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Medicinische
Bibliothek
herausgegeben
von
Joh. Friedr. Blumenbach.

Dritten Bandes drittes Stück.
H. BOERHAAVE.xxx

Prüfet alles, und das Gute behaltet.


Göttingen,
bey Johann Christian Dieterich,
1791
.

III.
Wie der Geschlechtstrieb der Menschen in
Ordnung zu bringen und wie die Men-
schen besser und glücklicher zu machen
von Dr. Bernh. Christ. Faust (Gräfl.
Schaumburg-Lippischen Hofrath und
Leibarzt). Mit einer Vorrede von J.H.
Campe. Braunschweig
1791. 226 und
XXVIII Seiten in
8.

[Seite 400]

‘“Dieß Buch wird Aufsehen erregen”’ sagt sein
Verf. und ich hoffe und wünsche von ganzem Her-
zen, daß er wahr prophezeiht haben mag. Denn
es enthält allerdings so manche wichtige und nütz-
liche Bemerkung, daß es sehr schade wäre wenn
diese nicht allgemein beherzigt, und wenigstens
zum Theil befolgt werden sollten.

Der Verf. findet eine Hauptursache des physi-
schen und moralischen Verderbens des jetzigen cul-
tivirtern Menschengeschlechts in der übertriebnen
vorzeitigen Reife der Jugend, zumahl des männ-
lichen Geschlechts, da die Knaben schon im zwölften
Jahre – statt im sechzehnten – Saamen berei-
ten. Und gibt die Schuld dieser allzufrühen Reife
[Seite 401] auf die Hosen, die, wie es S. 151 heißt, die
Knaben unzeitig und übertrieben früh reif machen,
und den Körper und die Seele des Menschen sehr
verderben.

Auch die Brüche und das große Elend das
dieselben über das Menschengeschlecht bringen, rüh-
ren (nach S. 59 u.f.) meistentheils von den Hosen
her. Allein in Deutschland, kommen, wie der
Verf. glaubt, in einer Generation, wenigstens
hunderttausend Brüche und elende Menschen, –
von denen der vierte Theil, 25000, durch die
größten Qualen ihr Leben verlieren – auf Rech-
nung der Hosen.

Er rathet also diese seiner Ueberzeugung nach
so verderbliche Kleidung in der Kindheit und bis
zum funfzehnten Lebensjahre ganz abzuschaffen;
und stellt zum Erweise der Vortheile die aus dem
freyen Zutritt der Luft an die Geschlechtstheile ent-
stehen, die Bergschotten die er ausnehmend er-
hebt, als Muster dar.

Hingegen empfiehlt er für die Jugend, zumahl
unter dem Landvolk, eine gleichförmige Kleider-
tracht, bey der besonders durchaus kein Geschlechts-
unterschied beobachtet werde, sondern Knäbchen
und Mädchen vollkommen gleich gekleidet seyn
sollen. Denn sicher und gewiß liegt (wie sich der
[Seite 402] Verf. S. 87 ausdrückt) in der ganz verschiednen
Kleidertracht der Kinder nach den Geschlechtern,
eine der größten Hauptursachen des Verderbens
der Menschheit, – es werden z.B. dadurch bey
den Kindern unzeitige Geschlechtsempfindungen er-
weckt, sie reifen zu früh, verderben und fallen
auf Selbstbefleckung etc. – Dagegen Knaben
und Mädchen vollkommen, ohne den geringsten
Unterschied gleich gekleidet, in das einfache freye
Gewand das der Verf. vorschlägt, so werden
(wie er S. 213 sagt) wieder Unschuld, gute Sitten
und froher Sinn unter die Menschen gebracht
werden.

Dieß Gewand ist ein weiter einfacher unge-
fütterter linnener Kittel, von oben bis unten von
gleicher Weite, der ein paar Finger breit unter
die Kniee herabreicht, und im Sommer über das
bloße Hemd angezogen wird: im Winter solle zwi-
schen dem Hemde und dem linnenen Kittel noch
ein wollner getragen werden.

Die Ermel sollen, nach einer dem mir zuge-
schickten Exemplare des Buchs beygefügten hand-
schriftlichen Berichtigung, an allen drey Kleidungs-
stücken, Hemd und Ober- und Unter-Kittel über
dem Elenbogen enden, und weit und offen seyn,
‘“damit,”’ – wie es heißt, – ‘“die Arme, das
[Seite 403] vorzüglichste Werkzeug des Menschen frey und
leicht, und durch den freyen Zutritt der Luft
gesund und stark sind.”’ Denn überhaupt ist die
ganze Tracht darauf eingerichtet den Körper kühl
zu halten und den Armgelenken und Achselgruben
freye Bewegung zu gestatten. Daher auch alle
Bänder und Schürzen und alles Binden um den
Leib gänzlich wegfallen sollen.

‘“Freye, kühle, kalte Luft von der frühesten
Kindheit an oben und unten, dadurch wird be-
sonders auch das weibliche Geschlecht gar sehr
gebessert werden, auch später reifen und bessere
Früchte bringen.”’ (S. 92) – ‘“Auch die Brüste
dieses Geschlechts werden dadurch besser, gesun-
der und fester werden, und an bessern Brüsten
wird das nächst-aufsprossende Menschengeschlecht
bessere Milch saugen.”’ (S. 216.)

Ich übergehe vieles von den mancherley Ne-
benvortheilen die der Verf. aus dieser Tracht ab-
leitet. Z.B. S. 193 es werde dadurch der Ver-
brauch der Wolle folglich die Schaafzucht selbst
vermindert, die sonst wie der Verf. meynt die Cul-
tur der Erde gar sehr hindre, denn Ackerbau sey
besser als Viehzucht etc. – Dagegen werde durch
Vermehrung und Verbesserung des Linnens der
Stoff zum Papier vermehrt, und so (sagt er
[Seite 404] S. 196) ‘“wird sich die Buchdruckerkunst mehren,
und mit den Büchern wird sich mehren Wahrheit,
Aufklärung und Glück der Menschen.”’ u.s.w.

Dagegen theile ich hier, mit des Verf. Er-
laubniß, den größten Theil eines sehr interessanten
Briefs mit, den er den 3. Junius an mich geschrie-
ben, und worin er sich über manche die Haupt-
sache betreffende Punkte noch näher als im Buche
selbst folgendermaßen erklärt:

‘„1. Daß die Hosen die vorzüglichste
Ursache der frühen Reife der Menschen
sind, ist wahr: denn es folgt noth-
wendig
aus unwandelbaren Gesetzen
der Natur, aus denen Huyghens und
Newton die Gestalt der Erde bewiesen.
Es könnte seyn, daß Zergliederungs-
kunst, Einspritzungen und Versuche die
Wahrheit nicht augenscheinlich zu be-
weisen schienen: dieß ist nur Schein und
beweiset wie Cassinis Ausmessungen nichts
gegen Naturgesetze: denn nach diesen
muß Wärme und Reiz anhaltend wir-
kend durch einen Zeitraum von 8 bis 10
Jahren nothwendig Saamen destil-
liren, nothwendig um einige Jahre
[Seite 405] früher destilliren als es geschehen würde,
wenn im Gegentheil die Hoden durch
den freyen Zutritt der Luft kühl, kalt,
stark und beruhigt – und ungereizt und
ungedruckt wären. – (Die große herr-
liche Eigenschaft der Luft, ‘“zu beruhi-
gen,”’ habe ich zu meinen Verdrusse im
Buche vergessen anzuführen.)
”’

„Also es ist Wahrheit, daß die Hosen,
dieß Treibhaus der Hoden, die Menschen
um einige Jahre früher reifer und blühen
machen als es der heiligen Ordnung der
Natur nach seyn sollte, ehe der Körper
und die Seele reif sind, und daß die
Menschen dahin welken
comme la vigne,
à qui l’on fait porter du fruit au prin-
temps, languit et meurt avant l’automne.

Werden die Hofen der Kinder abgeschafft,
so werden folglich die Menschen um
einige Jahre später reifen – und welch
ein Schritt ist das zum Wohl des Men-
schengeschlechts!”

„2. Der auffallende Unterschied der
Größe und Stärke der Geburtstheile
zwischen den behoseten Europäern und
den unbehoseten Bergschotten, ‘“daß
[Seite 406] feile Dirnen den Beyschlaf eines Berg-
schotten dem Beyschlafe zweyer Englän-
der oder Deutschen vorziehen,”’ ist dem
Naturforscher äußerst wichtig. Die
Hosen nur machen den characteristischen
Unterschied zwischen den Bergschotten
und den übrigen Europäern aus (–
denn Klima und Haberbrod sind dem
Bergschotten ehr noch nachtheilig –)
und die Hosen sind die leicht begreifliche
Ursache des auffallenden Unterschieds der
Geburtstheile zwischen diesen Völkern.”

„Werden die Hosen der Kinder abge-
schafft, so werden folglich die männlichen
Geburtstheile der Europäer, die jetzt zu
den weiblichen in einer üblen Dispro-
portion stehen, um vielleicht 10 und
mehrere Procent größer und stärker
werden. Sicher eine große Verbesse-
rung der Menschen.”

„3. Mit den 100000 Brüchen die in
einer Generation allein in Deutschland
auf Rechnung der Hosen kommen, hat
es sicher seine Richtigkeit. – 200000
gebrochne männlichen Geschlechts hat
Deutschland sehr wahrscheinlich. Wäre
[Seite 407] das angenommne Verhältniß der Brüche
(durch den Bauchring) der Männer
und Weiber wie 25 zu 1 zu groß, (ich
glaube es nicht) und nehmen wir nur
an wie 12 zu 1, und rechnen dann von
jenen 200000 – 100000 auf Rechnung
der Hosen, so bleibt das Verhältniß der
Brüche der Männer zu den Brüchen
der Weiber noch immer wie 6 zu 1. –
Daß dieser auch jetzt noch große Unter-
schied von 6 zu 1 auf der stärkern Ar-
beit der Männer, und nicht auf den
Hosen beruhe, ist mir kaum glaublich;
so wie es unmöglich ist, daß der Schö-
pfer dem zur Arbeit bestimmten starken
Manne schwache, der ruhigen schwa-
chen Frau starke Bauchringe sollte ge-
geben haben. Sollte die Zergliederungs-
kunst einen verschiednen Bau in den
Bauchringen der Männer und Frauen
finden, so muß ja untersucht werden,
ob dieser Unterschied auf der Natur, oder
auf Kunst und Zufall beruhe. Sollte
man es auf die gute Natur schieben,
welches ich nimmermehr glauben kann,
so denke man, daß künstliche und zu-
fällige Fehler und Mängel sich natürlich
[Seite 408] fortpflanzen und den Schein der Natur
annehmen. Die Knaben sind am ähn-
lichsten den Vätern, und so könnten durch
die Hosen vieler Generationen die Bauch-
ringe des männlichen Geschlechts wider-
natürlich schlecht geworden seyn. Also
wenigstens 100000 Brüche durch die
Hosen – und die werden wegfallen. –
Das ist ein großer Gedanke, und er
allein macht schon warm.”

„4. Die Kinder durch eine eigne ein-
förmige Kleidung, verschieden nach den
verschiednen Ständen, deutlich und be-
stimmt von den Erwachsnen abzuthei-
len, und die Kinder wieder in den glück-
lichen Stand der Kindheit
où le rire est
toujours sur les levres et où l’ame est
toujours en paix
, und in ihre (– es
spotte wer da will –) unverjährbaren
Rechte wieder einzusetzen – warlich
warlich das wird Glück und Ordnung
über das Menschengeschlecht bringen.”

„5. – Und das freye, leichte, schöne,
reine, wohlfeile Gewand – Kopf,
Hals, Brust offen und unbedeckt, –
der Körper frey und leicht, von freyer
[Seite 409] Luft umgeben. – – Da werden die
Menschen an Körper, Kopf und Herz zu
einem ganz andern Menschengeschlechte
emporwachsen als das jetzige ist.”

„6. Knaben und Mädchen gleich zu
kleiden, finde ich noch immer sehr gut
und nothwendig. Bis jetzt hies es auch
bey den Kindern
‘“diuide et impera!”’
Wären die Kinder nicht thöricht in
Knaben und Mädchen von einander ge-
theilt, so würden Glauben, Meynung,
Thorheit, Laster und das sinnlose Leben
der Erwachsnen viel geringern Einfluß
und Wirkung auf die Kinder und auf
das Menschengeschlecht haben. In der
zarten weichen Kindheit ist der unaus-
löschliche Grund zu dem Unsinn und
dem Elende der Menschen gelegt.”

So weit der Verf. des intressanten Buchs das
ohne Widerrede ungemein viel wahres und gutes
zu Verbesserung der Lebensordnung in den Jugend-
jahren enthält.

Schade nur daß manches darin offenbar über-
trieben ist, und zwar auf eine Weise die leicht bey
einem großen Theil der Leser der guten Sache des
[Seite 410] Ganzen nachtheilig werden könnte. So z.B.
S. 131 u.f. wo vom Nachtheil der Kopfbe-
deckungen die Rede ist. Durch die Schwere
dieser Bedeckungen glaubt der Verf. werde das
Uebergewicht des Kopfs nach vorne vermehrt, so
daß dann die Menschen das Gesicht niederschlü-
gen, woraus dann wiederum moralische nachthei-
lige Folgen entstünden u.s.w.

Auch solche Argumente werden wenig Eingang
finden wie das S. 134 für die Behauptung, daß
schon von Mutterleibe an das Kind im bloßen
Kopfe bleiben, und selbst Wind und Wetter, Schnee
und Kälte trotzen könne: ‘“denn”’ – sagt der
Verf. – ‘“der Wind und Wetter schuf, schuf auch
den Kopf des Kindes und die Liebe der Mutter
zu ihrem Kinde.”’

Besonders kommen aber einige anatomische und
physiologische Unrichtigkeiten vor die um so mehr
einer Berichtigung bedürfen, da ein Theil der
übrigen Behauptungen des Verf. auf dieselben
gebaut ist.

So z.B. S. 23 u.f. über die Anastomosen
zwischen den Arterien und Venen in der Saamen-
schnur und ihrem (vermeynten) Nutzen zu später
Absondrung des Saamens. – Freylich haben
Boerhaave u.a. diese Anastomosen und die ihnen
[Seite 411] zugeschriebne besondre Wichtigkeit gar sehr ver-
größert. Aber schon Haller auf dessen Autorität
sich doch unser Verf. hierin bezieht, hat gezeigt,
daß hier gar nichts besondres ist. Gleich nach
den paar Zeilen die Hr. F. hier zu Gunsten sei-
ner Meynung aus den Elem. physiol. ausgeho-
ben hat, fährt ja Haller fort: caeterum nihil
habent, quod testi peculiare sit et proprium.
Vbique enim in corpore humano cera paulo dexte-
rius in arterias impulsa per venas redit etc. –
Vt omnino hic nihil sit, quo testis a fabrica
reliqui corporis humani recedat. – Id erat
ostendendum inter arterias venasque spermaticas
magnos, et qui depingi possint, intercedere mea-
tus. – Sed eiusmodi vias omnino locum ha-
bere non posse satis liquet.

S. 25 heißt es, die Adern die den Hoden aus-
machen seyen abgetheilt in viele Fächer, ähnlich
den Fächern der Citrone. (– Das ist der Bau
des sogenannten corpus Highmori bey Hunden
und Schweinen etc. aber bey weiten nicht in den
menschlichen Geilen. –)

S. 26 ist die gewöhnliche Zeit des Durchgangs
der Geilen durch den Bauchring viel zu spät an-
gegeben. s. diese Bibl. im IIten B. S. 26.

[Seite 412]

S. 40 u.f. Die dem Verf. sehr merkwürdige
Beobachtung des alten Borrichs der bey einem
testicondus den im Leibe versteckten Hoden noch
dicker, runder und vollständiger gefunden als den
im Hodensack befindlichen, ist gegen alle sonstige
Erfahrung. Man s.z.B. im Iten St. dieses Ban-
des der Bibl. S. 3.

S. 57 u.f. Die Frage, warum der Bauchring
bey den Weibern so stark, bey den Männern hin-
gegen so schwach sey, hält er bis jetzt für unbe-
antwortet, und weiß keine andre Ursache anzuge-
ben als daß bey dem weiblichen Geschlechte der
Unterleib und die Weichen viel kühler als bey dem
männlichen gehalten werden etc. (– Der Grund
liegt weit natürlicher in der ungleichen Größe die-
ses sogenannten Bauchrings bey den beiden Ge-
schlechtern. Beym männlichen muß er weiter und
größer seyn, um anfangs den Geilen selbst, und
nachher beständig die Saamenschnur und den cre-
master
durchzulassen. –)

S. 8 ist die Entstehung des Marks in den
Knochen viel zu spät, und S. 125 das (gewöhn-
liche) Gewicht des menschlichen Gehirns und die
Menge des zu demselben laufenden Blutes viel zu
groß angegeben etc.

[Seite 413]

Aber auch die vermeynten körperlichen Vor-
züge der von dem Verf. so hochgepriesnen Berg-
schotten
sind gar nicht in der Natur gegründet.
Ich kann dafür einen Gewährsmann anführen
gegen dessen Autorität bey dieser Frage meine Leser
gewiß nichts einzuwenden finden werden, nemlich
den Präsidenten der Königl. Soc. der Wissenschaf-
ten zu London, Hrn. Baronet Banks, dem ich
Hrn. Fs. Schrift zugeschickt hatte, und der mir
hierauf den 5ten August folgendes antwortete:

„Des Verf. Meynung differirt hierin
gänzlich von derjenigen Aerzte ihrer die
ich darüber befragt, und unter welchen
selbst Schottische Hochländer befind-
lich sind.”

„Sie versichern einstimmig, daß die-
jenigen von ihren Landsleuten die nie
Hosen tragen, in Rücksicht der Größe
gewisser Theile ihren behoseten Nach-
barn ehr nachstehen als daß die dieselben
darin übertreffen sollten.”

„Ferner sagen sie daß die Lustseuche
bey jenen weit hartnäckigere Zufälle er-
rege als bey denen die ihre Genitalien
warm halten und nicht frey hängen
[Seite 414] lassen. – Auch daß der sogenannte
Wasserbruch
(hydrocele) unter densel-
ben weit häufiger sey als unter andern
Nationen.”

„Zuverläßig schienen auch unter den
wilden Völkern die ich gesehen habe, die-
jenigen die ihre Genitalien ganz unbe-
kleidet trugen in Rücksicht der Größe
derselben den Europäern kaum gleich zu
kommen geschweige sie zu übertreffen.”


[[I]] [[II]]


Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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