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Medicinische
Bibliothek
herausgegeben
von
Joh. Friedr. Blumenbach,
der Medic. Prof. ord. zu Göttingen.
Dritten Bandes erstes Stück.
FR. HOFFMANN.xxx

Prüfet alles, und das Gute behaltet.


Göttingen,
bey Johann Christian Dieterich,
1788
.
[Seite 7] [Seite 8]

VIII.
Hr. Hofr. Siebold von einem Kacker-
lacken in Würzburg.*)

[Seite 161]

Vorerinnerung des Herausgebers.

Die nächstfolgenden Aufsätze geben eine auffallende
Bestätigung der freylich oft ganz natürlichen Erfahrung,
daß zuweilen Dinge blos deshalb lange Zeit übersehen
werden, weil man sie gar nicht erwartet, für viel zu
selten hält etc. die doch nachher, wenn sie einmal rege
gemacht sind, und erst ein wenig Sensation gemacht haben,
häufig genug beobachtet werden. So gings anfangs mit
den Basalten und manchen andern Naturmerkwürdigkeiten.
Und so scheints in der That auch mit den Kackerlacken zu
gehen.

Seit ich von den beiden Savoyischen Albinos, wie
ich sie zu Chamouni beobachtet habe, einiges bekannt ge-
macht, bin ich aus ganz verschiedenen Gegenden mit
Briefen beehrt worden, worin ich Nachrichten von eben
dergleichen daselbst befindlichen Patienten erhalte. Und
nun erst glaube ich, daß die ganze Sache die ernsteste
Aufmerksamkeit einsichtsvoller Aerzte verdient, wenn man
[Seite 162] sieht, daß das lästige Uebel so ungleich häufiger ist, als
man sich noch vor wenigen Jahren träumen ließ.

* * *

Der Junge, von dessen Kopfe beyliegende Haare
abgeschnitten sind, heißt Johann Hillebrand,
ist aus Würzburg gebürtig und nunmehr (1787)
17 Jahre alt.*) Der Vater ist Tagelöhner, hat
schwarze Haare; die Mutter braune. Sie hat vor
der Geburt dieses Kindes 2 Knaben geboren, und
auf dasselbe 4 Mädchen, alle mit schwarzen Haa-
ren. Als dieser geboren wurde, hat er, nach Aus-
sage seiner Mutter, gar keine Pupillen gehabt,
(vermuthlich waren sie durch die membrana pu-
pillaris
verschlossen); er blieb länger als ein halb
Jahr nach der Geburt blind, und dieß machte
den Eltern viele Sorgen. Nach einem halben J.
oder etwas länger, entdeckten sie die Pupillen in
beiden Augen, und nun konte er auch mehr sehen.
[Seite 163] Ehe aber selbst die Pupillen geöffnet waren, war
er so lichtscheu, daß er Sonnen- oder helles Lam-
pen-Licht durchaus nicht vertragen konnte, sondern
das Gesicht sogleich wegwandte. Dieß macht ihm
auch itzt noch die meiste Beschwehrde; denn muß
er bey hellem Sonnenlichte gehen oder arbeiten,
so schließt er die Augen beynahe gänzlich zu, und
wendet das Gesicht unter sich zu Boden. Dabey
kommt es ihm sehr wohl zu statten, daß er ein
so dickes fleischigtes Gesicht und so tiefliegende
Augen hat. Bey Nacht sieht er nicht allein
nicht schärfer als andere, sondern weniger; er wird
blind. Am besten sieht er bey hellem Wetter, nur
darf ihm die Sonne nicht prall auf die Augen
scheinen. Gegen Abend und bey trübem Wetter
sieht er weniger; und je dunkler es wird, desto
schwächer wird sein Gesicht, so, daß, bey
einem gewissen Grade von Dunkelheit, wobey an-
dere noch große Gegenstände unterscheiden können,
dieser Junge völlig erblindet. Die iris ist so
dünne und durchsichtig, daß man durch sie die
ganze innere Höle des Auges übersehen kan,
welche nicht allein durch die Pupillen, sondern
durch die iris selbst rosenroth durchscheinet. Diese
Durchsichtigkeit läßt sich am deutlichsten in einem
nicht allzuhellen Zimmer beobachten; wo man
alsdann nur etliche kleine blaue Streifen undurch-
[Seite 164] sichtig findet, das übrige aber, wie ein dünnes
Goldschlagerhäutchen, durchsichtig ist. Ein an-
dermal sah ich ihn unter freiem Himmel bey
Sonnenlicht,
und damals schien mir die iris schön
blau
und undurchsichtig.*) Dann konte ich die
Röthe nicht anders als durch die Pupillen unmit-
telbar bemerken. Die Pupillen sind stets klein
und zusammengezogen, ja selbst bey allen Ver-
suchen Licht und Schatten anzubringen unbe-
weglich. Ich schreibe es der Gewohnheit zu,
weil die Pupillen noch so lange nach der Geburt
durch die membr. pupillaris verschlossen blieben.†)
[Seite 165] Beide Augen sind in beständiger Bewegung von
einer Seite zur andern; sie schwanken hin und
her ohngefähr von einerley Geschwindigkeit mit dem
Schlage einer Sackuhr, so zwar, daß der Knabe
nicht im Stande ist, seine Augen auf eben und den-
selben Punct unbeweglich gerichtet zu erhalten –
auch ist er kurzsichtig. So viel von den Augen.
Doch schier hätte ich eines sehr sonderbaren Um-
standes vergessen. Der Junge hat in der Schule
lesen gelernt; allein wenn man ihm das Buch wie
gewöhnlich vor die Augen hält, so daß die Zeilen von
der Linken zur Rechten laufen, so kennt er keinen
Buchstaben! – Will er lesen, so muß er das Buch
quer halten, so daß die Zeilen aufwärts laufen.
Dabey hält er den Kopf gerade, und sieht auch
alle übrigen Gegenstände gehörig: gerade, schief,
quer in eben der Lage, in der man sie ihm vorhält.

Seine Kopfhaare sind von eben der weissen
Farbe als cilia und supercilia.

Seine Haut und Oberhaut ist übrigens ganz
ohne Fehler, so weiß, wie es bey blonden Leuten
gewöhnlich ist. Im Gesichte schön roth. – Beym
stärksten Reiben läßt sich nichts Schuppen- oder
Kleien-artiges bemerken. Auf dem Rücken oder
Händen, welche durch Arbeit abgehärtet sind,
glänzet zwar die Oberhaut ein wenig, und hat fast
[Seite 166] das Ansehen wie Schuppen; die aber nichts weni-
ger als beym Reiben abfallen. Aber eben dieses
bemerkte ich manchmal bey Rothhaarigen, die
überdem noch Sommersprossen auf den Händen
haben*).

Uebrigens ist der Junge gesund, außer daß er
itzt rheumatische Beschwehrden am rechten Schen-
kel hat; er schwitzt leicht und stark. Im dritten
Jahre seines Alters hat er die Blattern gehabt;
sie liefen sehr erträglich und leicht ab; im Gesichte
trug er derselben kaum sechse davon.

Endlich muß ich noch die angebliche Ursache der
Sonderbarkeit dieses Menschen hersetzen, man mag
davon glauben, was man will. Die Mutter ver-
sichert: sie sey im dritten Monate ihrer Schwan-
gerschaft in ein Haus gegangen, wo ein weisses Ca-
ninchen mit rothen Augen vor ihr hergesprungen
sey; sie habe darauf getreten, es sey aber dagegen
an ihr aufgesprungen, und habe stark geschrieen;
und im Schrecken sey sie mit den Händen an die
Augen gefahren.


Notes
*).
[Seite 161]

Die Anmerkungen sind von dem jüngern Hrn. Sie-
bold,
einem ausnehmend fleißigen, hoffnungsvol-
len jungen angehenden Arzte.

*).
[Seite 162]

Dabey ist der Junge für sein Alter von sehr kleiner
Statur. Ich habe ihn nie höher als auf 11 J.
geschätzt. Ein Umstand, der auch bey den beiden
in der Commentat. de oculis leucaethiopum beschrie-
benen Subjecten S. 6. eintrifft.

Ueberdieß hat der Junge etwas verschlagenes
an sich und so lichtscheu er ist, so wenig men-
scheuscheu ist er. Ich habe ihn sich manchmal
tüchtig auf der Straße mit andern Jungen her-
umschlagen gesehen.

*).
[Seite 164]

Der völlige Fall, wie der an dem Kackerlacken, den
Voltaire und Maupertuis beobachteten.

†).
[Seite 164]

Dieß paßt vollkommen auf den in der Commentat.
de oculis leucaethiopum et iridis motu
angegebenen
Nutzen der membrana pupillaris. Es muß also die
membrana pupillaris zur rechten Zeit bersten, damit
nicht die iris ihr specifikes Vermögen sich zusammen
zu ziehen oder auszudehnen verliere. Aber zugleich
ein accessorischer Beweiß für die vis vitalis propria
dieses Theils. Denn hätte die Beweglichkeit der iris
blos ihren Grund in dem auf den Reiz des Lichtes
erfolgenden stärkern Zufluß des Blutes, und der
dadurch aus dem geschlängelten Laufe in geradere
Richtung gestreckten Gefäße, warum sollte dieselbe
Würkungsart auch nicht nach der später eingefalle-
nen Zernichtung der membrana pupillaris statt finden.

*).
[Seite 166]

Da in der Comment. de oculis leucaeth. aus Grün-
den der wechselseitige Einfluß der Haut auf diesen
Augenfehler dargethan wird, so wäre es vielleicht
der Mühe werth zu beobachten, wie sich überhaupt
in manchen Hautkrankheiten das Auge verhielte.



Blumenbach, Johann Friedrich, Siebold, Carl Caspar and Siebold, Georg Christoph. Date:
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