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Medicinische
Bibliothek
herausgegeben
von
Joh. Friedr. Blumenbach,
der Medic. Prof. ord. zu Göttingen.
Zweyten Bandes drittes Stück.
W. HUNTER.xxx

Prüfet alles, und das Gute behaltet.


Göttingen,
bey Johann Christian Dieterich
,
1786
.

VI.
Medicinische Bemerkungen auf einer Schwei-
zerreise.

[Seite 537]

(s. I B. S. 725 u.f. II B. S. 163 u.f.)

Bey meinem Aufenthalt in den Savoyischen
Eisgebürgen, machte ich gleich am ersten Tage
meiner Ankunft zu Chamouni eine Excursion nach
der mächtigen Eisgrotte, aus deren Schlund der
Arveron herausstürzt. Auf dem Rückweg stieß ich
ganz unvermuthet unter einer Menge Savoyarden,
die da wie gewöhnlich den Reisenden allerhand kleine
vaterländische Naturalien feil biethen, auf einen
Buben, den ich auf den ersten Blick an seinen
rosenfarbenen Augen und an seinem auffallend son-
derbaren weissen Haar für einen Kakkerlacken
erkannte, und der, wie ich nun hörte, aus einem
benachbarten kleinen Dörfgen, Namens des bois
oder aux bois war, und noch einen ältern mit dem
gleichen Uebel behafteten Bruder hatte.

Ich hatte wohl ehedem von ein paar Savoyi-
schen Kakkerlacken gehört, sie auch selbst schon
vor mehrern Jahren in der zweyten Auflage der
Schrift de generis hum. variet. natiua aus Hrn.
[Seite 538] Bourrit’s Nachrichten*) angeführt; auch wür-
den sie mir ohnehin nicht leicht ganz entgan-
gen seyn, da sie als eine vorzügliche Sehens-
würdigkeit in dieser Gegend bekannt sind**);
allein wie gesagt, gerade hier kamen sie mir jezt
eben so unerwartet als erwünscht.

Ich bestellte sie beide noch auf denselben Abend
zu mir nach Chamouni, wo ich sie in Gesellschaft
des jüngern Hrn. de Luc, der mich von Genf
aus dahin zu begleiten die Gefälligkeit gehabt
hatte, genauer untersuchte.

Hier erfuhr ich, daß der ältere 22 Jahre alt
sey, der jüngere 17; für welche Jahre sie aber
beide im Wachsthum sehr zurück waren, da jener
nur ohngefähr die Statur eines 15jährigen und
der andere die von einem 12jährigen Buben hatte.

Ihre Haut zeichnete sich theils schon über-
haupt durch eine ganz eigne Röthe, die zumal
im Gesicht auffallend war, besonders aber durch
[Seite 539] die Beschaffenheit der Oberhaut aus, die sich
beym mindesten Reiben, in zarte Kleyenartige
weisse Schuppen ablösete.

Auch ihre Haare waren von einer ganz eig-
nen ungewöhnlichen Weisse, weder silbergrau wie
bey alten Leuten, noch auch eigentlich blond, son-
dern ins schmuzig-gelbe fallend. So waren die
Augenbraunen und Augenwimpern, das Milch-
haar im Barte und am Leibe, eben sowohl als
das Kopfhaar, das beiden bis ohngefähr auf die
Schultern hing, aber völlig schlicht, fast ohne
alle Krümmung war, und im ganzen habitus
viel ähnliches mit weissen Ziegenhaaren zeigte. –
Ich habe einen Büschel davon, den ich dem jün-
gern Bruder abgeschnitten, ins akademische Mu-
seum gelegt, wo sich mehrere Verschiedenheiten
von Menschenhaaren, zumal auch von Völkern
der Südsee finden. –

Vorzüglich aber zogen die Augen der beiden
Brüder meine größte Aufmerksamkeit auf sich, die
im Ganzen den Augen der weissen Kaninchen
vollkommen glichen. Der Stern, oder die soge-
nannte Regenbogenhaut, schien dünner, als ge-
wöhnlich, halb durchsichtig, nach der mindesten
Veränderung des Lichts überaus beweglich und
fast in beständiger Oscillation; ihre Farbe hielt
[Seite 540] ohngefähr das Mittel zwischen dem blassesten
Violet und Rosenroth. Das allercharacteristischte
aber war die Sehe, die nicht wie bey allen an-
dern Menschen – sie mögen blaue oder braune
Augensterne haben – schwarz, sondern wie bey
den weissen Caninchen und andern ächten Kak-
kerlacken, von einer beynah blutrothen und un-
ter gewisser Richtung gleichsam wiederscheinenden
Farbe waren, etwa wie Himbeerensaft.

Beym jüngern Bruder waren die Pupillen
von ungleicher Weite, die rechte nämlich immer
etwas enger als die im linken Auge.

Man hält dergleichen Kakkerlacken bekannt-
lich für Nacht-Menschen; das ist aber wie bey
allen animalibus nocturnis nicht so zu verstehen,
als ob sie in vollkommner Finsternis sehen könn-
ten: – das konnten auch diese beiden so wenig,
als andre Menschen und Thiere, sie mögen wie
die diurna am Tage, oder wie die nocturna mehr
des Nachts ihren Geschäften nachgehen. Son-
dern ein mäßiges dämmerndes Halblicht, wie
bey sehr trüben Wetter, oder bey Tagesanbruch
oder gegen Abend und im Mondenschein, war
für ihre Augen das zuträglichste.

Sonnenschein hingegen, oder sehr helles Ker-
zenlicht und Küchenfeuer etc. war ihnen, wie ich
[Seite 541] sah, zwar nicht empfindlich-lästig, (denn ich war
selbst noch den Nachmittag mit ihnen bey Son-
nenschein spatziren gegangen), aber wohl, wie
ich nicht blos von ihnen selbst, sondern von allen
die ich in Chamouni, wo sie im Sommer fast täg-
lich hinkommen, darum befragte, versichert ward,
wenigstens meist unnütz, da sie davon eben so
geblendet wurden, als ein übrigens gesundes Auge,
wenn es in die Sonne oder aus gemäßigtem Licht
mit einmal in den Schnee sieht. – Doch hatte
Länge der Zeit und Gewohnheit auch diese beiden
Grasset, dieß ist ihr Name, so wie die weissen
Caninchen und wie die mehresten weissen Mäuse
immer mehr und mehr ans Licht gewöhnt, das
ihnen wie ich hörte, noch vor 10 Jahren doch un-
leidlich gewesen war.

Ueberhaupt waren sie kurzsichtig.

Uebrigens aber von gutem natürlichen Verstande,
und der jüngere sogar aufgeweckt frisch und mun-
ter. Der ältere hingegen war von Kindesbeinen an
stille und kränklicht gewesen; hatte einen sehr
übelriechenden Athem, habituelle Ophthalmie etc.

Beide hatten schon längst die Pocken überstan-
den, und hart daran darnieder gelegen, doch nur
wenige Narben davon getragen.

[Seite 542]

Sie waren die einzigen solchen Albinos in ihrer
Familie; denn ihre beiden Eltern, und drey Schwe-
stern, und noch ein dritter Bruder, hatten nicht
das mindeste Kakkerlackenartige, sondern die bey
den Savoyarden ganz gewöhnlichen braunen Augen
und Haare etc.

Dieß ist es, was ich von diesen beiden merk-
würdigen Menschen an Ort und Stelle erfahren,
und größtentheils an ihnen selbst gesehen, und in
ihrer Gegenwart aufgeschrieben habe.

Das pathognomonische Kennzeichen ihrer Krank-
heit, nämlich der gänzliche Mangel des schwarz-
braunen Schleims im innern Augapfel
(wo-
mit bekanntlich im natürlichen gesunden Zustande,
zumal die chorioidea, die processus ciliares und
die hintere Seite der Regenbogenhaut oder die
sogenannte vuea überzogen sind), und die davon
abhängende halbdurchsichtige Blässe des Au-
gensterns und schimmernde Röthe der Pu-
pille,
ist so durchaus unverkennbar, daß für einen
nur irgend aufmerksamen Beobachter keine Täu-
schung in diesem Falle denkbar ist.

Um so unbegreiflicher fällt es mir also, daß
Hr. Prof. Storr in der Vorbereitung zu seiner
Alpenreise vom Jahr 1781. S. lx u.f. jene bei-
den Savoyischen Albinos geradezu für eine Einbil-
[Seite 543] dung des (freylich oft manche Dinge in einem zu
blendenden Lichte sehenden) Hrn. Bourrit aus-
zugeben, keinen Anstand gefunden hat.

Es ist sehr begreiflich, wie der Beobachtung
eines sonst noch so aufmerksamen Reisenden, den-
noch gar manches völlig unbemerkt entgehen –
auch wie er etwa unter der Fülle von Dingen und
in der Zerstreuung eines und das andre unrichtig
sehen kan; – Allein, wenn er als Wiederleger
auftreten und eine allgemein von unzähligen Augen-
zeugen für richtig anerkannte und noch täglich zu
prüfende und zu entscheidende Sache für offenbar
irrig erklären will, so darf man fodern, daß er
seiner Sache sehr gewiß seyn müsse.

Und dieß vorausgesezt so kan mir die quästio-
nirte Behauptung des Hrn. Prof. nicht anders,
als unbegreiflich fallen, die ich hier berühren mußte,
weil sie so im geraden Wiederspruche mit meiner
eignen Beobachtung steht, da Er z.B. die Augen
der beiden Knaben blau nennt, und versichert,
er habe die vorgegebene Röthe an denselben nicht
wahrnehmen können u.s.w.

Am Schluß dieser seiner Excursion gegen Hrn.
Bourrit, nennt es der Hr. Prof. einen sonder-
baren Einfall, ‘“sie für Mißgeburten auszurufen,
in deren Hervorbringung ein so warmer Bewun-
[Seite 544] derer der Alpen diesen keine africanische Frucht-
barkeit hätte aufbürden sollen.”’ – Vermuthlich
ist hier der Sinn durch einige Druckfehler entstellt.
Denn hoffentlich wird sich niemand beykommen
lassen, weder den Begriff von Misgeburt bis
auf eine angeborne Krankheit, auf die Leucäthiopie,
auszudehnen, noch auch dir leztere auf Afrika
einzuschränken; da bekanntlich kein Welttheil und
keine Varietät im Menschengeschlecht ist, in wel-
cher man nicht Beyspiele von Patienten dieser Art
gefunden haben sollte.

Blos ein Paar aus Europa selbst anzuführen,
so hat der bekannte Augenarzt Bened. Duddel
im Supplement to his Treatise of the Diseases
of the Horny coat
einen dergleichen englischen
Kakkerlacken, einen Buben von 14 Jahren genau
beschrieben. – so der Past. Klein in den Natur-
seltenheiten von Ungarn ein 10jähriges derglei-
chen Mädchen, aus der Neutrer-Gespanschaft.
– Der berühmte Wundarzt le Cat im Traité
de la couleur de la peau humaine
ähnliche Kin-
der zu Rouen. – Der Mailändische Augenarzt
Hr. Buzzi hat neuerlich in einer besondern Schrift
(Dissertazione storico-anatomica sopra una va-
rietà particolare di uomini bianchi eliofobi
1784.
4.) die Zergliederung eines dergleichen Mailändi-
schen Albinos, eines dasigen Bauren geliefert. –

[Seite 545]

Alle vier genannte Schriftsteller vergleichen
die Augen ihrer Kakkerlacken mit der weissen Ca-
ninchen ihren: und ihre Beschreibungen passen im
ganzen so vollkommen auf die von mir untersuch-
ten Savoyischen, als ob sie nach diesen verfer-
tigt wären.

Und in der Schweiz selbst sollen sich wie mir
von kundigen Zeugen versichert worden, die Bey-
spiele von dergleichen einheimischen Albinos viel-
leicht häufiger als in irgend einem andern Theil
von Europa finden; ohngeachtet ich keines dersel-
ben selbst zu sehen Gelegenheit gehabt. Dahin
soll z.B. eine ganze Familie zu Montet im Frey-
burger Gebiete gehören; – und ein ohnlängst zu
Yverdun verstorbner Hr. de Miere; – und ein
noch lebender angesehener Mann in Neuchatel etc. –

Nun noch ein Wort von der Krankheit selbst.
– Denn daß der gänzliche Mangel eines zum
deutlichen sehen so unentbehrlichen Theils, als
der zur Absorbtion der überflüssigen Lichtstralen
bestimmte schwarzbraune Schleim im innern Auge
ist, eine wahre Krankheit sey, so gut wie Myo-
pie und Presbyopie und hundert andre etc. das
wird doch hoffentlich außer dem Hrn. Pr. Pallas*)
kein anderer Naturkenner oder Arzt heutiges Ta-
ges noch zu bezweifeln wagen. –

[Seite 546]

Sie findet sich meines Wissens blos unter den
beiden Classen der warmblütigen Thiere, und
zwar bekanntlich am allerhäufigsten unter den Ca-
ninchen und Mäusen: dann auch ziemlich oft un-
ter den Pferden und Hunden: sehr selten hingegen
unter den Ratten, Steinmardern, Eichhörnchen,
Hamstern und Rehen etc.

Unter den Vögeln sind zumal die Canarienvögel,
Pfauen, Hüner, und zuweilen auch die Raben die-
ser Krankheit ausgesezt.

Sie ist immer angeboren, wenigstens ist mir
kein einziges Beyspiel bekannt, wo das pigmen-
tum nigrum
erst nach der Geburt aus den Augen
verschwunden, und dieselben dadurch rosenroth ge-
worden wären.

Oft ist sie eine Erbkrankheit, da sie sich un-
ter manchen Völkern zumal in Afrika und in beiden
Indien in ganzen Familien fortpflanzt, ohngefähr
so wie bey den weissen Caninchen und weissen
Mäusen.

Der Mangel des schwarzen Schleims im Auge
scheint dabey aber immer nur ein Symptom
einer allgemeinern Cachexie zu seyn, die sich vor-
züglichst durch das eigne Ansehn der Haut und
durch die sonderbare Weisse der Haare äußert;
wenigstens hat man meines Wissens niemalen je-
[Seite 547] nen Augenfehler ohne diese Beschaffenheit der Haut
oder Haare bemerkt: wohl aber ist bekanntlich
eine übrigens vollkommen ähnliche Hautkrankheit
und übrige Zufälle der Leucäthiopie, auch ohne
rosenfarbne Augen, zumal auf Malabar nicht
selten.

J.F.B.

[[I]] [[II]] [[III]]
Notes
*).
[Seite 538]

s. dessen description du mont-blanc. Lausanne, 1776.
8. pag. 17 sq.

**).
[Seite 538]

Voyage d’un amateur des arts, en Flandre etc. fait
dans les ann.
1775–78. par M. de la r***. Amst.
1783. 12. Vol. I. pag. 310. Hr. Reynier im 1ten
Bande der Mém. de la Société des Sciences phy-
siques de Lausanne
. 1784. 4. pag. 22.

*).
[Seite 545]

s. dess. nov. spec. quadruped. e glirium ordine. Erlang.
1778. 4. S. 11.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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