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Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band,
auf das Jahr 1806.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

[Seite 612]

Hr. Dr. Oken ersuchte den Hrn. Hofr. Osiander,
der königl. Societät seine Ansicht von der Beschaf-
fenheit der Insertion der untern Hohlvene in das
Herz des Fötus vorzulegen. – Der Hr. Doctor
nimmt als ausgemacht an, daß das Blut des Fö-
tus aus der Nabelvene oxydirt zum Herzen komme,
und nach den Gesetzen des Kreislaufes in die linke
Vorkammer des, nur von arteriösem Blute reitz-
baren, linken Herzens kommen müsse. Nun aber
glauben bis jetzt die meisten Physiologen, das Blut
komme aus der Nabelvene durch die untere Hohl-
aber zuerst in die rechte Vorkammer des Herzens,
und von da erst durch das eyförmige Loch in die
linke. Dagegen aber glaubt der Hr. Doctor erwei-
sen zu können, daß alles Blut beym Entstehen des
Fötus in das zuerst sich bildende linke Herz kom-
me, indem ja schon nach Haller die untere Hohl-
ader im Küchelchen zuerst in die linke Vorkammer
des Herzens sich öffne, in der Folge aber in das
später entstehende rechte Herz sich erweitere. Auch
habe man im 17. Jahrhundert allgemein angenom-
men, daß sich die untere Hohlader in die Lungen-
vene, folglich in das linke Herz, als wohin diese
führt, öffne. Endlich habe Friedr. Wolff entdeckt,
daß sich beym Fötus in den ersten Monathen die
untere Hohlvene in zwey Aeste theile, wovon die
eine gerade in die linke Vorkammer des Herzens
[Seite 613] gehe. Diese Beobachtung Fr. Wolff’s hat nun Hr.
Dr. Oken kürzlich an einem drey volle Monathe al-
ten Kuh-Fötus bestätigt gefunden. Die untere
Hohlader desselben stieg nähmlich beynahe senkrecht
gegen den hintern Rand der Scheidewand der Vor-
kammer, und theilte sich, ehe sie an diesen Rand
kam, in zwey Aeste, wovon der linke, ungefähr 2
Linien lange, Ast in die linke Vorkammer zwischen
der Klappe des so genannten ovalen Lochs und der
Scheidewand sich öffnete, der rechte, nur Eine Linie
lange, Ast aber sich in die rechte Vorkammer öff-
nete, dessen Mündung vorzugsweise das ovale Loch
genannt werde. Diese Mündung nun bilde nur eine
länglichte Spalte, durch welche unmöglich so viel
Blut austreten könne, als durch die Mündung des
linken Astes. Je jünger nun der Embryo sey, desto
größer sey der linke, und desto kleiner der rechte
Ast. Mit der Entwickelung aber nähere sich dieses
Verhältniß, endlich kehre es sich um, bis nach der
Geburt die linke Mündung ganz obliterirt werde, und
die rechte Mündung allein offen bleibe. (Man ver-
gleiche damit des sel. Prof. Danz Grundriß der Zer-
glied. des neugeb. Kindes 2. Bd. S. 191.) Aus die-
ser Beschaffenheit der Nabelvene und des Herzens
folgert der Hr. Dr. nun nachstehende Sätze: 1) Zwi-
schen dem rechten und linken Herzen findet gar keine
Communication Statt. 2) Es existirt kein ovales
Loch in der Scheidewand, sondern solches ist ein Ca-
nal in den Aesten der Hohlader. 3) Die Herzen im
Fötus sind so wesentlich heterogen, als im Gebornen.
4) Das Blut mischt sich nicht im Herzen. 5) Eben
wegen dieses Antagonismus und der Geschiedenheit
des Blutes ist das Blut selbst in arteriöses und venö-
ses geschieden, und dasjenige, welches in das linke
Herz des Fötus kommt, ist das oxydirte, und folglich
die Placenta das Oxydationsorgan im Säugthier,
wie im Vogel.

[Seite 614]

Es ist des Hrn. Dr. Oken’s Meinung folglich der
Meinung der Herren Sabatier und Baudelocque
in der Hauptsache conform, worauf schon Meckel hin-
länglich geantwortet hat. (Man s. Danz am a.O.
S. 238). Bey diesen Sätzen bleibt aber nur das
sehr bedenklich: 1) daß noch Niemand an dem Blute
in der Nadelvene und den Nabelarterien irgend einen
Unterschied wahrnehmen und sinnlich darstellen konn-
te, da doch ein Unterschied zwischen dem arteriösen
und venösen Blute des eine Zeit lang gebornen Men-
schen so leicht wahrzunehmen ist. 2) Daß, wenn ja
auch wirklich oxydirtes Blut aus dem Mutterkuchen
durch die Nabelvene in den Leib des Fötus kommt,
der größte Theil des Sauerstoffes schon in der Leber
abgesetzt werden muß, ehe das Blut zum Herzen ge-
langen kann, da ja der größte Theil des Blutes erst
durch die Leber, und aus den Lebervenen in die un-
tere Hohlvene fortgehet, ehe solcher zum Herzen
kommt. 3) Daß das Verzweigen der untern Hohl-
vene im Fötus nur selten, und also als eine Abwei-
chung vom normalen Zustande wahrgenommen wird,
der freye Eintritt einer einfachen untern Hohlvene
hingegen in die vordere oder rechte Vorkammer des
Herzens bey Menschen und Thierfrüchten in allen Zei-
ten des Wachsthums der Frucht wahrzunehmen und
erweislich ist; indem durch Einspritzungen mit Queck-
silber recht deutlich dargethan werden kann, daß das
Blut aus der untern Hohlvene in die rechte Vorkam-
mer des Herzens kommen muß, ehe es in die linke
kommen kann; und daß es eigentlich nur in die linke
Vorkammer nothgedrungen ausweicht. Denn selbst
wenn in einem drey- oder viermonatlichen Fötus eine
schwere Quecksilbersäule aus der untern Hohlvene
heraufsteigt, so kann man durch die mit Sorgfalt er-
öffneten Vorhöfe des Herzens wahrnehmen, wie die
Klappe des eyförmigen Loches die Quecksilbersäule erst
[Seite 615] aufzuhalten im Stande ist, und sich gegen die linke
Vorkammer des Herzens gleichsam zu dem Ast einer
Vene ausdehnt, ehe sie das Quecksilber in die linke
Vorkammer sich senken läßt. Der Hr. Hofr. Osian-
der
hat aus Veranlassung jenes Auftrages, der königl.
Societät die Meinung und Beobachtung des Hrn. Dr.
Oken vorzulegen, mehrere Embryonen seiner Samm-
lung zergliedert nahmentlich zwey menschliche Embryo-
nen, zwey Hirsch-Embryonen von 2 und 4 Monathen,
einen Reh-Embryo, einen Kuh-Embryo von 3 Mona-
then, einen Ziegen-Embryo, einen Igel-Embryo und
einen neu geworfenen Dachs, und in keiner von allen
diesen Früchten eine Theilung der untern Hohlvene in
Aeste, sondern in allen eine einfache Vene in die rechte
Vorkammer des Herzens so deutlich eintretend gefun-
den, daß es kaum noch einem Zweifel unterworfen
seyn kann, daß das Blut durch die untere Hohlvene
unmittelbar in die rechte Vorkammer des Herzens
komme, ehe es in die linke gelangen kann. Da diese
Embryonen vor dem Eröffnen in Weingeist aufbewahrt
gewesen, folglich die Gefäße und das Herz dadurch
fester waren, als im frischen Zustande, so ließ sich das
Aufschneiden so vornehmen, daß die Structur der
Hohlvene und des Herzens innerhalb diesen Thier-
früchten noch jetzt in der Sammlung des Hrn. Hofr.
Osiander gesehen, und das unmittelbare Einsinken
einer einfachen untern Hohlvene in die rechte Vorkam-
mer des Herzens bey jungen Embryonen eben so wahr-
genommen werden kann, als bey dem Hrn. Dr. Oken
die Verdoppelung der Hohlvene ausserhalb dem er-
wähnten Kuh-Embryo.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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