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xxx
Goettinger Taschen
CALENDER
vom Jahr
1778.
beÿ Joh. Chr. Dieterich.

Künsteleyen der Menschen an
Bildung ihres Körpers.

[Seite 59]

Die mannichfaltigen Künsteleyen der Men-
schen an Bildung ihres Körpers sind ohne
Widerrede eine der interessantsten Speculatio-
nen in der Anthropologie. Sie geben für das
Relative im Begriff von Schönheit, und für
die allgemeine Unzufriedenheit der Menschen
mit dem, was sie aus der Hand der Natur
erhalten haben, gleich starke Beweise ab. Wir
kennen kein Volk des Erdbodens, seys noch so
roh, seys noch so cultivirt, das nicht derglei-
chen Verschönerungen sollte ersonnen oder von
andern angenommen haben: und wir wissen
uns von der andern Seite weniger Theile des
menschlichen Körpers zu entsinnen, an wel-
chen nicht der Geschmack dieser oder jener Na-
tionen irgend eine Verbesserung anzubringen
getrachtet hätte. Vielleicht daß manche Ver-
suche der Art, anfänglich blos dienten um
körperliche Fehler zu decken, und unter der
Hand so weit zu gefallen anfiengen, daß man
sie auch ohne diese Fehler in Gang brachte.
So wie die Polaken zuerst Puder in die Haa-
re warfen, um ihre Wichtelzöpfe zu bergen,
und man anfangs blos Muschen brauchte, um
Flecken der Haut zu verstecken: bis endlich
Puder und Muschen auch ohne Wichtelzöpfe
und Muttermale zu den zwey wesentlichsten
Toilettenstücken erhoben wurden.

Die Kunsteleyen dieser Art betreffen ent-
weder die blose Farbe des Körpers, oder auch
[Seite 60] die würkliche Bildung desselben, und wir wer-
den aus beyden Classen die frappantsten Bey-
spiele anzuführen suchen.

Die bloße Schminke scheint eins der na-
türlichsten und unschuldigsten Verschönerungs-
mittel zu seyn; dessen Gebrauch durch sein ho-
hes Alterthum sowol, als durch seine Allge-
meinheit gerechtfertigt wird. Ueber die Erfin-
dung der Schminke giebt die Geschichte nicht
den geringsten Aufschluß; doch dürfte man aus
der Homonymie ihrer Benennung im Latei-
nischen und Hebräischen ein Argument für
ihren Phönicischen Ursprung ziehen. Ver-
muthlich hat ebenfalls Noth oder Zufall mehr
Antheil an ihrem ersten Gebrauch, als Nach-
sinnen und Erfindungskraft. Vielleicht daß
ein Mädchen nach einer Unpäßlichkeit ihre vo-
rigen Reize bald wieder dadurch herzustellen
suchte – oder ein andres den Reiz ihrer Wan-
gen durch Schaamröthe erhöht sah, und sie
daher durch Schminke beständiger zu machen
suchte – oder ein drittes sehr mal à propos
erröthete, und um dieser Unannehmlichkeit für
künftig auszuweichen, lieber ihr Gesicht mit
ewiger Röthe bezog – oder ein viertes durch
den Gebrauch der Schminke jene Züge unle-
serlicher zu machen hofte, welche die Zeit in
gewissen Jahren auch auf die schönsten Wan-
gen zu graben pflegt. Hoffentlich war doch
unter allen möglichen Fällen der letzte am we-
nigsten Ursache, warum die alten Dichter ihre
Venus sich schminken lassen, eh sie sie auf
Ida zum Paris schicken.

Roth und weis ist nicht die Universaltin-
te aller Menschenhaut, und es versteht sich da-
her von selbst, daß auch nicht alle Schminke aus
[Seite 61] diesen beyden Farben entlehnt seyn kann. Der
Südländer, der sich Ebenholz an die Stelle denkt,
die unsre Dichter mit Rosen und Alabaster
vergleichen, macht seine Schminke aus Rus,
so wie der kupferfarbne Americaner die sei-
nige aus brauner Erde und Orlean. Eine
Sammlung aller Schminke der verschiednen
Nationen würde eine Farbenpyramide abge-
ben können, und so vielfach ihre Nüancen
seyn würden, so mannichfaltig ist auch die
Art ihres Gebrauchs. Man trägt nicht alle
Schminke auf den Ort auf, wo sie würken
soll. Es giebt welche, die man wie jede Arz-
ney einnehmen muß, wenn sie rothe Backen
machen soll; und andre die man in derglei-
chen Absicht nicht im Gesichte, sondern im
Nacken einreiben muß.

Zunächst an die Schminke gränzt eine an-
dre aber minder natürliche Sitte vieler Völ-
ker, den Körper mit bunten abstechenden Far-
ben, oder gar mit allerhand Figuren zu be-
malen. Die alten Picten haben von dieser
Gewohnheit ihren Namen erhalten, und noch
itzt malen sich die Einwohner von Capo verd
himmelblau, so wie die Neuholländer die
Schwärze ihres Körpers durch weise Streifen,
womit sie sich überall bezeichnen, zu erhöhen
suchen.

Diese Art von Malerey muß sowol als die
Schminke von Zeit zu Zeit erneuert werden,
hat aber von der andern Seite den Vortheil,
daß man sie auch verändern oder gar verwi-
schen kann. Dieß alles fällt bey einer an-
dern, und ungleich allgemeinern Gewohnheit
weg, die beynah über die ganze Erde herrscht,
die man unter dem Namen des Tatouirens
[Seite 62] kennt, und die darinn besteht, daß man al-
lerhand Figuren mit Nadelstichen, oder mit-
telst gespitzter Zähne in die Haut zeichnet, und
erst alsdenn Farbe in diese kleinen Wunden
reibt. In Asien, in America, und in den
neuerlich entdeckten Südländern, ist diese Sitte
fast durchgehends gebräuchlich. Bey den Aleu-
ten auf den Insuln des nordischen Archipela-
gus, nennt man es ausnehen, weil wirklich
ein mit Kienruß beschmierter Faden, unter
der Oberhaut durchgezogen wird. Hr. Nie-
buhr hat uns die Zeichnung von einem ar-
tigen arabischen Mädgen gegeben, die ihr
Gesicht eben sowohl durch eingekratzte Stri-
che zu verschönern glaubte, als die häßlichen
Bewohner des nordöstlichen Asiens die Tschuk-
tschen oder als die Tungusen. In America
herrscht das Tatouiren von Norden bis Süden
fast durchgängig, die Damen unter den Es-
quimaux punktiren sich die Lippen, und Par-
kinson hat Bildnisse der Feuerländer geliefert,
wo beyde Geschlechter vielfache Striche auf der
Stirn, Backen, und über der Nase hatten.
Wie weit man diese Kunst bey den Utaheiten
und Neuseeländern gebracht habe, bedarf jetzt
keine Erwähnung, da Bougainville und Par-
kinson so gut als irgend ein Taschen-Kalen-
der Toilettenlectüre worden sind.

Die vornehmen Tatarinnen färben sich die
Nägel mit einer Salbe, wozu uns Hr. Pal-
las das Recept aufbehalten hat. Sie neh-
men die gemeine Garten-Balsamme, trocknen
und pulvern sie, und setzen sie mit Alaun an,
Beym Gebrauch wird sie mit frischem Gän-
sekoth vermischt, und so eine Nacht über auf
die Nägel gebunden.

[Seite 63]

Wir gehen zu denen Proceduren über, wo
man ganze Theile vom Körper abgesondert hat.
Ein Beyspiel der Art ward zuerst von Gott
zum Zeichen seines Bundes mit Abraham be-
stimmt, und hat in heißen Himmelsstrichen
einen ungezweifelten physischen Nutzen. Schon
die ältsten Aegyptier, Colcher und Aethiopier
haben die gleiche Sitte angenommen, und man
hat sie neuerlich auch bey den Utaheiten vor-
gefunden, so wie in vielen Gegenden von Asien
und Africa die gleiche Operation mit ähnli-
chen Theilen am andern Geschlechte, und eben-
falls aus physischen Absichten vorgenommen
wird.

Aus einem unglücklichen Vorurtheil für
die Arbeitsamkeit und Fertigkeit im Laufen,
berauben die Hottentotten ihre Knäbgen eines
andern Theils ihres Körpers. Doch scheint
die mindere Fruchtbarkeit, die man bey diesem
Volke wahrgenommen haben will, den Satz:
daß die Hälfte weniger sey als das Ganze, auch
hier vollkommen zu rechtfertigen.

In die Nachbarschaft dieser Gebräuche müs-
sen wir auch das Rasiren und die gänzliche
Vertilgung der Haare setzen. Die Buratten
dulden, so wie die Esquimaux, blos ein kleines
Stutzbärtgen am Kinne und vertilgen hinge-
gen alle übrige Haare im Gesichte. Die Uta-
heiten leiden keine Haare unter den Achseln,
und beschuldigten die Europäer, bey denen sie
das Gegentheil fanden, mit recht einer Mal-
properté. Kopfhaar und Bart ausgenommen,
rotten die Türken alle übrigen Haare am Kör-
per völlig aus, so wie im Gegentheil die mehr-
sten Americaner kein Barthaar dulden; eine
Sitte die zu der alten Sage Anlaß gegeben
[Seite 64] hat, daß die Bewohner der neuen Welt von
Natur unbärtig wären. Wir wissen nun aber
mit Gewißheit, daß viele Völker in America,
und zwar aus den verschiedensten Zonen, ih-
ren Bart allerdings wachsen lassen; und daß
die übrigen den ihrigen durch Kunst und mit-
telst verschiedner Werkzeuge, die wir nun ge-
nau genug kennen, zu vertilgen wissen.

Es bleiben uns noch diejenigen Gebräuche
anzuzeigen, übrig, wo man den Körper durch
Unbildung und Zwang gewisser Theile zu ver-
schönern glaubt; wohin z.B. das Pressen der
Kinderköpfe bey vielen Völkern gehört, eine
Sitte, deren Hippocrates schon von den ältsten
Scythen erwähnt, und von der sich die Spu-
ren in allen Welttheilen vorfinden lassen. Noch
im vorigen Jahrhunderte drückte man in
Deutschland die Mädgenköpfe mit Gewalt in
die Länge, damit ihnen die Fontangen desto
besser sitzen sollten. Die Arakaner legen ihren
Kindern schwere Bleyplatten auf die Scheitel,
um sie niederzudrücken; und von den Künste-
leyen, am gleichen Theile, haben zwey ganze
Nordamericanische Nationen den Namen Ku-
gelköpfe (Têtes de Boule) und Plattköpfe (Tê-
tes plates
) erhalten. Keine Nation scheint
mit ihrer natürlichen Bildung unzufriedner,
und sorgfältiger sie umzuschaffen, als die Chi-
nesen. Sie bilden ihre Köpfe nach einem, in
unsern Augen, sehr unförmlichen Oval. Sie
zerren die äussern Augenwinkel in die Höhe;
dulden nur wenige Haare im Bart und auf
dem Kopfe; ziehen die Nägel an ihren Hän-
den, die auch ohne das Beschneiden schon durch
den Gebrauch allmählich abgenutzt werden
würden, sorgfältig bis zur halben Länge der
[Seite 65] Finger, und ihre Damen quetschen sich die
Füße so unförmlich klein, bis sie zum Gehen
völlig unbrauchbar werden.

Die Malabaren, die Bewohner der Mo-
lucken, und der Oster-Insel auf dem stillen
Meer, ziehen ihre Ohrläppgen bis auf die
Schulter herab; und alte Völker mit gleicher
Gewohnheit haben wohl zu dem alten Gerüch-
te von Menschen mit so ungeheuren Ohren,
daß sie statt Mäntel dienen könnten, Anlaß
gegeben.

Das Abschneiden der Nägel gehört un-
streitig auch hieher, auch unsere Ohrlöcher.
Verschiedene Völker durchbohren sich die Schei-
dewand zwischen den Naselöchern, und hängen
große Ringe hinein; und einige in der Süd-
See stecken zierlich gearbeitete Stücke Selenit,
oder einen Knochen queer durch. Eine der
merkwürdigsten Verschönerungen ist unter den
Aleuten im nordischen Archipelagus gebräuch-
lich. Sie stecken sich nemlich Wallroßzähne
durch die Lippen und die Backen, um jenen
See-Ungeheuern gleich zu scheinen. Auch Pa-
ter Sepp merkt an, daß die Einwohner von
Paraguay sich kleine Knochen und Federn in
die Backen steckten.

Wir eröfneten den gegenwärtigen Artickel
mit der Schminke, deren Gebrauch wir sehr
natürlich fanden. Hoffentlich liesse sich das
gleiche wohl von den Schnürbrüsten behaup-
ten, denen wenigstens die Aerzte der neuern
Zeit sehr vieles ungegründet Nachtheiliges auf-
zubürden gesucht haben. Auch das Alterthum
scheint den künstlichen Mitteln schlanke Taille
zu bilden, das Wort zu reden. Es war dies
schon das Studium der alten griechischen Müt-
[Seite 66] ter, und bey aller der unbeschränkten Achtung,
die wir gegen die Verdienste des Ritters Linné
hegen, werden wir uns doch nie so weit ver-
gessen können, daß wir unsere geschnürten Da-
men mit ihm für Misgeburten halten, und
den verstümmelten Hottentotten, deren wir
oben Erwähnung thaten, zugesellen sollten.

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Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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