In der neulichen Sitzung der Königlichen So-
cietät legte
der Ober-Medicinalrath Blumen-
bach ein Paar National-Schädel vor, die zu
den bey weiten
seltensten und merkwürdigsten in
seiner anthropologischen Sammlung
gehören. Ge-
schenke zweyer erlauchten Fürsten, welche
unsre
Universität unter ihre vormaligen ihr unvergeßli-
chen gelehrten Mitbürger zählt, und die sich auf
ihren neulichen
wissenschaftlichen Reisen in sehr
verschiedene Erdgegenden ihres
ehemaligen Lehrers
und seiner Studien so theilnehmend erinnert ha-
ben – des Kronprinzen von
Bayern
Königliche Hoheit, und Seine Durchlaucht der
Prinz Maximilian von Wied Neuwied.
Dem Besitzer jener bekannten Sammlung mußte
es zu seinem Zweck für
Naturgeschichte des Men-
schengeschlechts von größter
Wichtigkeit seyn, sich
auch Schädel von Völkern des Alterthums zu
ver-
schaffen, und hat die von alten Aegyptern, Rö-
mern, Germanen und Tschuden etc. zu erhalten
das
Glück gehabt.
Der andre der gedachten beiden Schädel ist von
einem Botocuden, dem berufnen aber bisher
so wenig
bekannt gewesenen Cannibalenvolke in
Brasilien, von wannen ihn der Prinz
von Neu-
wied, von dessen seltnen Kenntnissen und uner-
müdbarem Eifer wir so lehrreiche Aufschlüsse
über die
Naturgeschichte dieses Wunderlandes zu
erwarten haben, so wie zugleich
einen lebendigen
Wilden jenes Stammes, mitgebracht hat.
Der ganz abenteuerlich auffallende Contrast zwi-
schen
diesem Cannibalen-Schädel und dem des
edlen Hellenen läßt sich mit
Worten nicht aus-
drücken. So wie letzterer durch seine
Musterschön-
[Seite 1115] heit an Polyklets Canon erinnert, so
ähnelt er-
sterer in der Totalform (den Unterkiefer
ausge-
nommen) dem vom Orang-Outang mehr als
einer
der Negerschädel in der gedachten Sammlung,
wenn gleich bey
manchen von diesen die Oberkie-
fer stärker als am
Botocuden prominiren. Das
Volk hat seinen Namen von dem
scheibenförmi-
gen Holzklotze, den Männer und Weiber
in der
dadurch ungeheuer ausgedehnten Unterlippe tra-
gen. Eine Folge dieses ländlich sittlichen Putzes
ist, daß dadurch
jenen Halbmenschen meist schon
in ihren zwanziger Jahren die untern
Schneide-
zähne ausfallen, und, wie an dem Schädel
des
noch nicht 30jährigen Wilden, von welchem hier
die Rede ist, die
Zahnzellen allgemach schwinden.