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Magazin
für das Neueste
aus der
Physik
und
Naturgeschichte
,
zuerst herausgegeben
von dem Legationsrath Lichtenberg,
fortgesetzt
von Johann Heinrich Voigt,
Prof. an der Herzogl. Landesschule zu Gotha, und Corresp. der
Königl. Gesellsch. der Wissens. zu Göttingen.

Fünften Bandes erstes Stück, mit Kupfern.

Gotha
1788
.
bey Carl Wilhelm Ettinger.

II.
Einige Naturhistorische Bemerkungen bey
Gelegenheit einer Schweizer-Reise, vom
Hrn. Prof. Blumenbach.

[Seite 13]

(s. IV. B. 3. St. S. 1.)

Von Versteinerungen.

Der interessanteste Gesichtspunkt, aus welchem das
Studium der Versteinerungen und sogenannten Fos-
silien lehrreich und wichtig werden kann, bleibt alle-
mal der, in sofern sie zu Denkmälern und Bele-
gen dienen, die uns über die Revolutionen Aufschluß
geben können, so mit unserer Erde seit ihrer Er-
schaffung vorgegangen seyn müssen.

Und eben aus diesem Gesichtspunkt lassen sich,
wo ich nicht irre, diese merkwürdigen Urkunden im
Archive der Natur am füglichsten unter drey Clas-
sen bringen.

I. nemlich: Fossilien, wozu sich die lebenden
Originale noch jetzt in der gleichen Gegend
finden:

[Seite 14]

II. Solche, wozu die Originale zwar eben-
falls noch in der jetzigen Schöpfung, aber blos
in weit entfernten Erdstrichen, existiren.

III. endlich die unzähligen wahren Versteine-
rungen, wozu man noch nie ein wahres Origi-
nal in der jetzigen Schöpfung aufgefunden, –
und nach unsrer jetzigen, in den letzten 20 Jah-
ren so ausgedehnten Kenntniß der Erde und der
Meere, wohl schwerlich irgend aufzufinden Hof-
nung hat, – und die vermuthlich als Denk-
mäler einer gerichteten Vorwelt, die nun schon
einmal oder mehrmalen ihren jüngsten Tag er-
lebt hat, anzusehen sind.

Von allen dreyen ein Beispiel:

* * *

I. Zur letzten Classe rechne ich eine, so viel mir
wissend,*) noch nicht beschriebene Gattung verstein-
ter Dentalien aus dem Luzerner Gebiet, wovon
einige Stücke Tab. II. in natürlicher Größe ab-
gebildet sind; und die sich schon durch ihre ansehn-
liche Größe von den bekannten Gattungen aus-
zeichnet.

[Seite 15]

Diese Dentalien liegen in einem aschgrauen, fe-
sten, Politur annehmenden Kalkstein in größter Men-
ge dicht beisammen, und, so viel ich an den ansehn-
lichen Massen, die ich von ihnen mitgebracht habe, se-
hen kann, ohne mit irgend einem andern Petrefact
untermengt zu seyn, so daß man offenbar sieht, sie
haben ihre ungestörte ruhige Lage im ehemaligen
Meeresboden der Vorwelt erhalten. Sie sind größ-
tentheils von der Länge eines guten Mittelfingers:
ihre Schaale an der breiten Mündung fast eine Li-
nie dick, und von außen und innen der Länge nach
fein gestreift. Die Richtung der Röhre ist nicht
immer gleich; meist zwar so, daß die Axe eine
schwache Wellenlinie bildet, bald mehr bald weniger
gebogen; doch theils auch nur wie ein Elfenbein-
zahn gekrümmt. Die Röhre ist bey manchen mehr
rundlicht, bey andern mehr eckicht; bei einigen wie
mit erhabnen Leisten und flach ausgeschweiften Fur-
chen abwechselnd. Die Spitze stumpf abgerundet
und die Hölung zum Theil mit einen weissen Kalk-
spath ausgefüllt. Sie liegen nach so mancherley
Richtungen durch einander, und so fest mit ihrer
Matrix verbunden, daß es wohl unmöglich ist ein
ganz vollständiges Stück rein auszuarbeiten, ohne
dabey eine Menge andre zu zerstören. Aber leicht
kann man an einem jeden nur irgend Faustgroßen
Stücke aus den mancherley daran herumliegenden
Bruchstücken dieser Dentalien ihre ganze Gestalt aufs
deutlichste in Gedanken zusammen setzen.

[Seite 16]
* * *

II. Zur zweyten der obgedachten drey Classen
gehören wohl die vermeynten Riesengebeine, die als
ein Heiligthum im Archiv der Stadt Luzern mit den
ehrwürdigsten ersten Denkmälern der erfochtnen
Schweizer Freyheit verwahrt liegen; beym berühm-
ten Panner, das Petermann von Gundoldingen in
der Sempacher Schlacht a. 1386. mit Verlust seines
Lebens, und ganz wie mit seinem Blute getränkt,
gerettet hat; bey den großen goldenen Siegeln
Herzog Carls des Kühnen von Burgund, und des
Herzogs René von Anjou, die a. 1476. vor Grand-
son erbeutet worden u. dergl. m.

Ich darf die Geschichte dieser berufnen Knochen
erzählen, da sie ein warnendes Beyspiel abgeben,
wie leicht auch in der Naturgeschichte ein einmal
gefaßtes Vorurtheil selbst über den sinnlichen Augen-
schein und über den kalten Beobachtungsgeist eines
sonst unbefangnen Mannes die Oberhand gewinnen
kann.

War je ein Arzt als ein treuer simpler Beob-
achter bekannt, so war es Felix Plater, Prof. der
Medic. zu Basel, und seiner Zeit Lehrer von halb
Europa. Der kam im Sommer 1584. nach Luzern,
und sah da die berühmten Gebeine, die 7 Jahr vor-
her beym Kloster Reyden unter einer alten Eiche,
die der Sturm ausgewurzelt hatte, gefunden wor-
[Seite 17] den waren; prüfte sie, verglich sie, und hielt sich
nun vergewissert, daß sie keinem andern Geschöpf
als einem wahren Riesen zugehört haben könnten.
Und da sie ihm noch zur weitern Untersuchung vom
Rath zu Luzern nach Basel verabfolgt wurden, so
ließ er wirklich dort von einem guten Zeichner,
Hans Bock, nach der Proportion dieser fossilen
Fragmente ein vollständiges liegendes Menschen-
Gerippe mit aller anatomischen Genauigkeit abmah-
len, das dann volle 19 Fuß in die Länge maß, und
das er nun nebst den Knochenstücken selbst nach Luzern
zurücksandte, wo ich es auf einer Gallerie im Jesui-
ter-Collegio gesehen habe, und den sonderbaren
Eindruck nicht vergessen werde, den eine solche un-
geheure colossalische, anatomisch richtige Zeichnung
eines Menschen-Gerippes auf mich gemacht hat.
Es ist auf Papier gezeichnet und dann zusammen-
geleimt und aufgezogen, mit der Beyschrift:

Delineatio sceleti gigantis, cujus ossium
portiones aliquot, veluti femoris, tibiae, sca-
pularum, vertebrarum, ossis sacri, coccy-
gis, navicularis, costarum calvariaeque frag-
menta, pollicis quoque secundum os atque
calx, mala item integra fere
(e quibus et tan-
quam illis quae in homine longe aliter, quam
caeteris animantibus formata sunt, humani
corporis haec ossa fuisse, praecipue indicium de-
[Seite 18] sumptum fuit
) in ditione Lucernatum Helve-
tiae juxta vicum Reyden, quercu antiqua de-
jecta, sub illa inventa, Senatuique Lucernen-
si transmissa, et ad horum dimensionem reli-
qua totius sceleti ossa, quae ut aberant, nec
non absoluta erant, a Felice Platero, or-
dinario Basileensi, ad imitationem veri sceleti
delineata, atque a Johanne Bock pictore
Basileensi depicta, Illustrissimoque Senatui Lu-
cernensi praesentata fuerunt, anno salutis
1584.
Julio mense.

Es war den Luzernern sehr zu verzeihen, wenn
sie auf solch ein Kennerwort nun den Riesen von
Reyden wie ein Evangelium glaubten; und Felix
Plater
mags verantworten, daß sie, voll dieses
Glaubens, das vermeynte Enakskind von Stund an
zum Schildhalter des Stadtwappens erkohren; in
welcher Qualität dasselbe nun unter andern am Rath-
haus der Stadt, und auf dem ersten Bilde der Ka-
pelbrücke etc. bis auf den heutigen Tag paradirt.

Ich habe diese berufnen Knochen im dasigen
Archive besehen und untersucht, und ohngeachtet
keine Zähne darunter waren, ich auch keine Subsi-
dien aus osteologia comparata dabey zur Hand hat-
te, so glaube ich doch mit ziemlicher Sicherheit sie
für fossile Elephantenknochen halten zu dürfen,
folgends da ich selbst einige Stücke davon zu erhal-
[Seite 19] ten Gelegenheit gehabt, und sie nun hier mit den
fossilen Elephanten-Knochen im academischen Mu-
seum und in meiner eignen Sammlung vergleichen
können.

Ich brauche nicht zu sagen, daß es vielen auf-
geklärten Luzernern, die bey der Untersuchung auf
dem Rathhause gegenwärtig waren, oder mit denen
ich nachher davon gesprochen, angenehm war, eine
richtigere Bestimmung dieser vaterländischen Natur-
merkwürdigkeit zu erfahren: hingegen hütete ich
mich weislich, irgend etwa den ehrlichen Rathsdie-
nern, die die Knochen mit Staunen und mit sicht-
lichem Stolz auf so einen 19füßigen Landsmann her-
vor ans Helle trugen, denselben abdisputiren zu
wollen, da ich mich gar wohl entsann, wie ernst-
lich hoch es vor 27 J. die Urner aufgenommen hat-
ten, da der Pf. Freudenberger die Existenz eines
wirklichen Wilhelm Tell zu bezweifeln wagte.

* * *

III. Endlich mögen zum Beyspiel derjenigen
Classe von Fossilien, wozu sich die Originale noch ge-
genwärtig in der gleichen Gegend finden, die in
den berühmten Steinbrüchen bey Oeningen am
Bodensee gegrabnen unzählig mannichfaltigen Din-
ge dienen, wovon ich theils an Ort und Stelle,
da ich mich deshalb einige Tage im dasigen Gottes-
haus Augustiner-Ordens aufgehalten, theils in
[Seite 20] Naturaliensammlungen, zumal in Zürich bey Hrn.
Chorherrn Gesner und Hrn. D. Lavater viele und
merkwürdige Stücke gesehen und (besonders durch die
Güte des Hrn. Prof. Pfeifer zu Oeningen) theils
selbst mitzubringen Gelegenheit gehabt.

Die mehresten liegen bekanntlich in einem weiß-
licht grauen kalkichten Stinkschiefer; oder in ei-
nem schiefrichten Mergel; manche Fluß-Muscheln
mit ihrer schillernden Schaale auch in glimmrichtem
Sandstein.

Alle diese Steinarten wimmeln gleichsam von
Fossilien; so daß man kaum ein Stück aufhebt, oh-
ne wenigstens eine Spur oder ein Fragment von
irgend einem dergleichen darin zu finden: obgleich,
wie es in andern dergleichen noch so ergiebigen Ge-
genden der Fall auch ist, vollständige und schön
erhaltene Stücke allemal selten sind.

Indeß habe ich doch aus beyden organisirten
Reichen, und zumal im Thierreich aus allen 6 Clas-
sen desselben, merkwürdige Ueberbleibsel aus diesen
Brüchen gesehen.

A) Von Säugthieren z.B. zwey überaus
gut erhaltene ganze Thiere aus der Ordnung der
Glirium, die Hr. D. Zingler in Winterthur be-
sitzt, und wovon ich genaue Zeichnungen von der
kunstreichen Hand des Hrn. Schellenberg mitge-
bracht habe.

[Seite 21]

Ein instructives Stück Kinnlade mit einem Ba-
ckenzahn von einem Raubthier, und zwar wo ich
nicht irre, aus dem Katzen-Geschlecht, habe ich vom
Steinhauer zu Stein am Rhein erkauft.

B) Von Vögeln, beym Hrn. D. Amman zu
Schafhausen, ein ganzes Vogelbein von der tibia
bis zu den Fußzehen; etwa von einer Schnepfe;
wenigstens gewiß aus der Ordnung der grallarum.

C) Von Amphibien, bey Hrn. D. Lavater, ei-
ne Kröte, wovon Hr. Andreä in seinen Briefen
aus der Schweiz Tab. XV. Fig. 6. eine Abbildung
gegeben.

D) Die Fische sind, wie sichs aus dem Gesagten
von selbst versteht, lauter Süß-Wasser-Fische, und
unter diesen das berühmteste Stück von allen, jetzt
im Besitz des Hrn. Chorherrn Gesner, das Kopf-
stück eines großen Wels, das der ehemalige Be-
sitzer, der sonst verdiente D. Joh. Jac. Scheuch-
zer
und viele andere Naturforscher mit ihnen, und
darunter selbst Anatomen von Profession, für einen
versteinten Menschen hielten! Also fürwahr der
leibhafte Pendant zum Luzerner Riesen. Das schö-
ne Stück ist in vielen Werken abgebildet; die
schönste Vorstellung aber, die ich davon gesehen und
mit dem Original selbst verglichen, verdanke ich der
Güte des verehrungswürdigen Hrn. Chorherrn Ges-
[Seite 22] ner. Sie ist in natürlicher Größe auf einem gros-
sen Foliobogen a. 1726. in Holz geschnitten mit ei-
ner beygedruckten Erklärung unten der Aufschrift:
Homo diluvii testis. Beingerüst eines in
der Sündflut ertrunkenen Menschen.
Folgende
Stelle daraus dient zur Bestätigung dessen, was oben
von der blendenden Gewalt des Präjudizes in sol-
chen Fällen gesagt worden:

‘„Dieses Bildnuß, welches in sauberem
Holz-Schnitt der gelehrten und curiösen Welt
zum Nachdenken vorlege. ist eines von sicher-
sten, ja ohnfehlbaren Ueberbleibseln der Sünd--
Flut; da finden sich nicht einige Lineament, auß
welchen die reiche und fruchtbare Einbildung et-
was, so dem Menschen gleichet, formieren
kann, sondern eine grundliche Uebereinkunst
mit denen Theilen eines menschlichen Bein-Ge-
rüsts, ein vollkommenes Eben-Maaß, ja selbs
die in Stein eingesenkte Bein; selbs auch
weichere Theil sind in Natura übrig, und von
übrigen Stein leicht zu unterscheiden. Die-
ser Mensch, dessen Grabmahl, alle andere Rö-
mische und Griechische, auch Egyptische oder
andere Orientalische Monument an Alter und
Gewüßheit übertrifft, präsentirt sich von vor-
nen. A.B.C. ist der Umbfang des Stirn-
beins etc.„’

[Seite 23]

und nun geht der gute aber einmal nun präoccupirte
Scheuchzer seine ganze Menschen-Osteologie an
diesem Ichthyolithen durch und schließt mit den
Worten:

‘„Auß der ganzen Größe läßt sich schließen,
in Gegenhalt der übrigen Theilen, daß die Hö-
he dieses Menschen steiget auf 28 1/2 Pariser Zoll,
welche entsprechen 5 Züricher Schuhe 9 7/17 De-
cimal-Zoll.„’

‘„Ex museo Joh. Jac. Scheuchzeri Med.
D. Math. P.

‘„Zürich zu finden bey David Reding, Form-
schneider.’

‘„Im Jahr nach der Sündflut
MMMMXXXII.

Einer der schönsten Fischschiefer, die ich von Oe-
ningen mitgebracht, ist ein ausnehmend eleganter
vollständigst erhaltner kleiner Aal, der wenig über
dritthalb Zoll lang ist.

E) Von Insecten finden sich am häufigsten Li-
bellen-larven und Fluß-Garnelen (Cancer pulex.)
Selten schon verwandelte Wasser-Jungfern, theils
auch Wasser-Käfer (Dytisci) Wasser-Scorpione
(Nepae) etc.

F) Von Gewürmen vorzüglich Fluß-Mu-
scheln mancherley Art; und von Schnecken, mehre-
re Gattungen aus dem Geschlechte.

[Seite 24]

G) Aus dem Pflanzenreich sehr häufig schöne
Blätter-Abdrücke, theils sogar noch an Zweigen;
zumal von Pappeln etc.

Sehr selten Blüthen; dergleichen ich doch eine
von einem Hahnen-Fuß (Ranunculus) bey Hrn. D.
Amman gesehen.

Daß sich auch Abdrücke von Getreidearten in
diesen Schiefern zeigen, sehe ich aus Hrn. von
Hallers
Briefen über die Einwürfe einiger Freygei-
ster, und ist mir wenigstens begreiflicher, als was
eben daselbst gesagt wird, daß man sogar Kunst-
werke, nemlich Werkzeuge, wahre Messer mitten
im Gestein dieser Oeninger Brüche gefunden habe.


Notes
*).
[Seite 14]

Man vergleiche des sel. Hofraths Walch Natur-
geschichte der Versteinerungen II. Th. 2. Abschnitt.
Nürnb. 1769. Fol. S. 278. u.f.

Und Hrn. Diac. Schröters Einleitung in die
Kenntniß und Geschichte der Steine und Versteine-
rungen. IV. Th. Altenb. 4. S. 138. u.f.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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