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Göttingische
gelehrte Anzeigen.

Unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band
auf das Jahr 1818.

Göttingen,
gedruckt bey J. C. Baier
.

Göttingische
gelehrte Anzeigen

unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

[Seite 1113]

112. Stück.

Den 13. Julius 1818.


Göttingen.

In der neulichen Sitzung der Königlichen So-
cietät legte der Ober-Medicinalrath Blumen-
bach
ein Paar National-Schädel vor, die zu
den bey weiten seltensten und merkwürdigsten in
seiner anthropologischen Sammlung gehören. Ge-
schenke zweyer erlauchten Fürsten, welche unsre
Universität unter ihre vormaligen ihr unvergeßli-
chen gelehrten Mitbürger zählt, und die sich auf
ihren neulichen wissenschaftlichen Reisen in sehr
verschiedene Erdgegenden ihres ehemaligen Lehrers
und seiner Studien so theilnehmend erinnert ha-
ben – des Kronprinzen von Bayern
Königliche Hoheit, und Seine Durchlaucht der
Prinz Maximilian von Wied Neuwied.

Dem Besitzer jener bekannten Sammlung mußte
es zu seinem Zweck für Naturgeschichte des Men-
schengeschlechts von größter Wichtigkeit seyn, sich
auch Schädel von Völkern des Alterthums zu ver-
schaffen, und hat die von alten Aegyptern, Rö-
mern, Germanen und Tschuden etc. zu erhalten
das Glück gehabt.

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Nur zum Besitz des von einem alten Grie-
chen
zu gelangen, schien er die Hoffnung aufge-
ben zu müssen, die ihm aber nun durch die Auf-
merksamkeit des edlen Kronprinzen eben so uner-
wartet als aufs vollkommenste erfüllt worden.
Der ehrwürdige Schädel, den er demselben ver-
dankt, stammt aus einem Grabe im alten Groß-
Griechenland; war zeither nebst den dabey gefun-
denen vulgo sogenannten Etruskischen Vasen im
Cabinet des würdigen Bischofs von Nola aufbe-
wahrt; und ist in Rücksicht seiner ganz ausge-
zeichnet bildschönen Form, namentlich der sanften
Wölbung der herrlichen Stirne und der senkrech-
ten Richtung des Oberkiefers als Prototyp des
antiken Griechischen Profils anzusehen, als
worin ihm auch nicht einer der übrigen 166 Na-
tional-Schädel in der Blumenbachischen Samm-
lung gleichkommt; und dient zugleich zur bün-
digsten Widerlegung der neuerlich von mehrern
Anthropologen und Kunstkennern aufgestellten Be-
hauptung, als ob dieses Profil in den Griechi-
schen Kunstwerken überall nicht nach der Natur
gebildet, sondern, wie sich z. B. de Pauw darüber
ausdrückt, bloß un style de dessein sey, adopté
dans quelques écoles
.

Der andre der gedachten beiden Schädel ist von
einem Botocuden, dem berufnen aber bisher
so wenig bekannt gewesenen Cannibalenvolke in
Brasilien, von wannen ihn der Prinz von Neu-
wied, von dessen seltnen Kenntnissen und uner-
müdbarem Eifer wir so lehrreiche Aufschlüsse
über die Naturgeschichte dieses Wunderlandes zu
erwarten haben, so wie zugleich einen lebendigen
Wilden jenes Stammes, mitgebracht hat.

Der ganz abenteuerlich auffallende Contrast zwi-
schen diesem Cannibalen-Schädel und dem des
edlen Hellenen läßt sich mit Worten nicht aus-
drücken. So wie letzterer durch seine Musterschön-
[Seite 1115] heit an Polyklets Canon erinnert, so ähnelt er-
sterer in der Totalform (den Unterkiefer ausge-
nommen) dem vom Orang-Outang mehr als einer
der Negerschädel in der gedachten Sammlung,
wenn gleich bey manchen von diesen die Oberkie-
fer stärker als am Botocuden prominiren. Das
Volk hat seinen Namen von dem scheibenförmi-
gen Holzklotze, den Männer und Weiber in der
dadurch ungeheuer ausgedehnten Unterlippe tra-
gen. Eine Folge dieses ländlich sittlichen Putzes
ist, daß dadurch jenen Halbmenschen meist schon
in ihren zwanziger Jahren die untern Schneide-
zähne ausfallen, und, wie an dem Schädel des
noch nicht 30jährigen Wilden, von welchem hier
die Rede ist, die Zahnzellen allgemach schwinden.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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