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Medicinische
Bibliothek
herausgegeben
von
Joh. Friedr. Blumenbach,
der Medic. Prof. ord. zu Göttingen.
Dritten Bandes erstes Stück.
FR. HOFFMANN.xxx

Prüfet alles, und das Gute behaltet.


Göttingen,
bey Johann Christian Dieterich,
1788
.

IV.
Von den anatomischen Zeichnungen des
Lion. Da Vinci in Sr. Maj. des
Königs
großen Sammlung von
Handzeichnungen.

[Seite 141]

Nicht leicht konnte wohl den Liebhabern der
medicinischen Litteratur und der schönen Künste eine
Nachricht wichtiger und unerwarteter seyn, als da
man aus des verstorbenen Dr. Hunter’s intro-
ductory lectures
erfuhr, daß diese berühmten
aber längst für verlohren gehaltnen anatomischen
Zeichnungen des großen Da Vinci*) sich noch
[Seite 142] unversehrt erhalten haben, und sich gegenwärtig
in der großen Sammlung von Handzeichnungen
befinden, die Se. Maj. der König besitzen.

Hunter sagt, daß ihm der Königl. Bibliothe-
kar, Hr. Dalton, die Erlaubnis verschafft habe,
sie untersuchen zu dürfen. Freylich aber habe er
wenig mehr erwartet, als etwa anatomische Zeich-
[Seite 143] nungen zum absichtlichen Behuf für Zeichner, – um
so größer sey also sein Erstaunen gewesen, da er
bey der würklichen Untersuchung dieser unschätzba-
ren Blätter vollkommen überzeugt worden sey, daß
Da Vinci in jenen Zeiten*) bey weiten der größte
Zergliederer in der Welt gewesen.

Er schmeichelte sich und der Welt mit der gro-
ßen Hoffnung, daß ihm S. Majestät, bey
Ihren allgemein bekannten Gesinnungen für die
Aufnahme der Wissenschaften, die Erlaubnis erthei-
len würden, die wichtigsten von diesen Handzeich-
nungen stechen lassen und bekannt machen zu dür-
fen. Allein sein Tod kam dazwischen.

Sobald ich jenes alles aus des Drs. nachgelas-
senen introductory lectures erfuhr, schrieb ich eilig
an einen gefälligen Freund, den Hrn. Canzley-Au-
ditor von Hinüber, der sich eben damals bey sei-
nem Hrn. Vater in London befand, mit der drin-
genden Bitte, mir doch wo irgend möglich, noch
[Seite 144] einige nähere Nachricht von diesem Schatze zu ver-
schaffen. Und hier ist also ein Auszug aus dem
äußerst interessanten Briefe, den ich hierauf von
seiner Güte erhielt:

* * *

Das berühmte Mspt. des da Vinci besteht aus
235 Blättern in groß Folio, auf welchen die Zeich-
nungen selbst – die in mancherley Format, und
viele auf blauem und sonst gefärbten Papier verfer-
tigt sind – befestigt worden. Titul und Jahrs-
zahl hat das Mspt nicht; nur finden sich am Ende
einige neuere Blätter mit Vorstellungen des Vesuvs
auf röthlichem Papier, und der Jahrszahl 1571.

Den Anfang des Ganzen machen Köpfe in al-
lerhand Stellungen – ganz von der Hand des
Meisters. –

Die mehrsten der folgenden Zeichnungen sind
anatomischen Inhalts, und darunter fast die er-
sten die weiblichen Geschlechtstheile, und die man-
nichfaltigen Lagen der Frucht in Mutterleibe, mit
bewundernswürdiger Kunst und Präcision vorge-
stellt. Diese anatomischen Zeichnungen machen den
größten und hauptsächlichsten Theil des ganzen Ban-
des aus, und es wird nicht leicht ein Theil des
menschlichen Körpers zu nennen seyn, wovon nicht
[Seite 145] Zeichnungen vorhanden seyn sollten. Vorzüglich
zahlreich sind die Abbildungen von Knochen, Mus-
keln und Blutgefäßen, die sämtlich aufs genaueste
und in verschiednen Lagen und Stellungen der Theile
vorgestellt sind. An Zeichnungen von Eingeweiden,
wie vom Gehirn u.s.w. fehlt es zwar nicht, doch
sind ihrer nach Verhältnis zu den übrigen nicht
viele: auch von den Gehör- und Gesichts-Werk-
zeugen sind nur einige vorhanden, desto mehr aber
von den Extremitäten; die alle in mannichfaltigen
Lagen und mit der deutlichsten Absicht vorgestellt
sind, bald die Knochen, Muskeln, Sehnen etc. und
ihre mechanische Würkung, dann die Blutgefäße etc.
recht anschaulich zu machen. Alles mit einer be-
wundernswürdigen Nettigkeit, so correct und mit
solcher meisterhaften Festigkeit, daß durchaus jeder
Strich sogleich gelungen, und in so vielen hundert
Zeichnungen (– denn jedes Blatt enthält außer
den Hauptgegenständen, noch so viele andre, als
nur immer Raum darauf haben finden können –)
keine einzige zu finden ist, die der mindesten Nach-
hülfe von Correctur oder retouchiren bedurft hätte.

Zwischen den Zeichnungen ist die zu einer jeden
gehörige Erklärung in italiänischer Sprache von des
da Vinci Hand geschrieben, und zwar nach seiner
bekannten abentheuerlichen Caprice alles verkehrt,
[Seite 146] von der rechten zur linken, so daß man es nicht an-
ders als mit Hülfe eines Spiegels lesen kan. Auch
die Zeilen bald gerade, bald umgekehrt wie auf dem
Kopf stehend, so daß man das ganze Buch fast bey
jedem Artikel einmal umkehren muß.

Uebrigens haben Zeichnungen sowohl als Schrift
sich bisher überaus gut erhalten; nur machen an
mehreren Stellen die sehr blasse Tinte und überall
die häufig vorkommenden Abbreviaturen das Lesen
äußerst beschwehrlich, und würde es viele Uebung,
Zeit und Geduld erfodern, nur zu einiger Fertig-
keit darin zu gelangen.

Auf die anatomischen Zeichnungen folgen einige
botanische, darauf viele von Pferden, sowohl Ana-
tomieen als ganze Figuren in mancherley Stellun-
gen, auch einzelne Theile, als Köpfe, Beine, Vor-
der- und Hintertheile in allerhand Verkürzungen,
und alle mit der größten Wahrheit aufs Papier
geworfen.

Am Ende finden sich Zeichnungen von Stein-
und Felsen-Massen, Aussichten, architectonische
und topographische Zeichnungen in Vogelperspectiv,
mit eben so bewundernswürdiger Leichtigkeit als
Correktheit aufs meisterhafteste dahin gezeichnet.

[Seite 147]

Wie und wann dieses unschätzbare Stück nach
England gekommen ist nicht bekannt. Man hat es
aber in den ersten Jahren Sr. Majestät Regie-
rung in dem Palais zu Kensington unter andern
alten Papieren und Büchern in einem verschloßnen
Schranke, wozu kein Schlüssel da gewesen, gefun-
den; als auf allerhöchsten Befehl die Meubles des
Schlosses inventirt worden.


Notes
*).
[Seite 141]

Blos zum Behuf derjenigen Leser, denen etwa
die ganze Sache noch unbekannt seyn sollte, muß
ich folgendes vorausschicken:

Lionardo da Vinci aus der Florentiner Schule
starb in den Armen des Königs Franz des I.
a.
1518 in seinem 75sten Jahre, als einer der
größten, gelehrtesten, genie-reichsten, kunstverstän-
digsten und allgemein berühmtesten Mahler, die
je die Welt gesehen.

Sein Zeitgenosse und vertrauter Freund war
Marc-Antonio de la Torre, Professor der Zer-
[Seite 142] gliederungskunst zu Padua und Pavia, gleichfalls
ein großer heller Kopf, der sich dreist über die
lächerliche wissenschaftliche Abgötterey wegsetzte,
die man nun zwey lange Jahrhunderte hindurch
mit der berüchtigten anatomia Mundini getrieben
hatte (– s. diese Bibl. I Bd. S 478. –); dage-
gen zur Natur selbst zurückkehrte, menschliche Lei-
chen zergliederte, und nun den Bau derselben
und aller ihrer Theile von DaVinci’s unerreichba-
rer Hand zeichnen ließ! – Also gerade in seiner
Art ein eben so unendlich glücklicher Zufall als
derjenige der nachher den Vesalius und den gro-
ßen Mahler Joh. Stephanus; oder der neuerlich
den B.S. Albinus und Wandelaar zusammen
brachte.

Nur de la Torre ärndete nicht so wie die
letztgedachten Zergliederer die Früchte seiner Ar-
beit. Er starb vor ihrer Herausgabe 1512 an der
Pest, und das Schicksal jener merkwürdigen Zeich-
nungen ist bis auf die obgedachte unerwartete
Entdeckung im Dunkeln geblieben.

*).
[Seite 143]

In jenen Zeiten – was das sagen will, wird
jeder leicht ermessen, der sich erinnert daß dieß
die glänzende Morgenröthe für die Zergliederungs-
kunst war, in welcher Carpus, Benedetti,
Massa
u.m. dergl. Männer blühten. –



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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