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J.H. Voigts
Magazin
für den neuesten Zustand
der
Naturkunde
,
mit Rücksicht auf die dazu gehörigen
Hülfswissenschaften.

Zweyten Bandes
Viertes Stück
.

Weimar,
im Verlage des Industrie-Comptoirs
1801
.

3) Der vorgebliche wilde Junge von
l’Aveyron.

[Seite 633]

In den vorjährigen französischen Zeitungen
war oft von einem wilden Buben die Rede der in
einem Walde des Departement de l’Aveyron auf-
gefangen und vom Hrn. Bonaterre, Prof. an der
Centralschule zu Rhodez nach Paris gebracht und
daselbst dem ber. Vorsteher des Taubstummen In-
stituts, Hrn. Sicard übergeben worden. Er sey
ohngefähr 12 Jahr alt, Sprachloß; esse am lieb-
sten Kartoffeln, Wallnüsse, und schwarzes Brod;
habe hingegen Widerwillen gegen Semmel so wie
gegen Fleischspeisen; könne weder Schuhe noch
Strümpfe und keine andre Kleidung als einen
weiten Kittel vertragen; sitze und schlafe am lieb-
sten auf der bloßen Erde, und was dergl. mehr
war.

Zur Berichtigung jener Zeitungsnachrichten
kann nun aber folgende Stelle aus einem Briefe
des trefflichen Beobachters, Hrn. Prof. Cüviers
dienen der mir unterm 25 Aug. v.J. schreibt:
‘„was den vermeynten Wilden aus dem Departe-
[Seite 634] ment de l’Aveyron betrifft, von dem so vieles
Aufhebens gemacht worden, so scheint es, nach
der sorgfältigsten Untersuchung die wir deshalb
hier vorgenommen haben, daß es nichts weiter
als ein von Kindesbeinen an blödsinniger Junge
ist, der von seinen Verwandten verlassen wor-
den, und wohl nur sehr kurze Zeit sich selbst über-
lassen von Dorf zu Dorf herumgetrieben ist.
Wenn man auf die Quelle zurückgeht so findet
sich durchaus keine sichere Spur daß er, so wie
die Rede gieng, 15 Monate bevor man ihn ein-
gefangen, schon sey bemerkt worden. Noch hat
er unter den Händen seiner Aufseher nicht
die mindeste Culturfähigkeit blicken lassen, ja er
weiß dieselben noch nicht einmal von andern Per-
sonen zu unterscheiden.“’

Dieses arme blödsinnige Geschöpf dient also zu
einem abermaligen Beweis, daß der Begriff von so-
genannten wildgefundenen Menschen, die Lin-
nee
im Natursystem unter der Rubrik von Ho-
mo sapiens ferus
aufführt und unter andern
als tetrapus und hirsutus charakterisirt, gar sehr
großer Einschränkung und Bestimmung bedarf, wie
ich dieß in der dritten Ausg. der Schrift de gene-
ris hum. varietate nativa
am Beyspiel des
vom braven Tulpius beschriebnen Jungen ge-
zeigt habe, den Linnee in seiner Liste von sol-
[Seite 635] chen vermeynten Naturmenschen juvenis ovinus
hibernus
nennt.

* * *


Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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