Ich habe den vorjährigen Sommer auf einer
Schweizerreise zugebracht, und hoffe daß es
den Lesern nicht unangenehm seyn wird, hier zu
Zeiten einige der medicinischen Bemerkungen zu fin-
den, die ich während derselben beyläufig zu ma-
chen Gelegenheit gehabt.
Dießmal ein Wort von einigen in der Schweiz
einheimischen Krankheiten. – Und zwar zuerst
von den Ursachen der durchgehends in den Alpen,
besonders aber in den sogenannten kleinen Canto-
nen beym männlichen Geschlecht so ausnehmend
häufigen Brüche*).
Ihre Menge läßt sich schon daraus schließen,
daß, wenigstens vordem, die Schweiz das rechte
Ablager der umherziehenden Bruchschneider war,
die bekanntlich mit Exstirpation des Testikels ope-
rirten, so daß sich daher Hr. von Haller dieser
seiner verstümmelten Landsleute nebst den Hotten-
totten als einer wichtigen Instanz gegen die Büf-
fonischen molecules und moules interieurs be-
dient*). Auch hat man, da im letzten bürgerli-
chen Schweizerkriege a. 1712 nach der Schlacht
bey Vilmergen die Todten auf der Wahlstatt aus-
gezogen worden, eine unglaubliche Menge dersel-
ben gebrochen gefunden.
Am allerhäufigsten habe ich das Uebel im in-
nern Roden des Appenzellerlandes bemerkt; ei-
nem der sonderbarsten, aber nicht sehr bekannten
Schweizerländer, das sowohl wegen des romanti-
schen Ansehns seiner Gegenden, die einem mit tau-
senden von einzelnen Hütten übersäeten grünen
Teppiche gleichen, als wegen des ganz arcadischen
Lebens und des offnen Characters und der Gasco-
nischen Lebhaftigkeit seiner Einwohner merkwür-
dig ist.
Und eben bey der einfachen Lebensart dieser
ehrlichen Aelpler lassen sich die Ursachen der bey
[Seite 727] ihnen so häufigen Brüche desto leichter und sicherer
ausfinden: und wie ich, – besonders nach der
Vergleichung mit andern Cantonen – glaube, vor-
züglich auf folgende fünfe zurückbringen.
Die erste ist wohl das sehr gewaltsame Ringen
und Schwingen und Kämpfen u.a. dergl. insge-
mein so sehr gepriesene athletische Uebungen ihrer
Jugend von 10 bis 15 Jahren: wodurch freylich,
so wie durch die athletische Gymnastik der Alten,
der Körper stark und gelenk gemacht, aber auch
leicht durch den dabey unvermeidlichen heftigen
nixus oder einen zufälligen Stos etc. in die Wei-
chen, ein Bruch veranlaßt werden kan: und wie ich
sicher weis, bey den Appenzeller. Buben gar oft
veranlaßt wird.
Die 2te ein andres eben so allgemeines aber noch
gefahrvolleres Wettspiel des erwachsenen Manns-
volkes, wobey zwey Spiele der Alten, − das
Springen unter schweren Lasten, und die Lacedä-
monische Discobolie – mit einander verbunden wer-
den, nemlich das sogenannte Steinstoßen. Diese
Uebung besteht darin, daß sie schwere Steine, theils
von 80 und mehrern Pfunden in der aufgehobenen
rechten Hand auf die rechte Achsel legen, und dann
mit einem plötzlichen Sprunge oder Schwunge des
Körpers so weit als möglich wegwerfen.
3. Eben so gefährlich sind ihnen die eben so
gewaltsamen Efforts bey einigen ihrer Alpenarbei-
ten, zumal aber beym eintragen des Heues, da sie
wohl Bunde von 2 Centn. und drüber mit einer ge-
fährlichen Bewegung des Körpers sich aufladen
und forttragen. Sie binden nemlich den zusam-
mengelegten Haufen mit einem Stricke fest; legen
sich dann rücklings auf das Bund, fassen die En-
den des Stricks über die Schultern, werfen die
Beine erst hoch in die Luft, und stürzen sich dann
sogleich vorwärts auf ihre Kniee, so daß die ganze
Last Heu ihnen auf die Schultern und den Nacken
fällt, mit welcher sie dann aufstehen und fort-
laufen.
Daß diese unnatürliche Leibesbewegung einen
Hauptanlaß zu den häufigen Brüchen der Appen-
zeller gebe, schließe ich unter andern auch daraus,
weil diese Schäden im Entlibuch, dessen Einwoh-
ner übrigens in ihrem ganzen Naturell, Lebensart,
Arbeiten u.s.w. die größte Aehnlichkeit mit jenen
haben, doch ungleich seltner sind, wo man sich
zum Transport des Heues eines inventieusen leich-
ten kleinen Wagens mit zwey Rädergen bedient. –
Wie leicht aber schon durchs Kniefallen Leisten-
brüche entstehen können, beweißt das, jetzt frey-
lich bey vielen Truppen schon abgeschafte seltsame
[Seite 729] Manoeuvre des niederfallens beym Chargiren, das
bey manchen Infanterieregimenten fast eben so
viele Bruchbänder nöthig machte als bey denen von
der Cavallerie.
4tens mag doch wohl sicher auch der lebenswie-
rige und unaufhörliche Genuß der meist sehr fet-
ten Milchspeisen*), und der Molken statt des
Getränkes dazu, zu Brüchen disponiren und ihre
Entstehung erleichtern. Eben auf den höhern Ap-
penzelleralpen findet man bey manchem Sennen
nichts anders zu essen als alten Käse als Käse
und frischen Käse statt Brod dazu; besonders nem-
lich den sogenannten Fetzen-Zieger, eins ihrer
gewöhnlichsten Surrogate des Brods, da nemlich
große Klumpen von dem übrig gebliebnen Zieger
(Matten) in ein Tuch geschlagen und über dem
Heerde geräuchert, und nachher so trocken zum
Käse gegessen werden. – Wahrscheinlich ist auch
die diaeta lactea der Holländer eine Hauptursache der
ebenfalls bey ihnen bekanntlich so häufigen Brüche.
[Seite 730] Und was endlich 5tens, jetzt wenigstens, wohl
als die wichtigste causa praedisponens der Brüche
in der Schweiz angesehen werden muß, ist die,
durch alle vier vorhergehende Ursachen seit langen
Generationen präparirte erbliche Disposition, –
von deren unläugbaren Zuverläßigkeit und Einfluß
ich täglich mehr überzeugt werde. Hr. Hofr. Rich-
ter hat es in seinem Werke von den Brüchen durch
eigene ihm bekannte Beyspiele bestätigt, daß Brü-
che selbst in einzelnen Familien erblich werden
können: wie viel mehr also in einem Lande wo der
Schade aus so mancherley und tief liegenden Ursa-
chen gleichsam endemisch worden ist. – Sind
doch Gicht und Schwindsucht und Gemüthskrank-
heiten und die rosenfarbnen Augen der weissen Moh-
ren etc. erblich, so gut wie Familienwuchs und Fa-
milien Physiognomie; und können doch Künste-
leyen am Körper, erzwungne Form der Schedel,
verkürzte Vorhaut u. dergl. endlich erblich werden;
warum also nicht auch solche Gebrechen? – Ich
kenne einen Officier dem in seinen jüngern Jahren
der kleine Finger der rechten Hand zerhauen und
krum geheilt worden war; und dessen Kinder, bei-
den Geschlechts, den kleinen Finger derselben Hand
von Mutterleibe an ebenfalls krumm haben. –
Und sicher werden andere Fälle der Art nicht un-
erhört selten seyn; – und sie verdienten bekannter
[Seite 731] gemacht zu werden, da sie manches Licht zur Auf-
hellung des Zeugungsgeschäftes versprechen.
Die Behandlungsart der Brüche ist zwar jetzt
auch in der Schweiz im ganzen genommen weit
Vernunft- und Kunst-mäsiger als vordem. Ich
habe selbst in den kleinen Cantonen ganz gute Bruch-
bänder gesehn, und nur selten gehört, daß Leute an
den Folgen ihres Schadens gestorben wären.
(– vielleicht daß auch überhaupt Brüche aus
erblicher Erschlappung dem einklemmen nicht so
leicht ausgesetzt sind als andre –) Allein es ist viel-
leicht kein civilisirtes Land in der Welt, wo doch die
Medicinalverfassung, zumal auf dem Lande, schlechter
wäre als in der Schweiz. – Eine unglückliche
Folge der sonst so gepriesenen Freyheit dieses glück-
lichen Landes. In Democratischen Cantonen ist
ohnehin auf keinen Schatten einer medicinischen
Policey zu rechnen: aber man weis aus Hrn. Hofr.
Zimmermann’s Schriften, aus Hrn. Chorh.
Rahn’s medicin. Magaz. u.s.w. wie schwer es
auch selbst in den aufgeklärtesten Aristokratischen
Cantonen hält, den Marktschreienden und Land-
streichenden Praktikern Einhalt zu thun. – Ich ha-
be selbst ihrer eine Schaar kennen gelernt, und ich
weis daß in dem gleichen Sommer, da ich in der
Schweiz war, sich nur allein in Lucern binnen 3
[Seite 732] Monaten nicht weniger als 18 solche Quacksalber
eingefunden und eine Zeitlang aufgehalten hatten.
– Nun und da ist denn begreiflich wie mancher
Bruch auch durch solches Gesindel verpfuscht wer-
den muß*).
Das Heimweh ist zwar keine einheimische
Krankheit zu nennen, da es vielmehr in der Frem-
de befällt und in der Heimat wieder vergeht.
Doch hier ein Wort davon, weil allerdings die
Schweizer häufiger als andre Menschen dieser Ge-
müthskrankheit ausgesetzt sind.
Denn daß es eine wahre Gemüthskrankheit
sey, blos in den innern Sinnen und nicht, wie
der sonst verdiente Scheuchzer**) wollte, im
Mangel der Bergluft etc. seinen Grund habe, ist
bey der mindesten Ueberlegung abzusehen. Es
giebt ganze Cantone der Schweiz, und noch dazu
von den gebürgichsten, wie Z.B. Glarus, dessen
Einwohner doch in der Fremde unerhört selten oder
nie vom Heimweh befallen werden; und das aus
[Seite 733] dem Grunde, weil nun einmal das ganze Volk von
je her von Handelsgeist und Gewinnsucht beseelt
ist, und dieselbe auri sacra fames welche sie in die
Fremde treibt, sie dann auch für dem Heimweh
bewahrt. So wie man daher die Appenzeller
ihrer drolligen Lebhaftigkeit wegen mit den Gasco-
niern vergleicht, so die Glarner mit einem gewissen
andern − handelnden in der Welt verstreutem −
Volke. Hundert Glarner laufen nach Italien,
holen Nußbaumene Bretgen, und schiffen damit
nach Holland u.s.w. verführen Schiefertafeln etc.
Kurz ihr ganzer Esprit du corps geht auf kleinen
Erwerb mit Handel und Wandel. Bey ihnen ist
patria ubi bene est, und bene ist ihnen wo sie was
zu lucriren wissen; und da befällt sie denn auch
nicht die mindeste Anwandlung vom Heimweh! –
Man hat mir in Glarus selbst von einem Glarner
erzählt, der mit Täfelgen nach Petersburg gezogen
war, und da von ohngefähr gewahr wurde, daß
man die kleinen Spanischen Hündgen theuer be-
zahlte. Das war ihm genug gleich von Petersburg
nach Madrit zu laufen, Hündgen zu kaufen und
damit wieder von Madrit nach Petersburg und
dann mit seinem Profit in der Tasche von Peters-
burg zurück nach Glarus, wo ich noch einen Des-
cendenten eines feiner lucrativen Spanischen Hünd-
gen gesehen habe.
Hingegen ist kein Schweizervolk dem Heimweh
so leicht, und bis auf wenige Ausnahmen fast un-
ausbleiblich ausgesetzt, als die catholischen Appen-
zeller: – ein bloses Hirtenvolk, das einzig von
seiner Viehzucht lebt, keine Manufacturen, keinen
auswärtigen Handel kennt, sondern nun einmal in
seine Alpen wie eingepfercht ist. Wie gesagt, nicht
ohne Ausnahme, denn mein Wegweiser z.B. war
lange im 7järigen Kriege im Französischen Dienst
in Deutschland gewesen: aber diese Ausnahmen
sind selten. – Selbst die Appenzeller Kühe krie-
gen das Heimweh, wenn sie verführt werden: sie
sehnen sich auch bey dem besten Futter nach ihrem
Vaterlande und nach ihrer Freundschaft, so wie
sich ja sogar Fische sehnen wenn sie von ihren alten
Bekannten getrennt werden*).
Und so sind die Ursachen des Heimwehs über-
haupt gar leicht aufzufinden.
Der Zunder liegt schon in der, Menschen und
Thieren eingepflanzten Prädilection für ihr Vater-
land, in dem innern, stillen aber mächtigen Zuge
nach dem dulce natale solum – der da macht
daß sich Ulysses von der FeenInsel der Calypso
nach seinem kleinen Ithaca, und der ehrliche She-
[Seite 735] rasmin von den glücklichen Ufern des Euphrats
nach den Ufern seiner Garonne sehnt. – Für
diesen Zunder brauchts keinen andern Funken,
als daß sich solche Menschen nur in einer Lage fin-
den, die gegen ihre vaterländische auf irgend eine
nachtheilige ihnen empfindliche Weise contrastirt,
so stoßen sie dann überall an, ziehen sich folglich
zurück, weiden sich in der Einsamkeit an der süs-
sen Rückerinnerung der geliebten vaterländischen
Bilder, die allgemach ihre ganze Phantasie füllen,
sie ganz fixiren; so erzeugt sich nagende Sehnsucht
– und unbefriedigte Sehnsucht geht leicht in
Schwehrmuth und diese oft plötzlich in eine besondre
Art Wahnsinn über, die denn auf die Lebenskräfte
eine eben so plötzliche sehr sonderbare Würkung
äusert.
Die fast unglaublich schnelle und leicht tödliche
äuserste Kraftlosigkeit nemlich, der schleunige Ver-
lust alles Appetits u.s.w. der sich beym heftigsten
Grad des wahren Heimwehs zeigt, scheint ihm
einige Aehnlichkeit mit dem vulgo sogenannten bös-
artigen Nervenfieber zu geben. – Allein es un-
terscheidet sich gar sehr von demselben durch die
eben so unglaublich schnelle Erholung, da man
nemlich weis, daß Menschen, die aus unbefriedig-
ten Heimweh dem Tode nahe gewesen sind, kein
[Seite 736] Glied rühren konnten, Sprachlos im Bette lagen
u.s.w. in Zeit von wenigen Stunden, nachdem
ihnen nur Hoffnung gemacht war, ihren Wunsch
bald erfüllt zu sehen, mit der Munterkeit des fri-
schesten und gesundesten umhergesprungen sind.
Es scheint, daß in diesen Fällen und in vielen
verwandten Gemüthskrankheiten, selbst in der Ra-
serey, die Kräfte und Verrichtungen des körperli-
chen Lebens nicht sowol so wie in andern Krank-
heiten würklich untergraben, zerrüttet, zerstört; –
sondern gleichsam blos suspendirt sind; und, wie
ein aufgezogenes Uhrwerk, dem man das nur für
eine Zeitlang abgenommene Gewicht wieder an-
hängt, gleich wieder in ihrem behörigen Gange
fortfahren können, sobald nur die bis dahin von einer
einzigen Lieblingsvorstellung besessene Seele wieder
zur Besonnenheit gelangt. – Ich habe einen Men-
schen gesehn, der in Anfällen des Wahnsinns Viertel-
stunden lang mit offnen Augen in die brennende Son-
ne am blauen Himmel stierte, und doch, wenn
seine Anfälle vorüber waren, so wie noch jetzt da
er völlig genesen, die schärfsten Falkenaugen von
der Welt behalten hat. – So können Wahnsin-
nige so unglaublich lange fasten, so unbegreifliche
Kälte ausdauren u.s.w. Es ist als ob ihr Körper
während dieser Abwesenheit ihres Geistes nicht die
[Seite 737] gleiche Maschine wie sonst wäre: so können sie sich oft
alles dessen was in einer solcher Zwischenzeit, die sie
doch wachend und handelnd zugebracht, mit ihnen
vorgegangen ist, so schlechterdings nicht erinnern,
als ob sie dieselbe nicht gelebt hätten u.s.w.
Der obgedachte Anlaß zum Heimweh muß nun
um so schneller und um so heftiger würken, je grös-
ser und auffallender solche Ausländer den Abstand
des Clima, der Gegenden, der Lebensart, der Re-
gierungsform, der Sprache, Diät, Tracht etc. des
fremden Landes, worin sie sich aufhalten, gegen die
in ihrer Heimat finden: − und so begreift sich leicht
schon a priori, welche Nationen und wo sie am
leichtesten dem Heimweh ausgesetzt seyn müssen: −
und wie von der andern Seite dieses Unbehagen in
einer ungewohnten*) Lage so weit gehen kan, daß
Leute, nicht etwa in fremden Lande, sondern so-
bald sie nur auch in einer noch so kleinen Entfer-
nung von ihren väterlichen Penaten getrennt sind,
mit einem wahren Heimweh befallen werden kön-
nen. So können Schweizer im Herzen der Schweiz
Heimweh kriegen**).
Ich habe bey meinem nunmehr verstorbnen wer-
then Freunde, dem verdienstvollen Pf. Schnider
von Wartensee zu Schüpfen im Entlibuch einen
Menschen gesehn, den er im Dienst hatte, und der
vom wahren Heimweh befallen wurde, sobald er
nur nach Lucern oder sonst ein paar Meilen weit
von seiner Heimat verschickt ward. Er expedirte
dann sein Geschäfte mit einer ängstlichen Eile als
ob er von einem bösen Geiste getrieben würde, und
wenn ihn der Pfarrer etwa den folgenden Mittag
zurück erwartete, so war er meist schon denselbigen
Abend wieder daheim.
Am heftigsten muß freylich diese Heimsucht
würken, wenn sich solche Menschen isolirt und un-
beschäftigt finden. Denn unter Landsleuten, fol-
gends bey ihren auch zu Hause gewohnten Geschäf-
ten, können sich die Schweizer auch unter jedem noch
so fremden Himmel wohl befinden. Von den glei-
chen Entlibuchern war vor einigen Jahren ein ganzer
Haufe nach Paris verschrieben, wo damals eine
große Schweizer-Sennerey angelegt wurde. So
lange diese Leute beysammen und mit ihrer sonsti-
gen Viehzucht und Milcharbeiten beschäftigt wa-
ren, kam keinem das Heimweh in Sinn: – Aber
wohl, sobald die Schweizerey und mit ihr ihre
Arbeit ins stecken und sie dadurch in Langeweile
und Verdruß geriethen.
Im Durchschnitt scheinen überhaupt, ceteris
paribus, die Nordländer und die aus gebürgichten
Gegenden dem Heimweh weit leichter unterworfen
als die aus warmen Erdstrichen oder vom flachen
Lande. Der Grund liegt vielleicht darin, daß jene
ihre sich so auszeichnenden Alpengegenden, ihre
ewigen Schneeberge, und dann die in solchen Län-
dern meist einheimische Simplicität der Sitten
u.s.w. am leichtesten anderwärts vermissen.
Daher ist auch nächst den Schweizern vielleicht
kein andres Volk dem Heimweh so unterworfen,
als die Lappländer. – Die Geschichte des bra-
ven Lappen ist bekannt der unter Gustav Adolph
diente, sich immer tapfer hielt, zum Rittmeister
stieg – aber – mit einmal da es ihn heimelte
wieder nach Lappland lief und da sein Leben lieber
unter seinen nomadischen Landsleuten und bey sei-
nen Rennthieren als auf dem Bette der Ehren be-
schließen wollte*). Völlig wie der Hottentottische
Pflegsohn des Holländischen Gouverneur am Cap,
den Rousseau verewigt hat**). – Der König
[Seite 740] von Schweden schickte vor ein paar Jahren einige
Rennthiere unter der Aufsicht etlicher Lappländer
an den König von Spanien. So lange jene Thiere
lebten, fanden sich auch die Lappen in Madrit so
gut als jene Entlibucher in Paris. So wie die
Thiere aber starben, so zeugte ihr Verlust und der
Mangel an Geschäften auch bey diesen ihren Lands-
leuten erst Langeweile, und diese dann Schwehr-
muth und Heimweh, das ihnen eben so tödlich ge-
wesen seyn würde wenn sie nicht gleich in ihr Va-
terland zurück geschickt worden wären.
Fast das gleiche wiederfuhr den Grönländern
die a. 1636 nach Coppenhagen gebracht waren,
und die theils den Tod fanden, da sie aus verzwei-
flungsvoller Sehnsucht in ihren kleinen Kajacks ein-
zeln nach Amerika zurückzurudern unternahmen,
die übrigen aber alle am wahren Heimweh starben*).
Eben daher erklärt sich auch das Heimweh das oft
in aller seiner furchtbaren Heftigkeit die Waldecker
befällt, wenn sie aus ihrem hochliegenden Lande in
flaches, z.E. in holländische Kriegsdienste versetzt
werden, wovon ich anderwärts besondre Umstände
angegeben habe**).
Andre Beyspiele aus bergichten Gegenden, zu-
mal von Thüringern*), Ungarn**) etc. sind theils
bey den Observatoren angemerkt, und mir selbst
noch andre theils tödlich wordne Fälle davon be-
kannt.
Was man von der Würkung des Kuh-reihen
zur Erweckung des Heimwehs sagt, hat allerdings
einigen Grund und giebt ein merkwürdiges Ber-
spiel zu des frommen Hartley’s nicht gar from-
men Associations-System. Jene einfache melodi-
sche Musik muß natürlicher Weise bey Schweizern
die Bilder und Scenen zurückrufen, wo sie dieselbe
ehedem im Schoos ihrer Heimat, auf grünen Al-
pen, bey einem patriarchalischen Mahl, und unter
andern solchen reizenden Umständen gehört haben;
und so kan sie mit gleichem Zauber auf Schweizer −
wenn folgends ohnehin schon der Funke der Sehn-
sucht nach dem Vaterlande bey ihnen glimmt, – wie
etwa der Fantango auf Portugisen und Spanier
würken.
Nur was von dem strengen Verboth insgemein
gesagt wird, da es bey auswärtigen Schweizerre-
gimentern bey Lebensstrafe untersagt sey den Kuh-
[Seite 742] reihen zu pfeifen etc. muß wenigstens nicht allge-
mein wahr seyn. Im Gegentheil versichert mich
ein Schweizerofficier in Holländischen Diensten,
daß man zu einer Feldmusik seines Regiments einen
Kuhreihen zum Thema genommen.
Auch giebts dieser Reihen gar vielerley: fast
in jedem Canton einen andern; und in manchen ih-
rer mehrere. Einen dergl. hat der jüngere Zwin-
ger in Noten geliefert*): einen andern Capel-
ler**), der eine Frau kannte, die in der Schweiz
selbst, so oft sie den Kuhreihen hörte, bitterlich
weinen mußte: einen dritten Rousseau***): und
ich habe auser diesen ein paar noch andre mitge-
bracht. Alle haben etwas ganz eignes überaus sim-
ples, einnehmendes und fast schwehrmüthiges. –
Und doch ist der, den man für dem expressivsten
von allen hält, der Appenzeller nemlich, wiederum
ganz anders, und gar nicht recht in Noten zu set-
zen. Auch wird er nicht wie die übrigen mit dem
Alp-Horn geblasen, – als welches überhaupt die
Appenzeller Sennen nicht haben, – sondern blos
gesungen. Die Sätze wechseln mit einem bestän-
digen Ritornello von hellen jauchzen. Er kommt
aber jetzt in Abnahme, so daß nur noch wenige,
deshalb berühmte, Hirten ihn recht vollkommen
singen können.
J.F.B.
I.H. Freytag diss. de oscheo-entero- et bubono
cele Helvetiae incolis frequentibus. Argent. 1721.
Ueber die bewundernswürdige Mannichfaltigkeit
derselben s. des seel. Pf. Schnider systematische
Darstellung der Schweizerischen Milchspeisen; im
Schweizerischen Museum; 2ten Jahrg. 2ten St.
1784. S. 133 u.f. – und schon des würdigen
Conr. Gesner libellus de lacte et operibus lactariis.
Tigur. 1541. 8.
Diss. de pothopatridalgia im Fascic. dissert. medicar.
selectior. Basil. 1710. 8. S. 102 u.f. Dieß ist die
vollständigste Ausgabe dieser Dissert. die auch bald
unter des Praes. Harder, und bald unter des Resp.
Hofer Namen angeführt wird.