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Neues
Göttingisches
Taschenbuch
zum
Nutzen und Vergnügen
für
das Jahr 1813.

Mit Kupfern.

Göttingen
bei Heinrich Dieterich
.

Die
Tibetanische Bergziege,
aus deren zartem Wollhaar die superfeinen
Shawls gewebt werden.

[[75]]

Es scheint befremdend, daß man bey dem regen
Eifer womit die Naturgeschichte betrieben wird, doch
von so manchen Producten, die seit langer Zeit durch
Handel und Wandel in Europa allgemein bekannt
und in großer Menge verarbeitet und consumirt wer-
den, doch nur erst spät und theils noch gar nicht hat
erfahren können, von welcher Gattung von Natura-
lien sie gewonnen oder hervorgebracht werden. So
räthselhaft ist aus dieser Rücksicht z.B. noch jetzt das
eigentlich so genannte Spanische Rohr, und diejenige
Art von Fischhaut, die so häufig zum Ueberzug von
Perspectiven, Etuis u.s.w., so wie ehedem von Ta-
schenuhrgehäusen verbraucht ist; und so war es vor-
mahls lange Zeit hindurch der Weyhrauch, die Co-
[Seite 76] schenille u. dergl. m. Allein der Gründe von dieser
auffallenden Unkunde sind mancherley. Z.B. daß
manche dieser Waaren erst aus fernen wenig besuch-
ten Gegenden nicht von Europäern selbst gehohlt, son-
dern ihnen erst durch Mittelverkehr zugeführt wur-
den; oder daß sie auch dann ganz in den Händen
der Kaufleute und Künstler blieben, und nicht leicht
unverarbeitet in die der Naturforscher gelangten. Aus
letzterm Grunde sind noch jetzt rohe Diamanten sel-
ten, da doch alle die zahllosen geschliffenen und bril-
lantirten roh gewesen sind; und aus ersterm begreifen
sich die mancherley einander so widersprechenden An-
gaben über das Geschöpf, von dessen Wolle oder
Haar die allerköstlichsten Shawle gewebt werden.

Daß dieses edle Thier seine beschränkte Heimath
im Süden von Groß-Tibet und in dem Zauberlande
Kaschmir hat, welches von unserm Herder und an-
dern hellen Forschern der ältesten Menschengeschichte,
so gut wie von den Einwohnern selbst für das Pa-
radies der Urwelt gehalten wird, das war bekannt.
Aber lange blieb zweifelhaft, ob dieses Thier zu den
Schafen oder den Ziegen gehöre. Denn eine dritte
Meinung, die ganz neuerlich behauptet worden, als
ob die superfeinen Shawls aus keines von beiden
[Seite 77] Wollhaar, sondern aus dem des gemeinen Camels
oder Dromedars (mit einfachem Rückenhöcker) ver-
fertigt würden, ist sicherlich ungegründet, voraus-
gesetzt, daß hier nur von den echtsten wunderfeinen
Geweben der ersten Güte die Rede ist, die bekanntlich
in den auffallend hohen Preisen stehen, und von
welchen Adelung im Mithridates vermuthete, sie möch-
ten wohl das Sindon der Alten seyn. Bey diesem
war bloß die Frage: ob sie aus Schafwolle oder aus
Ziegenhaar verfertigt würden, und diese ist nun nach
dem einstimmigen Zeugniß der zuverlässigsten Reisen-
den zu Gunsten der letztern Meinung entschieden.
Zwar hat noch unser Beckmann auf die Autorität
von Pallas sich für die erstere erklärt, aber eben diese
Autorität gründete sieh bloß auf eine Probe feiner
Kermanischer und Tibetanischer Schafwolle, die er
von diesem großen Naturforscher erhalten hatte. Doch
hat eben dieß den Verf. dieses Aufsatzes veranlaßt,
seinen gelehrten Freund, Hrn. Hofr. von Langs-
dorff,
da sich derselbe in Orenburg befand, darüber
zu befragen, von welchem ihm aber geantwortet ward,
daß er von Bucharen, die selbst in Kaschmir gewesen,
erfahren habe, daß diese feinste Wolle allerdings von
Ziegen und nicht von Schafen genommen, und
[Seite 78] zwar von der Brust der Tibetanischen Bergziegen
ausgekämmt werde.

Schon der unvergleichliche Bernier hat vor an-
derthalb hundert Jahren den Unterschied zwischen den
superfeinen Kaschmirer Shawls aus Ziegenhaar und
den geringern, die eben daselbst aus Schafwolle ge-
webt werden, genau bestimmt. Freilich sagt er, daß
auch die letztere an ausnehmender Feinheit selbst die
Spanische übertrifft; aber doch stehen die aus Ziegen-
haar verfertigten Shawls in dreyfach so hohem Preise,
als die so ebenfalls in Kaschmir aus der feinsten
Schafwolle gemacht werden. Auch gebe es kein Bi-
berhaar, das an Zartheit und Weiche sich mit jenem
vergleichen lasse. Die Ziegenrasse, welche dieses wun-
derfeine Wollhaar liefert, ist, wie gesagt, sowohl in
Kaschmir als in Tibet einheimisch, doch dort, wie
sich bey dem kleinen Umfange des Landes von selbst
versteht, minder häufig, so daß die dasigen Fabrican-
ten das mehrste dieses köstlichen Materials aus Tibet
hohlen müssen. Die Tibetaner selbst können keine so
superfeinen Shawle daraus bereiten, glauben aber,
daß die Schuld davon bey ihnen an der mindern
Güte des dazu erforderlichen Wassers liege. – Uebri-
gens ist es bloß das zarteste Wollhaar, so nur im Win-
[Seite 79] ter und in geringer Menge unter dem längern und
gröbern Ziegenhaar, zumahl an der Brust, sitzt, das
zu den allerköstlichsten Shawls verarbeitet und meist
von Kindern gesponnen wird. Dieses Wollhaar heißt
in der Landessprache Tuhs, welcher Name aber,
wie wir aus dem classischen Landbuche Kaiser Akbar
des Großen (dem von Gladwin aus dem Persischen
übersetzten Ayeen Akbery) wissen, auch dieser wich-
tigen Ziegenrasse selbst beygelegt wird. Noch ist keine
Abbildung derselben bekannt gemacht; die beste Be-
schreibung aber giebt Captain Turner, der ganze
Heerden davon auf seiner Reise über die kalte Gebirgs-
kette antraf, welche das südliche Tibet von Butan
scheidet. Diese edlen Ziegen sind klein, geradhörnig
und von verschiedenen Farben, weiß, schwarz, blau-
lich und theils ins Isabellgelbe oder Chamois fallend.
An Schönheit übertreffen sie selbst die Angorischen.
Alle Versuche, sie anderwärts zu verpflanzen, sind
bisher fruchtlos ausgefallen. Der berühmte Reisende,
Lord Valentia, sah welche in der Menagerie des Na-
bob zu Oude, die derselbe in der Hoffnung sie da zu
naturalisiren, aus Kaschmir hatte kommen lassen.
Aber klüglich hatten ihm die Kaschmirer keine andere
als verschnittene Böcke zugeschickt. Der durch seine
[Seite 80] Bemühungen, die Vaccination in Asien zu verbrei-
ten, verdiente Dr de Carro war veranlaßt worden,
einen sachkundigen Armenischen Kaufmann über die
Mittel befragen zu lassen, wie man wohl diese köst-
lichen Thiere nach Europa transportiren könnte, erhielt
aber zum Resultat eine genaue Berechnung, kraft wel-
cher der Transport von ein zwanzig Paaren derselben,
(und mit wenigern dürfe man es nicht unternehmen,
da ihrer wohl gewiß gar manche unterweges sterben
würden,) die paarweis auf Camelen getragen wer-
den müßten, auf 50,000 Piaster zu stehen kommen,
die ganze Aequisition aber schwerlich für etwas Besseres
als für eine Seltenheit in einer Menagerie anzusehen
seyn würde, da alle selbst in Indien deshalb ange-
stellten Versuche die Vergröberung des Haars an die-
sen Thieren, sobald sie in fremde, zumahl wärmere,
Gegenden verpflanzt werden, erwiesen haben.




Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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