Table of contents

[titlePage_recto]
xxx
GOETTINGER
TASCHEN-CALENDER
VOM JAHR 1777.

BEY IOH. CHR. DIETERICH

Entwurf einer Anthropologie.

[Seite 61]

Die Theile unsers Körpers sind theils flüs-
sige, theils feste. Die ersten Anfänge
bestehen aus Fasern oder zellichten Blättchen,
und bilden gröstentheils Gefäße, Hölen, u.a.
Werkzeuge, in denen die erstern abgeschieden,
andern Theilen zugeführt, und von diesen
aufgenommen werden. Das richtige Ver-
hältnis dieser einfachen Theile gegen einander
ist eine der wichtigsten Stützen der Gesund-
heit, die man in der gehörigen Ausübung
der Geschäffte des körperlichen Lebens suchen
kann. Die Aerzte haben die Verrichtungen
des thierischen Körpers in drey Classen einge-
theilt. Zur ersten rechneten sie die, deren
[Seite 62] ununterbrochene Thätigkeit zum Leben völlig
unentbehrlich ist: wohin sie den Blutumlauf
und die Verrichtungen des Gehirns, beym
gebohrnen Menschen auch das Athemholen,
zählten. Eine zweite Classe begreift solche Ge-
schäffte die besonders die Ernährung des Kör-
pers betreffen, die Säfte aus den Nahrungs-
mitteln, die wir zu uns nehmen, dem Blute
zuführen, sie den Bestandtheilen unsers Kör-
pers ähnlich machen und sie mit denselben
verbinden; wohin besonders die Wirkung
des Magens, des Darmkanals, und der
mehresten übrigen Eingeweide des Unterleibes
gehören. Zur dritten rechneten sie endlich
alles, was die wechselseitigen Verhältnisse
betrifft, in denen der Leib des Menschen und
seine Seele stehen; dieß wären äusere und
innere Sinne, Leidenschaften, und die Be-
wegung der willkürlichen Muskeln.

Um diese dreyerley Geschäfte in gehöri-
ger Wirksamkeit zu erhalten, war eine un-
begreifliche Menge von zusammengesetzten Werk-
zeugen, von Rädern und Triebfedern nöthig,
die die Maschine in fortdaurendem Laufe er-
halten sollten. Zuerst brauchte es beynahe
drittehalbhundert Knochen (wir reden vom er-
wachsenen Menschen) die durch Bänder un-
ter einander verknüpft, das Gerippe ausma-
chen, und den weichern Theilen zur Stüze die-
nen sollten. Beynahe fünftehalbhundert Mus-
keln sind mit ihren Enden gröstentheils an
diesen Knochen befestigt, und dienen beson-
ders zur Bewegung, die durch Nerven in ih-
nen erregt wird.

Eine unendliche Menge von hohlen Röh-
ren, die theils Blut, theils Wasser, theils
[Seite 63] milchichte Säfte enthalten, führen diesen und
den übrigen Theilen des Körpers Nahrung
zu; wozu eine eben so beträchtliche Anzahl
von weißen markichten Fäden kömmt, die
wir unter dem Namen der Nerven kennen, die
aus dem Gehirn und Rückenmark entsprin-
gen, und den ausgedehntesten Einfluß auf
alles Bewußtseyn, Bewegung, und überhaupt
auf die Verbindung der Seele mit dem Kör-
per haben. Noch sind endlich eine Menge
Drüsen und besondere Eingeweide von un-
gleichem Bau da, denen auch die äusern Um-
kleidungen des Leibes beygezält werden kön-
nen; die zur Abscheidung oder Aufnahme
verschiedener Säfte und zu ähnlichen Geschäff-
ten bestimmt sind.

Dieß ganze Gebäude würde vermöge
seiner Bestandtheile bald in Verderbnis und
Fäulung übergehen, wenn nicht die in ihm
enthaltenen Säfte in einer ununterbrochenen
Bewegung erhalten würden; es würde in der
Folge abgenutzt und auf die Weise vernich-
tet werden, wenn nicht die Stimme der Na-
tur uns durch Hunger und ähnliche Bedürf-
nisse reizte, Nahrungsmittel zu uns zu neh-
men, die das was wir in jedem Augenblicke
von der Masse unsers Körpers verlieren, in
Proportion ersetzen müssen. Das vorzüglichste
Werkzeug, wodurch das erste der gedachten
Vorbeugungsmittel erhalten wird, ist das
Herz. Fast jedes Thier, vom Menschen zum
Wurme herab, nur die etwa ausgenommen,
die sich in ihrem Bau den Pflanzen nähern,
hat ein solches Eingeweide, das sein Blut,
oder den Saft der dessen Stelle bey ihm ver-
tritt, wechselsweise von sich stößt und wieder
[Seite 64] aufnimmt. Von ihm entspringen, wie Zwei-
ge eines Stammes, eine Gattung fester ela-
stischer Canäle, die wir Schlagadern (Arterien)
nennen, die theils durch den Trieb des Her-
zens (das sich bey jedem Pulsschlage, und hun-
derttausendmal in jedem Tage zusammenzieht)
theils durch eine ihnen eigene Kraft, das Blut
in den ganzen Körper vertheilen, und in ih-
ren feinsten Enden die Anfänge einer andern
Gattung von Adern (Venen oder sogenannte
Blutadern) machen, die eben dieses Blut von
ihnen aufnehmen, sich in dickere Aeste verei-
nigen, und sich endlich wieder ins Herz er-
gießen.

Die Lungen, zwey beträchtliche Einge-
weide der Brust, zwischen denen das Herz
liegt, beweisen sich erst nach der Geburt des
Menschen thätig. Sie leisten dann mit Hülfe
des Zwergfells den wichtigsten Dienst beym
Athemholen; und auf mehr als eine Weise
auch beym Blutumlaufe, da sie vielleicht das-
selbe abkühlen etc.

Das beständige Reiben des schnell fort-
laufenden Bluts an den Wänden seiner Ca-
näle, würde leicht dieselben abnutzen, und
das Blut selbst sich ebenfalls verzehren, wenn
nicht der gedachte Trieb uns zum Essen und
Trinken, oder zum Ersatz der verlohrnen Thei-
le des Leibes, einladete.

Was wir durch den Mund zu uns neh-
men, wird mit Speichel vermischt, durch die
Gewalt vieler aber kleiner und zusammen
wirkender Muskeln dem Magen zugeführt,
der es dann in die Därme überläst, die man
[Seite 65] nach ihrer Form in dünne und dicke eingetheilt
hat. Hier wird bald anfangs Galle und der
Saft der grossen Magendrüse den Speisen bey-
gemischt, und in der Folge der feinste Theil
der Nahrungsmittel von unzälichen kleinen Ge-
fäßen eingesogen, durchs Gekröse, an das die
Därme befestigt sind, geleitet, und einer einfa-
chen Röhre zugeführt, die hinten am Rückgra-
de hinaufsteigt, und sich endlich oben in der
Brust unter den Schlüsselbeinen in eine der
gedachten Blutadern ergießt. So kömmt also
ein Theil unsrer Nahrungsmittel durchs Blut
zum Herzen, von dem es zum Theil nach an-
dern Eingeweiden gebracht wird, die aus dem
Blute wieder die überflüßigen Säfte abscheiden
sollen. Man bemerkt hierbey, daß immer die
Eingeweide um so mehr Blut erhalten, je wich-
tiger sie selbst, und die Säfte sind, die sie in
der thierischen Oekonomie abscheiden sollen.
So erhält z.B. das Gehirn allein den sechsten
Theil der ganzen Blutmasse des Körpers.

Die Leber, ein großes Eingeweide des Un-
terleibes, scheidet die Galle vom Blute, samm-
let sie (wenigstens beym Menschen und vielen
Thieren) zuerst in ein eignes Behälter, von da
sie sich wieder in die Därme ergießt und die Ver-
dauung der Speisen befördert.

Vermuthlich dient die Milz zu einem
ähnlichen Zwecke, wenigstens das Geschäft der
Leber zu erleichtern.

In den Nieren scheidet sich der Harn vom
Blute; sammlet sich in einer großen Blase,
und kann von da nach Willkühr ausgeleeret
werden. So werden ferner, die Thränen, der
[Seite 66] Speichel, das Ohrenschmalz etc. abgeschieden,
und das was in den Därmen von den Spei-
sen zurückblieb von ihnen ausgeworfen.

Alles was der gesunde Mensch auf die Art
auswirft, von dem abgerechnet, was er in glei-
cher Zeit, z.B. täglich zu sich nimmt, bleibt
immer noch ein beträchtliches mehr als die
Hälfte des Ganzen übrig, das durch keinen
der bisher gedachten Wege, sondern durch die
feinsten Oeffnungen der Haut, in der Ober-
fläche unsers Körpers ausgedünstet wird. Es
hat Aerzte gegeben, die, um das Verhältnis
zwischen diesen so verschiedenen Ausleerungen
genau zu bestimmen, sich selbst mit allem dem
was sie täglich aßen und tranken, und was
sie wieder durch die gewöhnlichen Wege von
sich gaben, aufs genauste und anhaltend ab-
gewogen haben. Einer von ihnen, Sancto-
rius, ein Italiäner, der einen großen Theil
seiner Lebenszeit blos dieser Untersuchung ge-
widmet hat, glaubt gefunden zu haben, daß
von acht Pfunden, die ein Mensch etwa täg-
lich zu sich nähme, nur drey durch den Stul-
gang, Harn etc. abgingen, fünf aber durch die
Haut dünsteten.

Den Eindruck der Dinge die auser uns
sind, empfinden wir durch fünf besondere Werk-
zeuge die wir Sinne nennen. Beym Gehöre
wird das ausgespannte Trommelfell durch die
Bewegung der äußern Luft erschüttert, da sich
dieses Zittern, vermittelst Knochen von äusser-
ster Härte und sonderbarem Bau, einem sehr
weichen markichten Nerven mittheilt, der die
Empfindung davon zum Gehirne führt. Wir
sehen, wenn die Lichtstralen, die in unser Au-
[Seite 67] ge fallen, nachdem sie in verschiedenen Feuch-
tigkeiten gebrochen worden, ein Bild auf der
innersten Haut des Auges abmalen, die ei-
gentlich aus einem bloßen Nervenmark besteht.

Der Geruch hat seinen Sitz in einer ner-
vichten schleimichten Haut der Nase. Beym
Schmecken werden die Zungenwärzchen vorzüg-
lich angegriffen. Das Gefühl endlich ist bey-
nahe im ganzen Körper vertheilt, und selbst
die übrigen vier Sinne beruhen in einer Art
von Gefühl. Doch gibt man besonders diesen
Namen einer Empfindung, die von der Härte
oder Weiche, Wärme oder Kälte der Körper,
auf unsrer Haut verursacht, und von ihren
Nerven dem Gehirn und dem Bewußtseyn der
Seele mitgetheilt wird.

Alle Nerven, sowol die den Sinnen zube-
hörigen, durch welche die Seele Vorstellungen
und Begriffe erhält, als diejenigen die nach
dem Entschlusse der Seele die Muskeln (wenige
ausgenommen die unwillkürlich sind) zu gewis-
sen Handlungen bestimmen sollen, reduciren
sich mit ihren Anfängen aufs Gehirn oder
Rückenmark, das doch als eine Fortsetzung von
jenem anzusehn ist. Es ist eine Demüthigung
für den menschlichen Verstand, daß selbst die
Seelen der grösten Weisen ihrer Zeit, noch nicht
haben über ihren eignen Wohnplatz eins wer-
den können. Hypothetisch ist er wohl da wo
die allerersten Anfänge der Gehirnnerven ent-
springen! aber nun den Ort näher zu bestim-
men, verbietet dem Zergliederer der weiche brey-
änliche Stoff des Gehirns.

Beynahe herrscht eine gleiche Finsterniß
über einem andern gleich wichtigen Punkt der
[Seite 68] thierischen Oekonomie, dem Zeugungsgeschäfte.
Nach allem was seit Jahrtausenden von den
tiefsinnigsten Männern über die Fortpflanzung
des Menschen gesagt worden, sind wir gerade
nur unmerkliche Schritte weiter, als der Va-
ter der Weltweisen und der Vater der Aerz-
te ihrer Zeit waren. Welches Geschlecht
den mehresten Antheil am Zeugungswerke
habe, wie die Empfängnis erfolge etc. al-
les dieß sind Fragen, die tausendmal der Na-
tur vorgelegt worden, die aber auch eben so
tausendmale mit Stillschweigen geantwortet
hat. Alles was die Zergliederung lehret, ist,
daß sich bald nach der Empfängnis ein Ey in
der Gebärmutter zeigt, das den werdenden
Menschen einschließt, der in ihm wächst, durch
die Nabelschnur von der Mutter Blut zuge-
führt bekömmt und zurück schickt, und der nach
etwa 40 Wochen aus seinem Kerker hervor-
bricht und gebohren wird.

Herz und Gehirn bilden sich bey der zär-
testen Leibesfrucht am ersten aus. Erst mit
der Folge der Zeit wird sie vollkommener, doch
daß der Mensch im Leibe seiner Mutter noch
sehr von dem, der schon die Erde betreten hat,
verschieden bleibt. Der Fötus holt nicht
Othem, daher sind seine Lungen klein, unthä-
tig, zusammengedrückt. Der Kreislauf des
Bluts wird an ihrer statt durch eine Oeffnung
befördert, die zwischen beyden Herzkammern ist,
und nach und nach erst (doch zuweilen nicht
völlig) beym erwachsenen Menschen verschwin-
det. Seine Leber ist gros, und hat die wich-
tige Verrichtung, daß sie das Blut, das aus
dem Mutterkuchen zurückkehrt, durchläßt, und
seinen Trieb zu hemmen scheint. Eine unge-
[Seite 69] heure Drüse füllt seine Brust an, und ver-
schwindet in der Folge fast gänzlich. Seine
Knochen sind anfangs leimicht und können
noch kaum Knorpel genannt werden; sein Ohr
schließt ein Fell, und seine Pupille ein Ader-
häutchen, die beide gegen die Annäherung sei-
ner Geburt vergehen.

Er entwickelt sich in den ersten Monathen
seines Aufenthalts im Uterus viel geschwin-
der als in der Folge, da diese Entwickelung
immer langsamer und langsamer erfolgt. Ein
menschliches Ey, das sich in den ersten Tagen
nach der Empfängnis noch dem Auge des
Beobachters entzog, ist in einigen Wochen schon
zur Größe eines Taubeneyes angewachsen.
Der Unterschied in den letzten Wochen der
Schwangerschaft ist hingegen sehr unmerklich.
Natürlicher weise bringt die Frau nur ein Kind
auf einmal zur Welt, selten zwey oder drey,
und wohl niemals über fünfe. Plutarch
glaubte, auf diesen höchsten Grad menschlicher
Fruchtbarkeit zielten die fünf Fackeln, die man
Neuverehlichten vorzutragen pflegte.

Der gebohrne Mensch wächst noch ferner
bis ins zwanzigste Jahr seines Alters oder et-
was drüber in die Länge, und ferner in die
Dicke. Dann bleibt er sich selbst mehr gleich,
oder wenn man will, so fängt er schon von
dieser Zeit, obgleich ganz unmerklich, an, wie-
der abzunehmen; (denn selbst schon in der Ju-
gend zeigen sich die Spuren der Abnahme, da
Gefäße verkleinert, verschlossen werden etc.) bis
im höhern Alter seine Fibern steifer, seine Kräf-
te schwächer werden; die Muskelfaser ihre Reiz-
barkeit, der Nerve seine Empfindlichkeit verliert,
und am Ende eine kleine Flamme, die noch
[Seite 70] einige Zeit unterhalten war, verlischt; da eben
auch Herz und Gehirn, die die ersten Spuren
des menschlichen Daseyns abgaben, auch zuletzt
ihrer Kräfte beraubt werden.

Wenn man die ganz unzälichen entfern-
ten Ursachen zu Krankheiten und Zufällen be-
denkt, die diese unbeschreibliche Maschine betref-
fen können, so wird man fast an der Existenz
eines ganz vollkommen natürlichen Todes zwei-
feln müssen.

Die Ungewißheit die unser Wissen bey
der Entstehung des Menschen demüthigte, be-
schämt uns eben so sehr bey der natürlichen
Weise, wie wir die Welt wiederum verlassen.
Die Zeichen des wahren Todes sind so unbe-
stimmt, daß schon der ältere Plinius klagte,
daß man bey dem Menschen auch nicht einmal
dem Tode glauben dürfe.

U.

[Seite 134] [Seite 135] [Seite 136]


Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
This page is copyrighted