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Magazin
für das Neueste
aus der
Physik
und
Naturgeschichte
,
zuerst herausgegeben
von dem Legationsrath Lichtenberg,
fortgesetzt
von Johann Heinrich Voigt,
Prof. der Mathematik zu Jena, und Corresp. der Königl.
Gesellsch. der Wissens. zu Göttingen.

Sechsten Bandes erstes Stück, mit Kup.

Gotha
1789
.
bey Carl Wilhelm Ettinger.
[[I]] [[II]] [[III]] [[IV]] [[V]] [[VI]]

II.
J. Fr. Blumenbach, über Künsteleyen
oder zufällige Verstümmelungen am thieri-
schen Körper, die mit der Zeit zum erb-
lichen Schlag ausgeartet.

[Seite 13]

Eine Untersuchung, die sowohl für die Physiolo-
gie des Zeugungsgeschäftes, als für die Thierge-
schichte, und besonders für die Naturhistorie des
Menschengeschlechts von vielseitiger Wichtigkeit ist.

[Seite 14]

Die Möglichkeit, daß Künsteleien oder zu-
fällige Verstümmelungen am thierischen Körper, be-
sonders wenn sie durch ganze Reihen von Ge-
nerationen wiederholt werden, mit der Zeit zum
erblichen Schlag ausarten, und dann von Natur
angebohren werden können, scheint a priori nichts
wider sich zu haben. Wenigstens möchte ich den
Physiologen sehen, der sich getraut, mir den
Grund anzugeben, warum dies nicht so möglich
seyn sollte, als das Forterben organischer Erb-
krankheiten, (wohlverstanden, organischer), oder
erblicher Monstrositäten,*)) oder der individuell-
[Seite 15] sten Züge in Familienphysiognomien, einer star-
ken Unterlippe, auszeichnender Augenbraunen, oder
so was dergleichen, das doch alles wohl auch nicht
von Adam her abstammt, sondern oft erst vor nicht
gar langen Generationen entstanden, und nun seit
der Zeit, bald mehr bald weniger constant, sich wei-
ter fortgeerbt hat.

Alles kommt also, wie mich däucht, darauf
an, ob sich die Wirklichkeit der Sache a posterio-
ri
bestätigt: und darzu stelle ich denn folgenden
Fall nebst der Angabe ihrer Gewährsleute auf:

I. Beyspiele an Thieren.

Sr. Kenelm Digby*) gedenkt einer Katze,
der man, da sie noch klein war, den Schwanz
abgehauen hatte, und die nachher, wenn sie Junge
[Seite 16] warf, immer einige eben so ungeschwänzte zur Welt
brachte.

Nath. Highmore,*) der sonst in der Erklä-
rung des Zeugungsgeschäftes so sehr vom R. Dig-
by abweicht, gesteht doch selbst eine Bätze gesehen
zu haben, der der Schwanz fast ganz vom Rum-
pfe abgehauen war, und von deren Jungen nachher
die eine Hälfte geschwänzt, die andere von Mut-
terleibe an ungeschwänzt gewesen.

Büffon versichert**) Hunde gesehen zu haben,
deren man seit mehrern Generationen Schwanz und
Ohren gestutzt hatte, und die nun diesen Mangel
gänzlich oder doch zum Theil auf ihre Nachkommen-
schaft forterbten.

Hr. Consist. R. Masch in Neu-Strelitz hat
im Naturforscher***) Nachricht von einem Flei-
scherhunde gegeben, dem nach Gewohnheit der Flei-
scher, der Schwanz abgestutzt war, der sich mit ei-
ner jung eingefangenen Wölfin belief, die hierauf
drey Bastarde warf. Unter diesen war ein Männ-
[Seite 17] chen, halbgrau wie der Vater und mit einem ab-
gestutzten Schwanze gebohren, so daß, wie er
sagt, die zufällige Verstümmelung des Hundes auf
diesen Bastard nachartete. Er setzt hinzu: ‘„wie
geht es zu, daß eine willkührliche und zufällige
Verstümmelung auf die Jungen nachartet? Ange-
bohrne Fehler und Gebrechen arten durch die Zeu-
gung fort. Dies findet sich auch bey den Menschen.
Ein Vater hatte von Natur gebrechliche Füße. Er
zeugte mit einer gesunden Frau den ersten Sohn,
der gesund war: der zweyte Sohn aber ward mit
gebrechlichen Füßen gebohren. Bey dem Bastard-
wolf aber finden wir eine Nachartung in Absicht des
stumpfen Schwanzes, die von anderer Art ist. Frey-
lich läßt sich hierbey gedenken, daß auch der Hund
schon so verstümmelt gebohren sey, und ich geste-
he, daß ich hierüber keine Entscheidung geben kann.
Indessen wenn man auch dieses annimmt, so wird
doch der erste Ursprung eines solchen Mangels in
einer willkührlichen Verstümmelung zu setzen seyn;
und die Frage wird alsdann noch ausgebreiteter:
wie es zugehe, daß eine willkührliche Verstümme-
lung sich sogar durch eine ganze Geschlechtsfolge
fortpflanzen kann? Hier zieht wohl die Natur eine
Decke vor, und läßt uns die Ueberzeugung, daß es
in der Natur Geheimnisse giebt, welche für Men-
schen zu hoch sind.„’

[Seite 18]

Hr. D. Forster sagt:*) ‘„man hat es in Eng-
land angemerkt, daß, da den Pferden beständig die
Schwänze abgestumpft, und Hengste und Stuten
in vielen Generationen so gehalten wurden, zulezt
die Füllen mit einigen Articulationen weniger im
Schwanze zur Welt kamen.„’

Büffon**) hat sich sehr umständlich darüber
ausgelassen, und selbst durch die Zergliederung zu
erweisen gesucht, daß die Schwielen am Brust-
bein und an den Knieen der Cameele eine bloße
Folge ihrer Unterjochung und der gewaltsamen Pro-
cedur seyen, womit diese lasttragende Thiere be-
kanntlich zum Niederknieen gezwungen werden. Und
da nun doch auch schon die neugebohrnen Cameele
dergleichen Schwielen haben, so giebt er dies selbst
für einen abermaligen Beweis für das Erblichwer-
den anfänglicher Künsteleyen etc.

* * *

II. Beyspiele im Menschengeschlecht.

Cardanus**) gedenkt der bekannten alten
Sitte der Peruaner um Puerto viejo, die ihren
[Seite 19] neugebohrnen Kindern die Köpfe zwischen Bretchen
preßten, mit dem ausdrücklichen Zusatz: dies sey
ursprünglich Werk der Kunst, nicht der Natur gewe-
sen. Allein diese Künsteley sey in der Folge gleich-
sam selbst zur andern Natur geworden: so daß mit
der Zeit auch Kinder gleich von Mutterleibe solche
sonderbar geformte Köpfe mit zur Welt gebracht. –
‘„Constat igitur, wie er sich ausdrückt, humanam
formam multis modis variari, tum arte, tum
diuturna successione
.„’

Hippocrates in seinem Meisterwerke von Luft-
Wasser und Clima erzählt etwas ähnliches von den ma-
crocephalis
, einem Volk am schwarzen Meer, die
weiland aus Bizarrerie ihren neugebohrnen Kin-
dern die Köpfe langgepreßt hatten, und wie her-
nach diese durch lange Generationen wiederholte
Sitte endlich zum erblichen Schlag, und jene Form
den Kindern angebohren worden. ‘„Im Anfang,„’
sagt er,*) ‘scheine Landessitte der Grund dieser Bil-
dung gewesen zu seyn. Nun aber sey die Natur
selbst zur Sitte hinzugekommen. Man habe die-
jenigen, die die größten Köpfe hatten, für die edel-
[Seite 20] sten gehalten; und aus diesem Grunde haben die
Macrocephali den annoch nachgiebigen weichen Kopf
ihrer neugebohrnen Kinder mit den Händen ge-
drückt, mit Binden und schicklichen Handgriffen
in die Länge gezwängt. Diese anfängliche Künste-
ley habe den nachherigen natürlichen Wuchs der
Köpfe bey jenem Volke veranlaßt, so daß man der
künstlichen Hülfe nicht weiter dazu bedurfte.„’ –
In einem kurz darauf folgenden Absatz setzt Hip-
pocrates
zwar hinzu: ‘„daß sie zu seiner Zeit nicht
mehr vollkommen solche Köpfe hätten, weil sie jene
künstliche Bildung ganz vernachlässigt.„’ – Wie
wenig aber dies mit seiner vorhergehenden Erzäh-
lung und seiner Meynung, daß folglich anfängliche
Künsteleyen in der Folge der Zeit erblich werden
können, im Widerspruch stehe, zeigt die dazwischen
stehende Stelle, wo er das Phänomen aus seiner
bekannten Generationstheorie zu erklären sucht.
‘„Der Zeugungsstoff„’ sagt er, ‘„sammelt sich aus
allen Theilen des Körpers. Von gesunden Körpern
kommt er gesund, von Kranken krankhaft. Da
nun Kahlköpfe, blaue Augen und oft verwachsene
Körper sich in Familien fortpflanzen, und die glei-
che Regel auch in der übrigen Bildung statt hat,
was hindert, daß nicht auch von Großköpfen Groß-
köpfe erzeugt werden sollten?„’ – Offenbar hat
also Hippocrates nur gemeynt, daß mit der Folge
der Zeit die Natur eine angenommene Form wieder
[Seite 21] verlasse und zu den ursprünglichen wieder zurück-
kehre.

Aristoteles führt in seinem Werke von der
Erzeugung der Thiere die Gründe an, die für die
Hippocratische Generationstheorie gebraucht wür-
den. Sie erhält, sagt er, unter andern dadurch
viel Wahrscheinlichkeit, daß die Kinder nicht blos
in den innern und angebohrnen Eigenschaften, son-
dern auch oft in ganz zufälligen äußern Merkzei-
chen den Eltern gleichen. Denn man hat Beyspie-
le, daß Narben der Eltern sich an der gleichen
Stelle des Körpers auf die Kinder fortgeerbt ha-
ben. Namentlich führt er selbst eins aus Chalce-
don an, wo eine Narbe, die der Vater am Arm
gehabt, auf den Sohn fortgeerbt sey, wenn gleich
nicht ganz so deutlich als beym Vater.

Plinius, da wo er ebenfalls davon handelt,
daß Muttermahle, Narben und dergleichen zuwei-
len auf die Kinder forterben, setzt als Beyspiel hin-
zu: ‘„quarto partu Dacorum originis nota in bra-
chio redditur
.„’ Ich deute dies auf die vernarb-
ten Charaktere, womit sich nach dem Zeugniß vieler
Alten die Dacier, Illyrier u.a. benachbarte Völ-
ker, auszeichneten.

[Seite 22]

Der seel. Hofrath Osann kam einmal voller
Verwunderung zu mir, und erzählte mir, daß er
einen ähnlichen Fall in der Familie eines Staabs-
officiers in unserer Nachbarschaft gefunden. Dem
Vater sey in seinen Jugendjahren der kleine Finger
der rechten Hand zerhauen und krumm geheilt wor-
den: und nun hätten seine Söhne und Töchter
sämmtlich von Mutterleibe an den kleinen Finger
der rechten Hand krummstehend. – Ich habe
nach der Hand den Vater und eine seiner Töchter
selbst kennen gelernt, und die völlige Richtigkeit
dieser Nachricht an ihnen beyden bestätigt ge-
funden.

Ein überaus scharfsinniger Gelehrter machte
mir einmal den Einwurf: wenn künstliche Verstüm-
melungen erblich werden könnten, so müßten ja auch
wohl unter beschnittenen Völkern Kinder ohne Vor-
haut gebohren werden, und das scheine doch nicht
der Fall etc. – Nun war mir wohl aus Steph.
Gerlach’s
Tagebuch ein einzelnes Beyspiel der Art
bekannt, aber freylich schien mir selbst dies einzige
im Ganzen noch von keinem sonderlichen Gewichte.
Gelegentlich befragte ich aber einmal einen nicht un-
gelehrten, und zumal im Ritual seines Volks sehr
unterrichteten hiesigen Juden über diesen Umstand,
und erhielt ganz unerwartet die mir sehr merkwür-
dige Antwort: das sey auch hier zu Lande ein gar
[Seite 23] nicht seltner Fall, daß Judenkinder eine so kurze
Vorhaut mit zur Welt bringen, daß es eine ge-
übte und vorsichtige Hand erfordere, sie demohn-
geachtet zu beschneiden. Dieser angebohrne Fehler
habe sogar seinen eigenen hebräischen Namen,
nauld mohl, beschnitten gebohren werden. Sein
eigner Vater sey Beschneider gewesen, habe über
700 Knäbgen beschnitten, und sey selbst wegen sei-
nes Geschickes in diesem nicht seltnen Fall, berühmt
gewesen; habe auch oft von der Schwierigkeit, un-
ter diesen Umständen die Operation zu machen, er-
zählt etc. – Kurz, was mir selbst ein Argument
gegen das Forterben der Künsteleyen geschienen hat-
te, ward mir nun so unvermuthet ein wichtiges
Datum für die Wahrscheinlichkeit desselben.

* * *

Ich gebe gern zu, daß nicht alle angeführten
Fälle von gleicher unwiderredlicher Zuverlässigkeit
seyn mögen, aber man mag auch die minder un-
bezweifelbaren rabatiren, so bleiben doch immer für
die Wahrscheinlichkeit der Sache so viele, als man
nur für eine solche Sache, die sich nicht wohl durch
absichtliche Versuche geradezu erweisen läßt, ver-
langen kann.


Notes
*).
[Seite 14]

Unter zahlreichen theils allgemein bekannten Bey-
spielen der Art, hebe ich nur ein neuliches aus,
das Hr. Schulz in seinen Bemerk. über einen mon-
strosen Canarienvogel S. 17. anführt: ‘„Eine spanische
Hündin,„’ sagt er, ‘„die schon seit vielen Jahren
in meiner Wohnung lebt, ist nicht nur selbst von
Natur ohne Schwanz
, sondern sie hat auch
schon mehrmalen junge Hunde geworfen, worun-
ter sich ungeschwänzte befunden haben. So oft
diese Hündin ihr Geschlecht mit mehrern Jungen,
als einem, vermehrte; so hatte unter diesen etwa
einer einen vollkommenen, die mehresten einen
um die Hälfte, oder noch weiter abgekürz-
ten
, und dann wenigstens einer gar keinen
Schwanz. Das sonderbarste war, daß die Jun-
gen fast jedesmal allein ihren Vätern, (z.E. Jagd-
hunden, Pudeln, Windhunden, u.s.w.) in Ab-
[Seite 15] sicht der Zeichnung und des übrigen körperlichen
Baues ähnlich gewesen, und von ihrer Mutter,
der spanischen Hündin, nichts weiter als den Man-
gel des Schwanzes, entweder zum Theil oder
gänzlich angenommen haben.„’

*).
[Seite 15]

On the nature of bodies etc. pag. 214.

*).
[Seite 16]

History of generation pag. 31.

**).
[Seite 16]

Hist. nat. T. XIV.

***).
[Seite 16]

XVtes Stück.

*).
[Seite 18]

Beyträge zur Völker- und Länder-Kunde.
I. Th.

**).
[Seite 18]

Hist. nat. T. XI.

**).
[Seite 18]

Im III. B. der Sponischen Ausg. seiner Wer-
ke S. 163.

*).
[Seite 19]

Ich habe es nachdem correctesten Text in der Char-
rierischen
Ausg. übersezt. T. VI. p. 206.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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