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GOETTINGER
TASCHEN-CALENDER
VOM JAHR 1776.

BEY IOH. CHR. DIETERICH

Skize von Anthropologie.

[Seite 62]

Die Theile unsers Körpers sind theils flüs-
sige, theils feste. Die ersten Anfänge
bestehen aus Fasern oder zellichten Blättchen,
und bilden gröstentheils Gefäße, Hölen, u.a.
Werkzeuge, in denen die erstern abgeschieden,
andern Theilen zugeführt, und von diesen
aufgenommen werden. Das richtige Ver-
[Seite 63] hältnis dieser einfachen Theile gegen einander
ist eine der wichtigsten Stützen der Gesund-
heit, die man in der gehörigen Ausübung
der Geschäffte des körperlichen Lebens suchen
kann. Die Aerzte haben die Verrichtungen
des thierischen Körpers in drey Classen einge-
theilt. Zur ersten rechneten sie die, deren
ununterbrochene Thätigkeit zum Leben völlig
unentbehrlich ist: wohin sie den Blutumlauf
und die Verrichtungen des Gehirns, beym
gebohrnen Menschen auch das Athemholen,
zälten. Eine zweite Claffe begreifft solche Ge-
schäffte die besonders die Ernährung des Kör-
pers betreffen, die Säfte aus den Narungs-
mitteln, die wir zu uns nehmen, dem Blute
zuführen, sie den Bestandtheilen unsers Kör-
pers ähnlich machen und sie mit denselben
verbinden; wohin besonders die Würkung
des Magens, des Darmkanals, und der
mehresten übrigen Eingeweide des Unterleibes
gehören. Zur dritten rechneten sie endlich
alles, was die wechselseitigen Verhältnisse
betrifft, in denen der Leib des Menschen und
seine Seele stehen; dieß wären äusere und
innere Sinnen, Leidenschaften, und die Be-
wegung der willkürlichen Muskeln.

Um diese dreyerley Geschäffte in gehöri-
ger Würksamkeit zu erhalten, war eine un-
begreifliche Menge von zusammengesetzten
Werkzeugen, von Rädern und Triebfedern
nöthig, die die Maschine in fortdaurendem
Laufe erhalten sollten. Zuerst brauchte es
beynahe drittehalbhundert Knochen (wir reden
vom erwachsenen Menschen) die durch Bänder
unter einander verknüpft, das Gerippe aus-
[Seite 64] machen, und den weichern Theilen zur Stü-
ze dienen sollten. Beynahe fünftehalbhundert
Muskeln sind mit ihren Enden gröstentheils
an diesen Knochen befestigt, und dienen be-
sonders zur Bewegung die durch Nerven in
ihnen erregt wird.

Eine unendliche Menge von hohlen Röh-
ren, die theils Blut, theils Wasser, theils
milchichte Säfte enthalten, führen diesen und
den übrigen Theilen des Körpers Nahrung
zu, wozu eine eben so beträchtliche Anzahl
von weißen markichten Fäden kömmt, die
wir unter dem Namen der Nerven kennen, die
aus dem Gehirn und Rückenmark entsprin-
gen, und den ausgedehntesten Einfluß auf
alles Bewußtseyn, Bewegung, und überhaupt
auf die Verbindung der Seele mit dem Kör-
per haben. Noch sind endlich eine Menge
Drüsen und besondere Eingeweide von un-
gleichem Bau da, denen auch die äusern Um-
kleidungen des Leibes beygezält werden kön-
nen; die zur Abscheidung oder Aufnahme
verschiedener Säfte und zu ähnlichen Geschäff-
ten bestimmt sind.

Dieß ganze Gebäude würde vermöge
seiner Bestandtheile bald in Verderbnis und
Fäulung übergehen, wenn nicht die in ihm
enthaltenen Säfte in einer ununterbrochenen
Bewegung erhalten würden; es würde in der
Folge abgenutzt und auf die Weise vernich-
tet werden, wenn nicht die Stimme der Na-
tur uns durch Hunger und ähnliche Bedürf-
nisse reizte, Nahrungsmittel zu uns zu neh-
men, die das was wir in jedem Augenblicke
[Seite 65] von der Masse unsers Körpers verlieren, in
Proportion ersetzen müssen, das vorzüglichste
Werkzeug, wodurch das erste der gedachten
Vorbeugungsmittel erhalten wird, ist das
Herz. Fast jedes Thier, vom Menschen zum
Wurme herab, nur die etwa ausgenommen,
die sich in ihrem Bau den Pflanzen nähern,
hat ein solches Eingeweide, das sein Blut
oder den Saft der dessen Stelle bey ihm
vertritt, wechselsweise von sich stöst und wie-
der aufnimmt. Von ihm entspringen, wie
Zweige eines Stammes, eine Gattung fester
elastischer Canäle, die wir Schlagadern (Ar-
terien) nennen, die theils durch den Trieb
des Herzens (das sich bey jedem Pulsschlage,
und hunderttausendmal in jedem Tage zu-
sammenzieht) theils durch eine ihnen eigene
Kraft das Blut in den ganzen Körper ver-
theilen, und in ihren feinsten Enden die An-
fänge einer andern Gattung von Adern (Ve-
nen oder sogenannte Blutadern) machen, die
eben dieses Blut von ihnen aufnehmen, sich
in dickere Aeste vereinigen, und sich endlich
wieder ins Herz ergießen.

Die Lungen, zwey beträchtliche Einge-
weide der Brust, zwischen denen das Herz
liegt, beweisen sich erst nach der Geburt des
Menschen thätig. Sie leisten dann mit Hülfe
des Zwergfells den wichtigsten Dienst beym
Athemholen, und auf mehr als eine Weise
auch beym Blutumlaufe, da sie vielleicht das-
selbe abkühlen etc.

Das beständige Reiben des schnell fort-
laufenden Bluts an den Wänden seiner Ca-
[Seite 66] näle, würde leicht dieselben abnutzen, und
das Blut selbst sich ebenfalls verzehren, wenn
nicht der gedachte Trieb uns zum Essen und
Trinken, oder zum Ersatz der verlohrnen Thei-
le des Leibes, einladete.

Was wir durch den Mund zu uns neh-
men, wird mit Speichel vermischt, durch die
Gewalt vieler aber kleiner und zusammen
würkender Muskeln dem Magen zugeführt,
der es dann in die Därme überläst, die man
nach ihrer Form in dünne und dicke einge-
theilt hat. Hier wird bald anfangs Galle
und der Saft der grosen Magendrüse den
Speisen beygemischt, und in der Folge der
feinste Theil der Nahrungsmittel von unzäli-
gen kleinen Gefäßen eingesogen, durchs Ge-
kröse, an das die Därme befestigt sind, ge-
leitet, und einer einfachen Röhre zugeführt,
die hinten am Rückgrade hinaufsteigt, und
sich endlich oben in der Brust unter den
Schlüsselbeinen in eine der gedachten Blut-
adern ergießt. So kömmt also ein Theil un-
srer Nahrungsmittel durchs Blut zum Her-
zen, von dem es zum Theil nach andern Ein-
geweiden gebracht wird, die aus dem Blute
wieder die überflüßigen Säfte abscheiden sol-
len. Man bemerkt hierbey, daß immer die
Eingeweide um so mehr Blut erhalten, je
wichtiger sie selbst, und die Säfte sind, die
sie in der thierischen Oekonomie abscheiden
sollen. So erhält z.B. das Gehirn allein den
sechsten Theil der ganzen Blutmasse des Körpers.

Die Leber, ein großes Eingeweide des
Unterleibes, scheidet die Galle vom Blu-
te, sammlet sie (wenigstens beym Menschen
[Seite 67] und vielen Thieren) zuerst in ein eignes Be-
hälter, von da sie sich wieder in die Därme
ergiest und die Verdauung der Speisen be-
fördert.

Vermuthlich dient die Milz zu einem
ähnlichen Zwecke, wenigstens das Geschäft
der Leber zu erleichtern.

In den Nieren scheidet sich der Harn
vom Blute; sammlet sich in einer großen
Blase, und kann von da nach Willkühr aus-
geleeret werden. So werden ferner, die Thrä-
nen, der Speichel, das Ohrenschmalz etc. ab-
geschieden, und das was in den Därmen von
den Speisen zurückblieb von ihnen ausge-
worfen.

Alles was der gesunde Mensch auf die
Art auswirft, von dem abgerechnet, was er
in gleicher Zeit, z.B. täglich zu sich nimmt,
bleibt immer noch ein beträchtliches mehr als
die Hälfte des Ganzen übrig, das durch keinen
der bisher gedachten Wege, sondern durch
die feinsten Oeffnungen der Haut, in der
Oberfläche unsers Körpers ausgedünstet wird.
Es hat Aerzte gegeben, die, um das Ver-
hältnis zwischen diesen so verschiednen Aus-
lerungen genau zu bestimmen, sich selbst mit
allem dem was sie täglich aßen und tranken,
und was sie wieder durch die gewöhnlichen
Wege von sich gaben, aufs genauste und an-
haltend abgewogen haben. Einer von ihnen,
Sanctorius, ein Italiäner, der einen großen Theil
seiner Lebenszeit blos dieser Untersu-
chung gewidmet hat, glaubt gefunden zu ha-
[Seite 68] ben, daß von acht Pfunden, die ein Mensch
etwa täglich zu sich nähme, nur drey durch
den Stulgang, Harn etc. abgingen, fünf aber
durch die Haut dünsteten.

Den Eindruck der Dinge die auser uns
sind, empfinden wir durch fünf besondre Werk-
zeuge die wir Sinne nennen. Beym Ge-
höre wird das ausgespannte Trommelfell durch
die Bewegung der äußern Luft erschüttert, da
sich dieses Zittern vermittelst Knochen von äu-
serster Härte und sonderbarem Bau einem sehr
weichen markichten Nerven mittheilt, der die
Empfindung davon zum Gehirne führt. Wir
sehen; wenn die Lichtstralen die in unser Au-
ge fallen, nachdem sie in verschiedenen Feuch-
tigkeiten gebrochen worden, ein Bild auf der
innersten Haut des Auges abmalen, die ei-
gentlich aus einem bloßen Nervenmark besteht.

Der Geruch hat seinen Sitz in einer ner-
vichten schleimichten Haut der Nase. Beym
Schmecken werden die Zungenwärzchen vorzüg-
lich angegriffen. Das Gefühl endlich ist bey-
nahe im ganzen Körper vertheilt, und selbst
die übrigen vier Sinne beruhen in einer
Art von Gefühl. Doch gibt man besonders
diesen Namen einer Empfindung, die von der
Härte oder Weiche, Wärme oder Kälte der
Körper, auf unsrer Haut verursacht, und von
ihren Nerven dem Gehirn und dem Bewust-
seyn der Seele mitgetheilt wird.

Alle Nerven, sowol die den Sinnen zu-
behörigen, durch welche die Seele Vorstellun-
gen und Begriffe erhält, als diejenigen die
[Seite 69] nach dem Entschlusse der Seele die Muskeln
(wenige ausgenommen die unwillkürlich sind)
zu gewissen Handlungen bestimmen sollen,
reduciren sich mit ihren Anfängen aufs Ge-
hirn oder Rückenmark, das doch als eine
Fortsetzung von jenem anzusehen ist. Es ist
eine Demüthigung für den menschlichen Ver-
stand, daß selbst die Seelen der grösten Wei-
sen ihrer Zeit, noch nicht haben über ihren
eignen Wohnplatz eins werden können. Hy-
pothetisch ist er wol da wo die allerersten
Anfänge der Gehirnnerven entspringen! aber
nun den Ort näher zu bestimmen, verbietet
dem Zergliederer der weiche breyänliche Stoff
des Gehirns.

Beynahe herrscht eine gleiche Finsterniß
über einem andern gleich wichtigen Punkt
der thierischen Oekonomie, dem Zeugungsge-
schäfte. Nach allem was seit Jahrtausenden
von den tiefsinnigsten Männern über die Fort-
pflanzung des Menschen gesagt worden, sind
wir gerade nur unmerkliche Schritte weiter,
als der Vater der Weltweisen und der Va-
ter der Aerzte ihrer Zeit waren. Welches
Geschlecht den mehresten Antheil am Zeu-
gungswerke habe, wie die Empfängnis erfol-
ge etc. alles dieß sind Fragen, die tausendmal
der Natur vorgelegt worden, die aber auch
eben so tausendmale mit Stillschweigen geant-
wortet hat. Alles was die Zergliederung leh-
ret, ist, daß sich bald nach der Empfängnis
ein Ey in der Gebärmutter zeigt, das den
werdenden Menschen einschließt, der in ihm
wächst, durch die Nabelschnur von der Mut-
ter Blut zugeführt bekömmt und zurück schickt,
[Seite 70] und der nach etwa 40 Wochen aus seinem
Kerker hervorbricht und gebohren wird.

Herz und Gehirn bilden sich bey der zär-
testen Leibesfrucht am ersten aus. Erst mit
der Folge der Zeit wird sie vollkommener,
doch daß der Mensch im Leibe seiner Mutter
noch sehr von dem, der schon die Erde betre-
ten hat, verschieden bleibt. Der Fötus holt
nicht Othem, daher sind seine Lungen klein,
unthätig, zusammengedruckt. Der Kreislauf
des Bluts wird an ihrer statt durch eine
Oeffnung befödert, die zwischen beiden Herz-
kammern ist, und nach und nach erst (doch
zuweilen nicht völlig) beym erwachsenen Men-
schen verschwindet. Seine Leber ist gros, und
hat die wichtige Verrichtung, daß sie das
Blut das aua dem Mutterkuchen zurückkehrt,
durchläst, und seinen Trieb zu hemmen scheint.
Eine ungeheure Drüse füllt seine Brust an,
und verschwindet in der Folge fast gänzlich.
Seine Knochen sind anfangs leimicht und kön-
nen noch kaum Knorpel genannt werden;
sein Ohr schließt ein Fell, und seine Pupille
ein Aderhäutchen, die beide gegen die Annä-
herung seiner Geburt vergehen.

Er entwickelt sich in den ersten Mona-
ten seines Aufenthalts im Uterus viel geschwin-
der als in der Folge, da diese Entwickelung
immer langsamer und langsamer erfolgt. Ein
menschliches Ey, das sich in den ersten Tagen
nach der Empfängnis noch dem Auge des
Beobachters entzog, ist in einigen Wochen schon
zur Größe eines Taubeneyes angewachsen.
Der Unterschied in den letzten Wochen der
[Seite 71] Schwangerschafft ist hingegen sehr unmerklich.
Natürlicher weise bringt die Frau nur ein
Kind auf einmal zur Welt, selten zwey oder
drey, und wohl niemals über fünfe. Plu-
tarch glaubte, auf diesen höchsten Grad
menschlicher Fruchtbarkeit zielten die fünf Fa-
ckeln, die man Neuverehlichten vorzutragen
pflegte.

Der gebohrne Mensch wächst noch fer-
ner bis ins zwanzigste Jahr seines Alters
oder etwas drüber in die Länge, und ferner
in die Dicke. Dann bleibt er sich selbst mehr
gleich, oder wenn man will, so fängt er schon
von dieser Zeit, obgleich ganz unmerklich, an
wieder abzunehmen; (denn selbst schon in der
Jugend zeigen sich die Spuren der Abnahme,
da Gefäße verkleinert, verschlossen werden etc.)
bis im höhern Alter seine Fibern steifer, sei-
ne Kräfte schwächer werden; die Muskelfaser
ihre Reizbarkeit, der Nerve seine Empfindlich-
keit verliert, und am Ende eine kleine Flam-
me, die noch einige Zeit unterhalten war,
verlischt; da eben auch Herz und Gehirn,
die die ersten Spuren des menschlichen Da-
seyns abgaben, auch zuletzt ihrer Kräfte be-
raubt werden.

Wenn man die ganz unzälichen entfern-
ten Ursachen zu Krankheiten und Zufällen
bedenkt, die diese unbeschreibliche Maschine
betreffen können, so wird man fast an der
Existenz eines ganz vollkommen natürlichen
Todes zweifeln müssen.

Die Ungewißheit die unser Wissen bey
der Entstehung des Menschen demüthigte, be-
[Seite 72] schämt uns eben so sehr bey der natürlichen
Weise, wie wir die Welt wiederum verlassen.
Die Zeichen des wahren Todes sind so unbe-
stimmt, daß schon der ältere Plinius klagte
daß man bey dem Menschen auch nicht ein-
mal dem Tode glauben dürfe.

U.

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Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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