Peter the wild boy ward 1767. auf Sr. Königl.
Majestät Befehl nach London gebracht und Ihnen
vorgeführt.
Er hat nie sprechen oder durch articulirte Tö-
ne etwas zu verstehen zu geben gelernt; doch durch
Worte und Zeichen, an die er gewohnt gewesen,
sich bedeuten lassen, so daß er, wenn man ihn
gerufen, gekommen ist, und zu einigen Arbeiten
in der Haushaltung, als zu Holz- und Wasser-
tragen hat gebraucht werden können.
Einige Zeichen von Vernunft hat er nie bli-
cken lassen; ist aber auch nicht bösartig, sondern
durch ein mit Ernst ausgesprochnes Wort oder
durch Vorzeigung eines Züchtigungs-Instru-
ments, welches man ihn anfänglich wohl mag
haben fühlen lassen, leicht in Ordnung zu halten
gewesen.
Er hat alles Eßbare, was man ihm nur ge-
geben, am liebsten aber rohe Erdgewächse geges-
sen, und gern starke Getränke getrunken.
Krankheiten hat man nie an ihm gespürt, und
nur einige Wochen vor seinem Tode mit der ab-
nehmenden Eßlust auch eine zunehmende Entkräf-
tung ihm angemerkt, in welchem Zustand er denn
auch gestorben, ohne daß man daran gedacht, auf
die besondern Zufälle seiner Krankheit genaue Acht
zu geben.
Nach der Bildung und Farbe der Haut zu ur-
theilen, würde ihn ein jeder sogleich für einen
Zigeuner angesprochen haben, und aller Wahr-
scheinlichkeit nach ist auch das ganze Geheimniß
seiner Herkunft erklärt, wenn man annimmt, daß
er von einer Bande solcher Vagabonden entweder
zufälligerweise abgekommen, oder von ihnen als
ein beschwerliches und unnützes Geschöpf geflis-
sentlich zurückgelassen worden, da er dann in ei-
[Seite 93] ner Gegend wie die bey Hameln ist, bald, und
vielleicht wenige Stunden nachher, hat gefun-
den werden müssen.
Der wilde Peter hat seit seiner ersten Erschei-
nung so vieles Aufsehen gemacht, und paradirt so-
gar im Linnéischen Natursysteme unter dem Na-
men von Juvenis Hannoveranus, daß es sich wohl der
Mühe lohnt, aus den ersten zuverläßigen, aber wenig
bekanten Quellen seine Biographie hier kürzlich zusam-
men zu fassen; um so mehr da dieselbe nach der Hand
durch so manche grundlose Sagen sehr entstellt, und die-
se Sagen dennoch von dem kreuzbraven Grillensänger
Lord Monboddo zu Beschönigung seiner freylich ohne-
hin abentheuerlichen, und den naturhistorischen und
anatomischen Einsichten ihres Urhebers keine Ehre
machenden Grille von der specifischen Gleichheit des
Orang-Utangs mit dem Menschen*), gemißbraucht
worden.**)
[Seite 94] Er ward als ein Junge, dem Ansehen nach von
etwa 13 Jahren den 4ten May 1724. von einem Bür-
ger bey Hameln auf freyem Felde gefunden*) (–
nicht im Holze, wie neulich so oft und mit so sel-
tenen Zusätzen und Folgerungen geschrieben und nach-
geschrieben worden –) war nackt, außer daß er
am Halse einen Fetzen von einem alten Hemde hän-
gend hatte; fiel, da ihn der Bürger ansprach, zur
Erde, und küßte dieselbe unter seltsamen Grimas-
sen; folgte ihm aber doch in die Stadt , wo er in
ein Zimmer mit vernagelten Fenstern eingesperrt
ward. Allein er hat ganz geschickt die Nägel umzu-
beugen und das Fenster zu öffnen gewußt, und ist
so durch selbiges auf die Straße entsprungen. Da
er wieder eingefangen war, ward ihm ein Mann
im Armenhause zum Aufseher gegeben, der ihn bin-
nen wenigen Tagen so zu bändigen wußte, daß er
dann schon auf die bloße Drohung mit der Ruthe
gehorchte.
Wie er nun dann auch sich abwaschen und rei-
nigen ließ, so fand sich, daß er eine ganz weiße
[Seite 95] Haut, hin und wieder mit Narben, und auf dem
Kopfe dicke schwarze Haare hatte, die kurz und et-
was kraus und nicht ohne Ungeziefer waren. Die
Zunge fand man unförmlich, dick, und zu beyden
Seiten angewachsen, und schrieb gleich damals die-
sem Umstand sein Unvermögen zum Reden zu, da
ihm keine Sprache beygebracht werden konnte, und
er keinen andern Laut als ala ala ala von sich hö-
ren ließ.
Im Anfang wollte er kein Brod essen, war aber
dagegen auf rohe Gartengewächse desto begieriger:
streifte z.B. die Stengel von Bohnen durch den
Mund, sog den Saft daraus, und spie das übrige
wieder aus.
Doch gewöhnte ihn binnen wenigen Wochen sein
Aufseher an menschlichere Kost: wobey sein Appetit
unersättlich war, so daß er für zwey Personen ge-
gessen.
Mitten unter der knechtischen Furcht für seinen
Aufseher hat ihn doch zuweilen der Grimm über-
mannt, so dass er sich selbst aus Muth in Arm ge-
bissen u.s.w.
Sonst schien er im Ganzen von frölichem Hu-
mor zu seyn, indem er gar oft ohne Worte gesun-
gen, besonders aber wenn er Musik gehört, sogleich
getanzt und gesprungen: welche Musikliebe sich bis
ins hohe Alter erhalten hat, so daß er noch als Greis,
[Seite 96] so oft er ein Instrument hörte, gleich anfing so
lange zu hüpfen und zu springen, bis er für Müdig-
keit aufhören mußte.*)
Im Anfang seiner Hamelschen Gefangenschaft
hat er bald die Wände, bald die Erde, auch seine
eignen Hände geküßt etc. und jedermann, der zu ihm
gekommen, vorn das Kleid aufgeknöpft und die
Brust geküßt. Auch wenn man ihm Obst, und be-
sonders Nüsse gezeigt, ist er auf die Erde gefallen,
und hat dieselbe und dann auch seine eignen Hände ge-
küßt, und dem andern die Küsse mit der Hand zu-
geworfen.
Hingegen hat er durchgehends Widerwillen ge-
gen das andere Geschlecht bezeigt, und die Frauen-
zimmer, die sich ihm genähert, mit Händen und Füs-
sen von sich gestossen.
Von Hameln kam er zuerst nach Zelle ins Wai-
senhaus.
Aber schon 1725. ließ ihn König Georg I. nach
England bringen, da sich die damalige Prinzessin
von Wales, nachherige Königin Caroline sehr für
ihn interessirte und ihn dem berühmten D. Arbuth-
not in der Absicht übergab, daß dieser über die an-
gebohrnen Begriffe und ähnliche psychologische und
[Seite 97] physiologische Gegenstände Untersuchungen mit ihm
anstellen sollte.
Ohne dies zu wissen, gerieth auch der nachheri-
ge berühmte Bischof der Mährischen Brüder-Ge-
meinde, der Graf Zinzendorf, zu gleicher Zeit auf
den nemlichen Gedanken, und schrieb deswegen im Jun.
1726. an die Gräfin von Schaumburg-Lippe nach
London und ersuchte sie um ihre Vermittelung, daß der
wilde Peter ihm zu gleichen Untersuchungen überlas-
sen würde. Die Gräfin schrieb ihm aber, wie frucht-
los schon Arbuthnots Bemühungen in diesem Stü-
cke gewesen wäre. Die Stimme des Buben gleiche mehr
einem Bellen als einer Sprache. Er wisse auch, so
gut sein Gehör sey, doch auf nichts zu antworten;
und sein Gedächtniß sey nicht einmal so gut als der
Instinct der Thiere, in Summa er habe wenig mensch-
liches oder vernünftiges an sich, sey auch keine Hoff-
nung, daß er jemals etwas lernen werde.*)
Da sich also aus diesem trunco durchaus kein Mer-
curius wollte zimmern lassen, so ward der ehrliche
Tropf über Land in die Kost verdungen, da denn
sein letzter Brodherr der Pachter an dem zu An-
fang dieses Aufsatzes genannten Orte war.
Im Jahr 1751. war er einmal entlaufen, und
hatte sich bis nach Norfolk verirrt, wo er für einen
Landstreicher angehalten, und vor den Richter nach
Norwich gebracht ward, der seine Sprachlosigkeit
für Verstockung hielt, und den armen Peter ins
dasige (wegen seiner merkwürdigen alten Mauer all-
gemein berühmte) Zuchthaus setzen ließ.
Während er da saß, entstand ein großer Brand
in Norwich, der auch das Zuchthaus ergriff, wo
Peter beynahe mit verbrannt wäre. Er schien sich
blos über das viele Feuer zu wundern, ohne die min-
deste Gefahr zu ahnden, und ward nur mit Mühe
gerettet.
Bald darauf war er endlich von seinem ehrlichen
Pflegvater, dem Pachter, ausfindig gemacht und
zurückgebracht worden, bey dem er bis an seinen Tod,
der ohngefähr in seinem 74ten Lebensjahre erfolgte,
verblieben ist.
Ich habe ein ausnehmend schönes Bild von ihm
vor mir, das Bartolozzi nach einem Gemälde ge-
stochen, das Alefounder A. 82. nach dem Leben ge-
macht. Ein recht wohlaussehender, mit einem ehrwür-
digen Barte geschmückter Kopf, und von dem man,
wers nicht besser wüßte, glauben würde, er hätte
es hinter dem Ohren.
In der Unterschrift dieses treflichen Kupfers, die
einige Nachricht von der Geschichte dieses alten Kin-
[Seite 99] des enthält, wird auch die ganz irrige Sage ange-
geben, als habe Peter, da er eingefangen worden,
noch einen Cameraden von gleichem Alter bey sich ge-
habt, der aber, ohngeachtet ihm Reuter nachge-
jagt, doch so schnell zu Fuß gewesen, daß er entkom-
men, ohne daß man je etwas weiter von ihm ge-
hört.
Vermuthlich ist diese Erzählung aus einer andern
entstanden, mit der man sich damals getragen, daß
einem Gastwirth zu Wichtringen, im Paderborni-
schen, der so ganz dumme und stupide Kinder ge-
habt, zwey derselben einige Zeit vorher entlaufen,
ehe der Hamelsche Junge eingefangen worden.
In einer Nachricht, die der nachherige Göttin-
gische Prof. Heumann von Hameln selbst eingezo-
gen und bekannt gemacht, wird behauptet, daß ei-
nige in jener Paderbornischen Gegend bekannte Per-
sonen, die nachher den wilden Peter in Hameln ge-
sehen, versichert haben, daß er jenem Wirth zuge-
höre, der sich aber nicht als Vater zu selbigem beken-
nen wollen.*)
S. sein Werk of the originand progress of language
T. I. pag. 175. 289. und anderwärts. Er sagt z.
B. geradezu: ‘„the ouran-outangs are profed to be
of our Species by marks of humanity that J think
are incontestable.„’
Auch die aus dem Kirchbuche des Orts, wo Pe-
ter begraben liegt, im the Gentleman's Magazine
[Seite 94] bekannt gemachte Nachricht von ihm, ist voller Un-
richtigkeiten.
S. des Bürgemeisters zu Hameln H. Conr. Koe-
nig schediasma de hominum inter feras educatorum sta-
tu naturali solitario. Hannov. 1730. 4. pag. 11. sq.
63. sq.