamischen
Thieren statt findet, (daß z.B. ein Hahn wol ein
Huhn das so eben gelegt hat zu wiederholtenmalen
tritt, hingegen eines das erst legen will, unberürt läßt,)
bey monogamischen aber, und namentlich, wie schon
Aristoteles, im 7ten B. der Tiergeschichte Cap. 4. be-
merkt hat, beym Menschen, seine Ausnahmen leidet.

Man könnte auf den ersten Blick Schmalkaldens
Nachricht für eine Bestätigung der den Americanern
von einigen Anthropologen aufgebürdeten Kälte gegen
das andere Geschlecht8) ansehn; um so mehr, da
Gabr. Thomas die gleiche Enthaltsamkeit von den
Pensylvanern, Diereville von den Acadiern etc. versi-
chern. Aber einestheils ist jene frostige Gleichgültigkeit
nichts weniger als astgemein, und Schmalkalden selbst,
beschreibt die Hitze mit welcher die Chilier einander
[Seite 425] ihre Weiber entführen, Leib und Leben daran wagen
u.s.w. Anderntheils aber ist der etwanige Mangel an
Wärme und ehelicher Liebe, wol sicher nicht in einer be-
sondern natürlichen Schwäche der Gefühle dieser Wil-
den*) sondern eben in ihrer Vielweiberey selbst zu su-
chen, die in Orient und überall wo Polygamie herrscht,
diese oder ähnliche Folgen nach sich zieht; die Männer
auch wol zu Päderasten, und die Weiber zu Tribaden
macht**) u.s.w. Daß endlich auch die Polygamie der Be-
völkerung nichts weniger als beförderlich sey, davon giebt
Schmalkalden am damaligen alten Tapuyer-König ein
Beyspiel, der in seinem hundertjährigen Leben, mit 50
Weibern, wodurch er folglich 49 andere Ehen gehindert,
doch nur 60 Kinder gezeugt hatte.


Notes
*).
[Seite 410]

Die wenigen von diesem mißlungnen Unternehmen bis jetzt
bekannt wordenen Nachrichten finden sich im 25ten Stück
von le Blons. Fortsetzung der von Levinus Hulsius her-
ausgegebnen deutschen Sammlung kleiner Reisebeschrei-
bungen. Frf. 1640. 4. m.K. und Englisch in chvr-
chill’s
Collection Vol. I. p.
505. u. s. auch manches
in casp. barlaei rerum in Brasilia gestarum histo-
ria
p.
258. u. f. der grossen Amsterd. Ausg. von 1647.

*).
[Seite 414]

Leben des Grafen von Zinzendorf 5 Th. S. 1429 u.f.

*).
[Seite 417]

et subito si parti seguendo il suo cammino. ramv-
sio
navigationi. I. p.
355. D.E. der Ausg. v. 1588.

*).
[Seite 419]

Wo keine besondere Ausgabe benennt ist, versteht sich
immer die vollständigste Ed. der Urkunde.

*).
[Seite 421]

S. z.B. Barbot S. 235. 259. 330 etc. der Churchillschen
Sammlung, denn in andern ist er sehr verstümmelt und
entstellt.

*).
[Seite 424]

Diss. polit. de polygamia. Lond. Scanor. (Amstelod.)
1682. 4. p. 114. u.f.

**).
[Seite 424]

Am angef. Orte S. 116.

8).
[Seite 424]

***) beni. beddome de hominum varietatibus p. 16.

*).
[Seite 425]

Robertson’s hist. of Amer. vol. I. p. 292. u. f.

**).
[Seite 425]

s. niclas nicolai, de breves u.a. Orientalische
Reisebeschreibungen.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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