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Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band
auf das Jahr 1812.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

Göttingen.

[Seite 1289]

In der Versammlung der königl. Societät der
Wissenschaften am 11. Julius hielt der Hr. Prof.
Blumenbach eine Vorlesung: de anomalis et
vitiosis quibusdam nisus formativi aberrationibus.

Zuerst im Allgemeinen vom hohen Werthe der
abnormen Gebilde an organisirten Körpern, zur
nähern Bestimmung der Gesetze des normalen Bil-
dungstriebes. Dann von jenen Abweichungen ins-
besondere, nach ihren vier Hauptclassen, von I. ei-
gentlich so genannten Mißgeburten; II. Zwittern;
III. Bastarden, und IV. Raßen und Spielarten.

Vergleichung von mancherley thierischen und
menschlichen Mißgeburten aus der Sammlung des
Verf. zur Bestätigung des schon früher von ihm
ausgeführten Satzes: daß sich wohl unter letztern
welche mit mehr oder minder thierischer Gestaltung,
aber nimmermehr eine thierische mit einer wirklich
menschenähnlichen, finde; so daß (wie er sich schon
vor mehreren Jahren darüber auch in diesen Blät-
[Seite 1290] tern erklärt hat) es allerdings scheint, der Bil-
dungstrieb müsse, um zur höchsten Stufe der rei-
nen Ausbildung menschlicher Gestaltung zu gelan-
gen, erst durch die niedern Sprossen der bloß
thierischen Formen
gehen. Auf diesem Wege
wird er zuweilen gehemmt, so daß er bey jener
niedern thierischen Form stehen bleibt, ohne den
Gipfel des menschlichen Typus zu erreichen.
Aber nun und nimmermehr kann er bey der Bil-
dung einer thierischen Leibesfrucht die Staffel von
dieser ihrer Form überspringen, und ihre Thier-
form zur menschlichen erheben. Wiederum aber
scheint der Bildungstrieb bey Formation der weib-
lichen
Früchte minder firm, sondern leichter Ab-
weichungen unterworfen, als bey den männlichen;
womit denn auch mancherley Beobachtungen aus
dem reifern Lebensalter übereinstimmen. Nah-
mentlich das merkwürdige Phänomen der so ge-
nannten mutatio sexus, da so viele Fälle bekannt
sind, wo weibliche Geschöpfe in spätern Jahren
männlichen Habitus angenommen haben: aber kei-
nes, wo etwa männliche (im freyen Naturzustande
oder sich selbst überlassen) die bloß dem weiblichen
Geschlechte zukommenden Organismen erhalten hät-
ten. Von einer funfzehnjährigen Goldfasan-Henne,
die der Verf. neuerlich geöffnet und die von ihrem
siebenten Jahre an allgemach das prächtige Gefie-
der des Hahns bekommen hatte, gibt er die ge-
naue Geschichte dieser ihrer Metamorphose; und
untersucht bey dieser Gelegenheit auch die sehr
verschiedenartigen Mißdeutungen, wodurch die
Sage von Hahnevern veranlaßt worden. Ge-
rade an eigentlichen zwitterartigen inneren Bau
scheint dabey am wenigsten zu denken, da ihm
[Seite 1291] aus der ganzen Classe der Vögel auch nicht ein
einziges unverdächtiges Beyspiel der Art bekannt
worden. – Zur Vergleichung mit jenen Phäno-
menen bey weiblichen Geschöpfen, die im Aeußern
allgemach Manches von männlicher Gestaltung an-
genommen, nun von den gegenseitigen Verände-
rungen des Habitus, welche die Castration sowohl
im Menschengeschlecht, als bey andern männlichen
Säugethieren hervorbringt. Unter diesen Bey-
trägen zur Physiologie der Verschnittenen beson-
ders genaue Beobachtungen an einem Rehbock,
der als Kalb gegen Ende seines ersten Lebensjah-
res castrirt worden, und dessen Gehörn in den
folgenden Jahren zu einer solchen Unform und
Schwere aufwucherte, daß das Thier zuletzt den
Kopf nicht mehr aufrecht halten konnte, und da-
durch auch am Wiederkauen behindert ward.

Bey der dritten von den obgedachten vier
Haupt-Classen der Abweichungen des Bildungs-
triebes, nähmlich durch Bastardzeugung, die
doppelte Bemerkung, daß erstens dieselbe schwer-
lich je unter warmblütigen Thieren im freyen
Naturzustande Statt habe; und zweytens, daß
überhaupt die Zahl von Gattungen dieser Thiere,
die wirklich mit einander Bastarde zeugen können,
beträchtlich verringert werde, wenn man diejeni-
gen davon rabattirt, die nach critischer Prüfung
nicht dazu, sondern bloß in die Classe von mon-
strosem Bau gehören. Sonderbar, daß manche
dieser Monstrositäten, so viel bekannt, ausschließ-
lich bloß bey gewissen Thiergattungen vorkommen;
z.B. Katzen mit buschlich behaartem ganz kurzem
Stummelschwanze und hohen Hinterbeinen etc., wo-
durch diese Thiere im Sitzen, Stehen und Laufen
[Seite 1292] allerdings den Kaninchen ähneln, und seit dem
vorletzten Jahrhundert schon öfter als vermeinte
Bastarde von weiblichen Katzen und männlichen
Kaninchenböcken beschrieben worden. Der Verf.
gibt Nachricht von einer solchen Mißgeburt, die
er geraume Zeit lebendig besessen, und sowohl
bey ihrem Leben, als nach dem Tode genau unter-
sucht hat, und führt die Gründe an, welche eine
fruchtbare Paarung zwischen jenen beiden Thieren
undenkbar machen.

Von dergleichen monstrosen Mißbildungen, wo-
durch manche Thiere der Einen Gattung einige
Aehnlichkeit mit denen von einer andern, fremd-
artigen, erhalten, macht der Verf. den Uebergang
zu einer andern Abweichung des Bildungstriebes,
wo, bey übrigens vollkommen regelmäßiger Or-
ganisation, doch gewisse Spielarten von Thieren,
oder einzelne Individuen, in der Bildung ge-
wisser Theile denen von andern Thieren zu äh-
neln scheinen, woher z.B. bey den Pferden die
allgemein bekannten Benennungen von Rams-
kopf, Hirschhals etc. entlehnt sind. So bey vie-
len Menschen die unverkennbare Aehnlichkeit ihrer
Gesichtsbildung mit der von manchen Thieren,
worauf sich die vergleichende Physiognomik grün-
det, welche, von Aristoteles bis auf den genia-
lischen vortrefflichen Künstler, unsern Wilhelm
Tischbein,
auf vielartige Weise bearbeitet wor-
den. Und daß sich diese Aehnlichkeit des physio-
gnomischen Characters der menschlichen Gestaltung
nicht bloß in den beweglichen weichen Theilen,
sondern selbst in der festen Grundlage derselben –
dem Schedel – ausspreche, zeigte der Verfasser
an zwey Mustern aus seiner anthropologischen
[Seite 1293] Sammlung, welche Tischbein als Repräsentanten
der beiden von seinen vier Hauptclassen von Men-
schen-Physiognomien angesprochen hat, die er
mit dem Nahmen von Carnivoren und Herbivoren
bezeichnet. Jener ein Donischer Kosake mit
gleichsam hyänenartiger Gedrängtheit; dieses ein
Kasanischer Tatar mit widderähnlich ausgeschweif-
tem Profil. – Beide übrigens in eben so voll-
kommen normalem gesundem Zustande, als etwa
Michelangelo und Salvator Rosa in Tischbein’s
berühmten Blättern; jener als Prototyp des lö-
wenartigen, und Rosa als der des bockähnlichen
Antlitzes.

Aber eben diese Aehnlichkeit der menschlichen
Schedel- und Gesichtsbildung mit manchen thie-
rischen kann nun auch im widernatürlichen Zu-
stande durch krankhafte Ausartung des Bildungs-
triebes bis zum Entsetzlichen der brutalesten Be-
stialitätsform gesteigert werden. Hiervon legte
der Verfasser ein schaudererregendes Musterstück
vor; – den Schedel eines dreyßigjährigen, von
Mutterleibe an blödsinnig gewesenen, Thiermen-
schen. Verglichen mit dem Schedel des Orang-
outangs in seiner Sammlung, hat dieser bey wei-
tem mehr Ausdruck von Humanität, als jener;
so wie dieß auch mit dem Cretinschedel in eben
dieser Sammlung, ungeachtet seiner gar traurigen
Gestalt, der Fall ist. Der beiden von dem Be-
sitzer derselben schon in den Commentationen be-
schriebenen und abgebildeten Caraibenschedel zu
geschweigen, welche, trotz ihrer durch gewaltsa-
mes absichtliches Binden zurückgepreßten Stirne,
sich doch gar nicht mit dem von jener schreckli-
chen Creatur vergleichen lassen. – Der roh-
[Seite 1294] thierische Character an diesem Thiermenschen druckt
sich, so wie in seiner ganzen Form, so aber
nahmentlich dadurch aus, daß die fast triangu-
läre Stirne oben in einen so schmalen Scheitel
zuläuft, daß sie oberen Ränder der kreisförmigen
Bogen von der Anlage der Schläfemuskeln kaum
daumenbreit von einander abstehen, und daß die
große Oeffnung fürs Rückenmark weit mehr zu-
rückliegt, als an irgend einem der zahlreichen
Schedel von Affen oder Pavianen oder Meer-
katzen, welche der Verfasser damit verglichen hat.

Der mächtige Antheil, den die gewaltige An-
strengung der Beißmuskeln an der ungeheuren
Entstellung dieses Schedels hat, gibt dem Ver-
fasser Anlaß, zum Schluß von der merkwürdigen
Spielart von Hollenhühnern zu handeln, bey wel-
chen der vordere und größere Theil der Hirn-
schale zu einer theils ganz monströsen knöcher-
nen Blase aufgetrieben ist, um zu zeigen, daß
bey denselben die Form der Calvaria keinesweges
durch die des Hirns gebildet, sondern umgekehrt
der größere Vordertheil von diesem durch die feste
Zusammenschnürung (wie man es nennen möchte),
welche der Schedel von der darauf sitzenden Hol-
lenhaut erleidet, hervorgetrieben und mißgestaltet
wird.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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