Das Heimweh, wovon im vorigen Stücke
dieser Bemerkungen die Rede war, führt mich
auf eine andre Gemüthskrankheit, nemlich auf
diejenige Art Schwehrmuth die mit Lebensüberdruß
verknüpft ist, und die unsre neueren Nosologen
Melancholia phrontis oder anglica nennen. Ich
habe dieses jammervolle Uebel, und seine blutige
Folge, den Selbstmord in einigen Gegenden der
reformirten Schweiz zu meinem erstaunen häufig
gefunden: und zwar vor allen im äußern Roden
des Appenzellerlandes; dann im Emmenthal, Ber-
ner Gebieths; und in Genf. Es soll aber auch
wie ich nach der Hand erfahren, in Zürich und
Basel gar gemein seyn.
Ich habe von keinem dieser Orte und Gegenden
solche Todtenlisten auftreiben können, woraus
sich etwa ein bestimmtes Verhältnis der jährli-
chen Unglücksfälle jener Art zur Totalsumme der
verstorbnen hätte ziehen lassen: allein von der Zu-
[Seite 164] verlässigkeit der Sache selbst bin ich genau genug
unterrichtet. Denn im reformirten Appenzell sind
mir zahlreiche Fälle aus den leztern Jahren um-
ständlich erzählt worden: – im Emmenthal sollen
sie nach der Versicherung die mir ein der Sache
kundiger Mann darüber gegeben, im Durchschnitt
häufiger seyn, als in London: – und in Genf
soll man wenigstens auf jeden Monat einen Selbst-
mord rechnen können.
Es bedarf wol keiner Erinnerung, daß die lez-
tere Angabe nicht so zu verstehen ist, als ob fast
jeden Monat sich ein solcher Unfall ereignete, son-
dern so daß ihrer überhaupt jährlich etwa ein
Dutzend gerechnet werden können. Denn im
Durchschnitt scheinen sie doch in der Schweiz so
wie in England in den trüben spätern Herbstmo-
naten, zumal in dem deshalb sogenannten Hän-
gemonat, dem November, bey weiten am häufig-
sten vorzufallen: so daß sich sogar in Basel vor
nicht gar langer Zeit in einer trüben November-
Woche, vier Menschen ums Leben gebracht.
So unzählig die individuellen Triebfedern seyn
mögen, die einen Unglücklichen zu einem solchen
jammervollen Schritt verführen können, so wahr-
scheinlich wird es doch, daß in einigen Gegenden
wo dergleichen Fälle auffallend häufig sind, gewiße
allgemeine Ursachen dazu zum Grunde liegen müssen.
Ich habe diesen an den gedachten Orten nach-
gespürt, und glaube daß sie sich vorzüglich auf fol-
gende caussas praedisponentes und occasionales
zurückbringen lassen.
Eine der wichtigsten vorbereitenden Ursachen
scheint wol in der sitzenden Lebensart in Ver-
bindung mit sehr mechanischer einförmiger
geistloser Handarbeit zu liegen.
Das allgemeinste Gewerbe der Appenzeller vom
äußern Roden ist Battist-Weberey; die sie zwar
zu einer Vollkommenheit gebracht haben, die sich
schon daraus beurtheilen läßt, daß man wol
40 Gulden schwer Geld für ein Pfund Wolle aufs
feinste zu spinnen zahlt; die aber zugleich für ihre
Gesundheit schon aus dem Grunde nicht anders,
als äußerst nachtheilig seyn kan, da ihre Werk-
stätte, die deshalb Web-Keller genannt werden,
recht absichtlich halb unter der Erde angelegt wer-
den, damit die Baumwolle in dieser feuchten Keller-
luft desto geschmeidiger bleiben, der Faden nicht
leicht reissen möge etc. So sitzen nun diese emsigen
Arbeiter in einer so dumpfigen Atmosphäre, vor
ihrem Webestuhl, wie angeschmiedet, und treiben
tagtäglich vom Morgen bis in die Nacht eine
äußerst einförmige maschinenmäsige Handarbeit,
die den Geist nicht im mindesten beschäftigen kan,
der dann folglich entweder in eine Art Paralysis
[Seite 166] und Stupor verfällt, oder (was bey der Tempe-
raments-Lebhaftigkeit der Appenzeller öfter der
Fall ist), diese Muse benuzt indeß auszuschweifen
und sich mit Grillen zu beschäftigen; und zwar be-
sonders mit derjenigen Art Grillen die durch die
gedachte Conjunktur der einförmigen sitzenden
Stellung mit der dumpfen Werkstatt am leichtesten
erzeugt wird, mit Schwärmerey.
Es ist eine Bemerkung die mir bey Lesung von
Arnold’s Kirchen- und Ketzer-Historie und ähn-
licher Quellen für den psychologischen Theil der
Physiologie und Pathologie gar oft aufgefallen
ist, daß es doch unter der bänglichen Schaar von
Separatisten und Inspirirten und Theosophen
u.a. armen Hypochondristen der Art immer von
solchen Handwerkern wimmelt die einförmige
Handarbeit bey sitzender Lebensart treiben, beson-
ders von Leinewebern, von Wollenkämmern,
Strumpfwürkern und dergleichen.
Und so weis ich, daß auch in Herißau, dem
Hauptflecken des äußern Roden, und wo bey
weitem die mehresten Fabriken der feinen Baum-
wollnen Zeuge sind, gar häufig diese kunstreichen
Arbeiter in religiose Schwärmerey und zwar oft
in die unglücklichste von allen, nemlich in die
zweifelnde verfallen, die dann so leicht zu dem
[Seite 167] gewaltsam anticipirten Ziele führt, wovon hier
die Rede ist.
Da sich die Fälle der Art in den verfloßnen
Jahren häuften, so hoffte man vielleicht dadurch
der traurigen Seuche Einhalt zu thun, wenn man
die Leichen der Selbstmörder zu beschimpfen drohte.
Allein der Erfolg entsprach dieser gefaßten Hoff-
nung so wenig daß vielmehr einer dieser trübseli-
gen Schwärmer, der schon lange drüber gebrütet
und gekämpft hatte, ob er seiner geängstigten
Seele Luft machen sollte, nun seinen Zweifel da-
mit lößte, daß er sich freudig drey große Schnitte
um den Hals gab. – Er ward dem ohngeachtet
gerettet, und sogar wieder zur Besonnenheit ge-
bracht, und lebte noch damals da ich in Herißau
war. Er hatte wie er nun selbst gestand, bey sei-
ner blutigen That ohngefähr so räsonirt: ‘“meine
arme Seele die sündigt nicht, sondern immer
nur der verdammte Leib! Hoffentlich wird nun
Gott jene wieder zu Gnaden annehmen, wenn die-
ser gebüßt und nach dem Willen meiner lieben
Obrigkeit umhergeschleift seyn wird.”’
Was hier von der Weberey der Appenzeller als
einer prädisponirenden Ursache zu dem unter ihnen
so häufigen Selbstmord gesagt worden, das gilt,
wo ich nicht irre, eben so vom Emmenthal und
gewissermaaßen auch von Genf. Im Emmenthal
[Seite 168] ist Leineweberey das gewönlichste Gewerbe, so wie
in Genf die mancherley Manufacturen, die doch
auch gröstentheils eine einförmige langweilige Hand-
arbeit bey vita sedentaria erfodern.
Vermuthlich wird auch anderwärts die glei-
che traurige Folge einer gezwungenen sitzenden
Lebensart bey einer fast blos maschinenmäßigen
den Geist so gar nicht beschäftigenden Handarbeit,
aufmerksamen Beobachtern nicht entgehen können:
und ich höre z.B. gleich jetzt da ich dieses schreibe,
daß in Potzdam der Selbstmord aus der Ursache
sehr häufig unter der Leib-Garde vorfalle, weil
diesen schönen Menschen um ihren Wuchs zu scho-
nen keine andere als nur gewisse kleine Handarbei-
ten, wie Seidehaspeln etc. gestattet seyen.
Eine zweyte vorbereitende Ursache des in den
gedachten Gegenden der Schweiz so häufigen Selbst-
mords glaube ich in einer eignen leichtaufbrausen-
den Lebhaftigkeit des Temperaments in Verbin-
dung mit überspannten Begriffen von Frey-
heit und Zwanglosigkeit gefunden zu haben.
Das glückliche Gefühl von Unabhängigkeit, wo-
mit die Schweizer-Jugend bey einer zwanglosen
Erziehung aufwächßt, und das im männlichen Al-
ter durch das Intresse, womit sich jeder Schweizer
um die Gesetze und Verfassung seines Staats be-
kümmert, und durch die Eifersucht genährt wird,
[Seite 169] womit er über seine mindesten Gerechtsame wacht;
das kan gar leicht die unglückliche Folge nach sich
ziehen, daß solche Menschen überhaupt gegen alle
Art von Zwang und Widerwärtigkeit unleidlich
werden, – sich vom Schicksal so wenig als von
ihrer Obrigkeit geniren lassen wollen; und so –
folgends bey dem Feuer eines schnellauflodernden
Temperaments das unerträglich peinigende Ge-
fühl eines würklichen oder vermeynten Unrechts,
wogegen sie sich nicht wehren oder rächen können,
lieber breui manu mit ihrem eignen Blute tilgen.
Vom reformirten Appenzell und von Genf, sind
mir ganz ungezweifelte Beyspiele der Art bekannt
worden, wo Leute aus knirschender Wuth über
irgend einen verlohrnen Proceß, oder über eine
unglückliche Liebe und dergl. sich selbst entleibt.
Und vielleicht ist auch dieß eine Hauptursache des
häufigen Selbstmords der Zürcher, als bey welchen
jenes schnellauflodernde Temperamentsfeuer so ge-
mein ist, daß es sogar in Zürich selbst mit dem be-
sondern Namen von Zürcher-Butsch belegt wird.
Auch ist wohl kein Zweifel, daß nicht in dem,
was ich so eben vom überspannten Freyheitsgefühl
gesagt, das mit der ersten Erziehung eingesogen
und in einer zwanglosen Jugend immer mehr aus-
gebildet worden, ein Hauptgrund des häufigen
Selbstmords der Engländer liegen sollte.
Im ganzen ist es mir doch aufgefallen, daß diese
unglückliche Todesart nur in der reformirten
Schweiz so häufig, in den catholischen Cantonen
hingegen bey gleicher Lebhaftigkeit des Tempera-
ments u.s.w. weit seltner ist. Freylich fällt in
diesen sogenannten kleinen Cantonen die erstgedachte
Gelegenheitsursache, nemlich die sitzende Lebensart
weg, da ihre Einwohner großentheils Aelpler und
Viehhirten sind. Da es sich aber von der andern
Seite, so viel ich weis, ziemlich allgemein bestä-
tigt, daß der Selbstmord im Durchschnitt genom-
men in catholischen Ländern überhaupt seltner ist
als in protestantischen, so wäre es doch der Unter-
suchung werth, ob nicht vielleicht allerhand reli-
gieuse Vorurtheile, an denen der große Haufe un-
aufgeklärter Catholiken haftet, bey allen übrigen
unläugbaren Nachtheilen den sie haben können, doch
nicht etwa von dieser einen Seite ein wohlthätiges
Abhaltungsmittel für jenem schrecklichen Schritt
seyn mögen?
Ich komme zu den Gelegenheitsursachen (po-
tentiae s. caussae excitantes morborum) des
Selbstmords, die freylich sehr mannigfaltig und
daher nicht so allgemein zu bestimmen sind. Doch
scheinen wol Diät und Witterung den vorzüglich-
sten Einfluß auf denselben zu haben.
So giebt man z.B. in Genf selbst, das viele
Kuchenessen als eine Ursache desselben an: und so
könnte auch wol das viele Fleischessen, das man
in England dabey in Anschlag bringt, auch in
vielen Gegenden der Schweiz dazu gerechnet wer-
den. Gewiß ist wenigstens, daß das Backwerk
allerhand Infarctus in den Eingeweiden des Un-
terleibes hervorbringt, und die allzunahrhaften
Fleisch-Speisen, folgends wenn sie seit langen
Generationen die vorzügliche Nahrung in einem
Lande gewesen, zum cholerischen Temperament
disponiren können.
Auch mag, wenigstens für manche Constitutio-
nen, der Caffee bey der Wallung die er verursacht
die Anlage zu einer so unglücklichen Disposition
leicht verschlimmern: wovon der arme vieljärige
Märtyrer seiner melancholischen Milzsucht, der seel.
Mag. Bernd in seinem merkwürdigen Lebenslaufe
mancherley hieher gehörige Beyspiele anführt.
Wie leicht aber eine beklemmende drückende
Witterung den Ausschlag zum Selbstmord geben
könne, das scheint theils schon aus dem was oben
vom November gesagt worden zu erhellen, und
wird noch auffallender durch die sonderbare Be-
merkung bestätigt, da der Selbstmord gerade in
gewissen wegen ihrer ganz eignen Witterung merk-
würdigen Jahren in vielen Ländern zugleich, so
[Seite 172] ganz unerhört häufig gewesen, daß er gleichsam epi-
demisch zu herschen geschienen. Von der Art war das
Jahr von 1735 auf 36. das eben daher auch für den
schwarzblüthigen Mag. Bernd so angstvoll war, und
von welchem er ausdrücklich anmerkt, ‘“daß in dem-
selben von allen Orten her Nachrichten von Leuten
eingeloffen, die sich selbst entleibet, und daß dazumal
im Dresdner Blätgen selten eine Woche vergangen,
da nicht ein solch trauriges Exempel angeführt wor-
den.”’ – Ich habe deshalb die große Collection of
the yearly Bills of mortality from 1657 to 1758
nachgesehen, wo die bekanntwordnen Selbstmörder
in London von Jahr zu Jahr verzeichnet sind, und
habe auch da wirklich gefunden, daß binnen dieser
ganzen 102 Jahre in keinem andern eine so auf-
fallende Menge von Unfällen der Art sich ereignet
hat, als eben a. 1736. da die beyspiellose Zahl
auf 65 gestiegen ist.
Ein Hauptumstand endlich der den Selbstmord
zuweilen ganz mit einemmal in gewissen Gegenden
auffallend häufig machen kan, ist ohne Wiederrede
die hinreissende Macht des Beyspiels.
Wie unläugbar und zahlreich sind nicht die
Fälle von so manchen armen Seeligkeitszweiflern,
oder zerrütteten Haushältern, oder unglücklichen
Liebhabern u.s.w. die ihren nagenden Wurm wol
Jahre lang in ihrer Brust umhergetragen, Jahre
[Seite 173] lang über diesem letzten Schritt gekämpft haben,
und doch wol noch von ihren Wunden geheilt,
manche ruhige Tage hätten leben und an Ende sicca
morte zu ihren Vätern versammlet werden können,
wenn sie nicht plötzlich durch ein paar unglückliche
Beyspiele zur endlichen Vollziehung jenes Schrittes
zum freywilligen Tode wären determinirt worden.
Und ich wäre geneigt aus eben dieser verführeri-
schen Quelle des Beyspiels das unerhörte Phäno-
men wenigstens zum Theil zu erklären, da sich
vorigen Sommer binnen wenigen Wochen 4 bis 5
Weibspersonen, meist Dienstmädgen in und bey
Göttingen ins Wasser stürzten.
Eine andre Art von unzeitigen Todesfällen, die
ich in vielen Gegenden der Schweiz ebenfalls zum
bewundern häufig gefunden habe, sind die todten
Geburten zeitiger Kinder.
Es fiel mir zuerst auf dem Wege nach dem St.
Gotthard auf, da ich von einer frischen jungen
Wirthin die eben guter Hoffnung war, hörte, daß sie
schon einigemal – aber immer mit todten Kindern
niedergekommen, und daß das überhaupt im Ur-
nerland ein gewöhnlicher Unfall sey. Ich erfuhr
das gleiche nachher auch von andern Cantonen,
wie z. B. vom Zürchergebiet etc. und das erinnerte
[Seite 174] mich an ein, der gebürgichten Schweiz überaus
ähnliches Land, den Harz, wo ich schon vor einigen
Jahren einmal die gleiche Bemerkung zu machen
Gelegenheit gehabt; da ich zufällig in einer Claus-
thaler Todten-Liste unter 167 verstorbenen nicht
weniger als 15 Todtgeborne fand, und sowol
vom Hrn. Generalsup. Dahme als vom dama-
ligen Bergmedicus Hrn. Lentin die Versicherung
erhielt, daß dieses Unglück überhaupt dort gleich-
sam einheimisch sey.
Man erstaunt über die außerordentliche Größe
jenes Verhältnisses, wenn man sich erinnert, daß
nach den Süßmilchischen Berechnungen, unter
100 Geburten etwa 4 Todte seyn sollten, und daß
sich in manchen glücklichen Gegenden, wie z.B.
in Gotha, unter 100 gebornen nicht einmal 1 tod-
tes rechnen läßt.
Ueberhaupt lohnt es sich also wohl der Mühe
dem Grund dieses, die Menschheit und die Be-
völkerung so sehr intereßirenden Uebels, nach-
zuspüren.
Hr. von Justi und Hr. D. Krünitz setzten
eine Hauptursache der vielen todten Geburten in
die Ungeschicklichkeit der Hebammen. Und würk-
lich scheint diese Behauptung auf den ersten Blick
in der Schweiz einige Bestätigung zu erhalten, als
[Seite 175] woselbst die Bäuerinnen oft gar keine Hebamme zu
ihrer Niederkunft holen lassen, sondern blos die
Nachbarinnen oder Freundinnen einander selbst in
der Geburt beystehen. Allein sie verliert ihre Wahr-
scheinlichkeit schon dadurch, da eine so roh behan-
delte Niederkunft die dem Kinde in der Geburt das
Leben kostete, auch nicht ohne die gefährlichsten
Folgen für die Mutter abgehen könnte, von welchen
ich doch nichts in Erfahrung habe bringen können,
so wie hingegen die Mütter todtgeborner Kinder
oder die Aerzte die ich darüber zu befragen Gele-
genheit gehabt mich versichern, daß sich die Be-
wegung des Kindes in jenen Fällen schon einige
Zeit vor dem Termine der Geburt, verliert.
Hr. Pf. Baumann der den dritten Band
zu Süßmilchs classischen Werke geliefert hat,
sucht eine vorzügliche Ursache der vielen todten
Geburten in der Verderbnis der Sitten, als welche
Ausschweifungen – und dadurch viele ehelose Kinder
– erzeugt, unter welchen, nach seinen Berechnungen,
sich immer noch einmal so viele Todtgebohrne
finden sollen, als in der Totalität. Das paßt
nun zwar auf den Harz recht gut, wo sich z.B.
in Clausthal die unglaubliche Zahl der unehlichen
Kinder zu der von allen Geburten wie 1 zu 7
verhält: aber schon nicht auf die Schweiz, wo
[Seite 176] wenigstens unter dem Landvolk, bey welchem die
todten Geburten gerade am häufigsten vorfallen,
jene Ausschweifungen äußerst selten sind.
Ueberhaupt macht da die Schweiz eine Aus-
nahme von der Regel die Hr. Baumann annimmt
daß die todten Geburten in Städten häufiger seyen,
als auf dem Lande: so wie ich folgends seiner Ver-
muthung daß sie durch den Gebrauch von abtrei-
benden Mitteln verursacht werden sollten, aus
leicht zu übersehenden physiologischen Gründen
nicht beypflichten kan. Höchstens würden solche,
dem Leben der Mutter selbst so furchtbar-gefähr-
liche Mittel einen abortus, – aber wohl schwerlich
den Tod eines zeitigen reifen Kindes bewürken u.s.w.
In der Schweiz wenigstens und auf dem Harz,
scheint mir die Hauptursache der vielen todten Ge-
burten weit mehr in der wenigen Schonung zu
liegen, die sich die Schwangern in diesen gebür-
gichten Gegenden geben können. Die ganze Last
des Haushalts liegt – fast wie bey den Wilden –
ganz allein auf ihnen, da indeß auf dem Harz der
Bergmann in der Grube steckt, und in der gebür-
gichten Schweiz der Senne mit seinem Vieh auf
der Alp liegt.
Die Hausmutter muß folglich, selbst in den
spätern Monaten ihrer Schwangerschaft die
schwerste Arbeit thun, Lasten tragen u.s.w. und
[Seite 177] es begreift sich leicht, wie nachtheilig das der
Frucht die sie unter ihrem Herzen trägt, seyn kan.
Nur dürfte es auf den ersten Blick befremden,
warum doch bey dieser schweren Arbeit das un-
gebohrne Kind meist erst zu seiner behörigen Reife
gelangt, ehe ihm die Arbeitsamkeit seiner emsigen
Mutter das ungenossene Leben kostet.
Irre ich nicht sehr, so läßt sich der Grund da-
von darin finden, daß die reifere erwachsene Lei-
besfrucht, ohngeachtet sie an körperlicher Stärke
zugenommen hat, doch hingegen weniger für äus-
sern Druck und andern dergleichen Gewaltthätig-
keiten gesichert ist, als in den frühern Monaten
ihrer Existenz. Bekanntlich steht die Menge des
Wassers worin die Leibesfrucht schwimmt mit der
Größe und dem zunehmenden Wachsthum dieser
leztern in umgekehrten Verhältnis, d.h. in den
ersten Monaten nach der Empfängnis ist der Fötus
in Vergleich gegen die Größe der mit Wasser ge-
füllten Blase worin er eingeschlossen liegt, so sehr
klein daß er gleichsam wie in einem Ocean von lau-
warmen Wasser zu schwimmen scheint. Und selbst
die dann noch nicht sehr angeschwollne Gebärmut-
ter liegt noch ziemlich tief in der Beckenhöhle ver-
borgen und von den äußern Bedeckungen des Unter-
leibes entfernt. – Ein Druck also oder eine andre
gewaltsame Bewegung auf den Leib der schwan-
[Seite 178] gern Frau kan nicht einmal leicht auf ihre Gebär-
mutter, geschweige auf die im innern derselben in
einer großen Menge Wasser sicher schwimmenden
zarten Frucht einigen nachtheiligen Eindruck machen.
Dieß alles ändert sich hingegen mit zunehmen-
der Schwangerschaft. – Die Gebärmutter schwillt
an, steigt in die Höhe, verdrängt die benachbar-
ten dünnen Därme, kommt unmittelbar hinter die
Bauchmuskeln zu liegen etc. Und so, wie nun zu-
gleich das in ihr eingeschlossene Kind wächst, so
wird hingegen im umgekehrten Verhältnis die son-
stige Menge Wassers in Vergleich gegen die Größe
der Frucht, verringert. – Die Häute die das
Kind umgeben, sind nun nicht mehr wie anfangs
fast blos von Wasser, sondern weit mehr von dem
immer mehr zu seiner Reife erwachsenden Kinde
selbst, gefüllt; das aber nun ebenfalls so wie die
Gebärmutter, dadurch der Oberfläche des Leibes
seiner Mutter näher kommt, und folglich den ge-
waltsamen Eindrücken die eine schwere Handarbeit
der sich nicht schonenden Mutter auf denselben ma-
chen muß, immer mehr ausgesezt und durch die
Heftigkeit derselben leicht seines ohnedem hinfälli-
gen Lebens beraubt wird.
J.F.B.