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POTPOURRI
DES DAMES.

Auswahl
vorzüglicher Aufsätze
aus
Taschenbüchern

für
1800.

Mit Kupfern.

Berlin und Leipzig.

Physische Lebensgeschichte
des Menschen.

[Seite 104]

Die erste sichtliche Spur der menschlichen
Leibesfrucht zeigt sich nicht vor der dritten
Woche nach ihrer Empfängniß; und zwar
anfangs blos unter der sehr einfachen Ge-
stalt eines kleinen, bohnenförmigen, halbdurch-
sichtigen Klümpchen Gallerte, das, auf
einer Tasse oder in einem Löffel über Kohl-
feuer gehalten, meist ganz verdunstet, und
nicht viel mehr soliden Stoff zurückläßt, als
irgend ein andrer vertrockneter Tropfen.
Schon in den nächsten Wochen erhält aber,
[Seite 105] dieses unförmliche kleine Geschöpf, eine zum
Bewundern schnelle und bestimmte Aus-
bildung, und durch die in der 7ten oder 8ten
Woche beginnende Verknöcherung seines Ge-
rippes, auch immer mehr und mehr Consistenz.

Seine Bewegungen werden der Mutter
nicht leicht vor der 20sten Woche bemerkbar:
und weil auch bis dahin seine Eingeweide
noch zu weit, von ihrer nachwärtigen, zur
Lebenserhaltung nothwendigen, Vollkommen-
heit entfernt sind, so wird ihm auch so lange
noch keine Vitalität (in dem Sinne, wie
dieses Wort bey den Gerichten genommen
wird, wenn über den Termin der Erbfähig-
keit des Fötus gestritten wird) zugeschrieben.

Nach dem ordentlichen Laufe, kommt es
dann zu Ende der 40sten Woche zur Welt.

Ein solches reifes gesundes Kind ist ge-
gen 20 Zoll lang, und ohngefehr 7 Pfund
schwer: so, daß es in der 40sten Woche so
viele Pfunde wiegt, als es in der 4ten etwa
Grane wog.

[Seite 106]

Man pflegt den physischen Lebenslauf des
gebohrnen Menschen in drey Stadien ein-
zutheilen: Zunahme nähmlich; Reife des
Lebens; und Abnahme. Jedes derselben zeich-
net sich durch eigene Revolution in der kör-
perlichen Oekonomie aus.

Der erste große Fortschritt, den das Kind
in der Periode des Wachsthums macht, ist
der, daß es gegen Ende des ersten Jahrs, auf
eine dreyfache Weise, von der Mutter unab-
hängiger wird. Es lernt nähmlich laufen,
und so seinen Wirkungskreis erweitern. Es
lernt sprechen, und dadurch seine Bedürf-
niße andern verstehn zu geben. Es kriegt
Zähne, um nun mannigfaltigere und solidere
Nahrung, als bloße Muttermilch, zu sich
nehmen zu können. Aus allen dreyen, zumahl
aber aus dem letztern, ergiebt sich zugleich der
Termin, den die Natur selbst fürs Entwöh-
nen bestimmt zu haben scheint. Das Kind
soll ohngefähr eben so lange mit mütterlicher
[Seite 107] Milch, als vorher mit mütterlichem Blute, er-
nährt werden.

Die ersten 20 Zähne (die sogenanten Milch-
zähne), fallen vom 7ten bis ins 13te Jahr
allgemach aus, und es treten oben so viel
perennirende an deren Stelle. Die hintersten
12 Backenzähne hingegen, die theils erst spät
ausbrechen, werden im natürlichen Laufe nie
gewechselt.

Die zweite Hauptperiode des physischen
Lebenslaufs, die Jahre der Mannbarkeit und
des völlig erreichten Wachsthums, erlebt
kaum die Hälfte der Menschen, die gebohren
werden. Die so wichtige Reihe von Lebens-
jahren, worin der Mensch in seiner ganzen
Größe sich zeigt, – die edelsten Kräfte seiner
Seele zu ihrer Reife gedeihen, sein Körper
alle Verrichtungen des animalischen Lebens,
und zwar in ihrer vollsten Stärke auszuüben
vermag, – begreift ohngefähr die 30 Lebens-
jahre, die ihm zur Fähigkeit, sein Geschlecht
wieder fortzupflanzen, bestimmt sind.

[Seite 108]

Der Körper hat dann sein volles Wachs-
thum und Festigkeit erreicht, die ihm in der
vorhergehenden Periode noch mangelten; und
hat doch zugleich noch alle die saftreiche Ge-
schmeidigkeit, die ihm das höhere Alter meist
wieder entzieht. Denn man rechnet, daß im
männlichen Alter, in einem Körper, der ge-
gen 6 Fuß hoch ist, und etwa 150 Pfund
wiegt, die eigentlich festen Theile doch nur
1/10 ausmachen, da das gebleichte Gerippe
kaum 1/15, und hingegen das Blut allein 1/5
jenes Gewichts, (also ohngefähr 30 Pfund)
ausmacht. Und wie Beobachtungen über das
Verbrennen der Leichen gelehrt haben, so
kann man die bloß ausgebrannte Asche eines
ganzen erwachsenen Körpers, dessen cubischer
Gehalt doch wenigstens 2 und ¾ Fuß betrug,
bequem in beyde Hände auffassen.

Im letzten Stadium der menschlichen Le-
bensbahn, sucht die wohlthätige Natur all-
gemach die Bande lockerer zu machen, die in
den vorigen beyden, den Menschen an die
[Seite 109] übrige irdische Schöpfung fesseln konnten.
Seine äußern Sinne legen allmählich ab. Zu-
erst gewöhnlich das Gehör, das ihn mit der
moralischen Welt in die nächste Verbindung
setzte. – Eben so auch sein Gedächtniß, und
die immer mehr, von ihrem sonstigen Feuer
verlierende Phantasie.

So wird der Mensch der vor Alter stirbt,
endlich zum zweytenmahl Kind.

Sein Wirkungskreis wird immer enger
und enger. Er selbst immer hülfsbedürftiger.
Und wer viel solcher kraftloser kindischer Al-
ten gesehen, der wird es fürwahr der Natur
Dank wissen, das sie nur wenige Menschen,
dieses von so vielen so sehnlich gewünschte
hohe Lebensziel erreichen läßt. Denn man
rechnet, daß von 1000 nur ohngefähr 78 die-
ses Todes, – des Todes vor Alter, – sterben.

Für jenes Ziel läßt sich zwar kein be-
stimmtes Lebensjahr angeben. David sang:
‘„Unser Leben währet 70 Jahr, wenns hoch
kommt sinds 80 Jahr.”’ – Doch möchte man
[Seite 110] sagen 84. – Wenigstens scheint sich diese Be-
merkung zu bestätigen, daß in Verhältniß
ziemlich viele Alte das 84ste Jahr erreichen,
hingegen auffallend wenige es überleben.

Keinem andern Säugthiere hat die Na-
tur, in Verhältniß zu seiner körperlichen
Größe etc., ein so ausnehmend langes Leben
zugestanden, als dem Menschen. Aber auch
alle Termine seines physischen Lebenslaufs,
hat sie weiter, als bey irgend einem andern
dieser Thiere, hinausgesetzt. Keins bleibt so
lange Kind, keins lernt so spät auf die Beine
treten, keins kriegt so spät sein Gebiß, keins
wechselt seine Zähne so spät, keins wird so
spät mannbar u.s.w.

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Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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