Es ist hier nicht der Ort die Lebensumstände
des Hrn. von Haller zu berühren. Zudem sind
sie oft beschrieben, und bekannt genug.
Er erzählt selbst die merkwürdigsten derselben
im 2 Band der biblioth. anatomica S. 195 u.f.
und die Geschichte seiner Unfälle, besonders auch
als Schriftsteller und Recensent, unter dem Namen
von Oel-fu im 3 Buch seines Usona S. 227-33
der 3 Aufl. – Auch manches interessante von sei-
ner Jugend, Erziehung, Lebensart etc. in der Ver-
gleichung zwischen Hagedorn’s Gedichten und den
seinigen im 3 Band seiner kleinen deutschen Schrif-
ten S. 337 u.f.
Aber ein paar Worte über den Umfang und die
Größe seiner Verdienste, und die Mittel, wodurch
er sich dieselben erworben, sind wol hier, zumal
zum lehrreichen Muster für manche jüngere Leser
nicht am unrechten Orte.
Es ist viel gesagt – aber wie ich glaube doch
nicht zu viel – wenn man behauptet, daß Haller
der größte unter allen neuern verstorbenen Gelehrten
war, die Europa seit Leibnizens Tod gesehen hat.
Der größte Gelehrte beides an Mannigfaltigkeit
und Umfang so wie an Tiefe der Kentnisse. Es
ist weit leichter die sehr wenigen Fächer menschli-
chen Wissens zu nennen, in die sich Haller weni-
ger tief eingelassen, als alle diejenigen aufzuzählen
worin er sich so sehr als Meister gezeigt hat. –
Von jenen würde ich etwa unter den zum Gebiethe
der A.W. und Naturkunde gehörigen, nach seinem
eignen Geständnis die Chemie und die Mineralogie
nennen: und unter den übrigen die Kunstkentnisse:
oder vielmehr das was sich nun einmal nicht durch
[Seite 180] keinen Fleis erwerben läßt, wenn die Empfäng-
lichkeit dafür nicht angeboren ist, das Kunstgefühl,
der Takt, den man zuweilen in Haller’s Urthei-
len über Kunstwerke zu vermissen glaubt.
Hingegen läßt sich der unermeßliche Umfang
seiner durchaus reifen Kentnisse in den übrigen noch
so mannichfaligen wissenschaftlichen Feldern nicht
leichter und zugleich auffallender übersehen als aus
seinen Beyträgen zu den Götting. gel. Anz. und zum
großen Dictionn. encyclopédique. Die letztern fin-
den sich in den beiden ersten Supplementbänden der
großen Pariser Original-Ausg. in Fol. von A–E.
Dann in der Yverduner die Hr. Felice besorgt hat
von F-Z, und auch durchgehends in den zu dieser
sehr veränderten Ausgabe gehörigen Supplement-
Bänden. Alle die unzäligen von seiner Hand darin
befindlichen Artikel sind am Ende mit H.D.G. be-
zeichnet: und sehr viele davon sind mit einer un-
gemeinen. lihm sonst in seinen andern ernstern Wer-
ken, zumal in seinen spätern Jahren, nicht so ge-
läufigen pikanten Lebhaftigkeit abgefaßt.
Daß die Götting. gel. Anz. auf 12000 Recensio-
nen aus Haller’s Feder enthalten, ist schon neulich
einmal erwähnt worden. Vom 24 Apr. 1747 an,
waren fast alle medicinische, außerdem aber auch
viele tausend Artikel aus andern Fächern von ihm
abgefaßt. Es war bey seinem a. 1777 erfolgten
Tode noch so viel vorgearbeiteter Vorrath von ihm
da, daß seine letzte Recension erst im 24 St. der
Zugaben von 1779 abgedruckt werden konnte. Sie
betraf gerade ein Werk über dessen Inhalt wenige
andre Menschen so gültig als Haller richten durf-
ten, da eigentlich der größte Theil seines ganzen
Lebens mit diesem Gegenstande beschäftigt gewesen
war: ‘“qu’est ce qui est requis dans l’art d’observer?”’
Es ist gleichfalls viel gesagt – und doch wie
ich wiederum hoffen darf, wol nicht zu viel –
[Seite 181] wenn man behauptet, daß Haller der Arzney-
Wissenschaft zwey Werke über zwey ihrer wichtig-
sten Felder geliefert hat, dergleichen sich, was
Vollständigkeit verbunden mit tiefer Gründlichkeit
betrift, kein andres Fach der Litteratur rühmen
darf: – die bibliotheca medica die doch bis auf den
Schluß des practischen Theils ganz beendigt war,
und die große Physiologie. – Und doch hielt sie
Hr. v.H. Selbst nicht eben für die wichtigsten
seiner Schriften, sondern schenkte diesen Vorzug
ausdrücklich an einer Stelle in den Götting. An-
zeigen seinen iconibus anatom. und den operibus
minoribus.
Haller hat sich den erstaunlichen Umfang seiner
Kentnisse großentheils, durch eine Belesenheit er-
worben, die so unbegrenzt war, daß sogar einer
seiner würdigsten und einsichtsvollsten Freunde,
Hr. Bonnet, fürchtet sie könne vielleicht den
Flug seines Genies erschwert haben. ‘“S’il avoit
moins consulté les auteurs, schrieb er lange vor
Haller’s Tod an ihren gemeinschaftlichen Freund
Spallanzani, il auroit plus consulté sa tête, il
auroit plus medité et plus découvert encore.”’ Ich
deute das freylich nicht so als ob Hr. Bonnet da
er dieses schrieb vergessen hätte, daß es ein eben
so mißliches Ding ist, ohne große Belesenheit auf
Entdeckungen in der Natur ausgehen zu wollen,
als alle noch so große aber bloße Belesenheit ohne
eigne Beobachtung der Natur ein sehr einseitiges
nicht gar verdienstliches Talent bleibt. Das letzte
war der Fehler mancher ehrlichen Stoppler zumal
aus dem Ende des vorigen und Anfang des jetzigen
Jahrhunderts, die dicke Bücher aus andern dicken
Büchern zusammenschrieben, ohne dabey im minde-
sten ihre Wissenschaft durch irgend eine eigne nütz-
liche Bemerkung zu bereichern. Aber das erstre war
auch die Blöße die mancher Arzt und Naturforscher
[Seite 182] wie z.B. der übrigens allerdings verdiente alte
Ruysch gegeben hat, der zwar schöne Präparate
machte, aber gar oft die bekanntesten Dinge für
neue Entdeckungen hielt, weil ihm freylich gar
manches terra incognita seyn mußte, was er bey
mehrerer Belesenheit sogleich für längst entdecktes
Land erkannt haben würde.
Wie glücklich man aber eignen Forschungsgeist mit
großer Schulgelehrsamkeit verbinden könne, und
wie sehr die letztre dem Fortgang des erstern zu stat-
ten komme, hat Haller gerade durch sein eignes
Beyspiel am allerunwiederredlichsten erwiesen.
Die Vorwürfe einiger ehrlichen Leute die würk-
lich Haller’s Hauptverdienst bey seiner großen
Physiologie ins compiliren setzten, nöthigten ihn
zu einem Schritt, den andre große Erfinder vor
ihm auch ohne diesen Anlaß gethan hatten, daß er
nemlich ein Verzeichnis derjenigen Entdeckungen
womit er nur allein die Physiologie bereichert hatte,
drucken lies. Es findet sich am Ende der Vorrede
des 6 Bandes der Elementor. physiologiae oder
des 1 B. der umgearbeiteten Octav-Ausg. und giebt
eine Uebersicht die man nicht ohne Ehrfurcht für
einen Geist ansehen kan, der alles was vor ihm
in seinem Felde geleistet war, umfaßt, und nun so
vorbereitet ausgehen kan durch eignen Forschungs-
geist bisherige Lücken zu füllen, über dunkle Ge-
genstände Licht zu verbreiten, die Grenzen des
Ganzen zu erweitern u.s.w.
Um aber zu begreifen, wie ein Mann, der keine 70
Jahr alt worden und auf dessen Schultern von seinen
männlichen Jahren bis zum Grabe die mannigfaltig-
sten Amtsgeschäfte geruht, nur die Zeit zu Erwerbung
einer so unbeschränkten Gelehrsamkeit und dann zu
so unzähligen eignen Untersuchungen, Beobachtun-
gen, Vivisectionen botanischen Reisen u.s.w. her-
haben konnte; um das zu begreifen darf man nicht
[Seite 183] vergessen, daß freylich Hallers ganzes Leben eine
nur selten unterbrochne Kette von anhaltender Ar-
beit war, und daß vielleicht wenige andre Gelehrte
den unendlichen Gewinn von Benutzung einzelner,
sonst verlohrner, Vierthelstunden und Minuten in
der Oekonomie der Zeit so zu schätzen und zu nutzen
gewußt, als Haller. Es sind noch viele Leute in
Göttingen, die ihn auf der Straße oder auf den
Spaziergängen oder über Tische lesend gesehen ha-
ben, und sein hypochondrischer Landsmann Ritter
erzählt sogar von ihm ‘“daß er an seinem Hochzeit-
tage in calculo differentiali gearbeitet haben soll.”’ –
Nun das lezte wird aber hoffentlich bey einem
Manne von Haller’s Gefühlen, doch wol blos aus
Zerstreuung in einer ungeduldigen Erwartung ge-
schehen seyn und ums Himmelswillen nicht etwa
wie bey weil. Matth. Wesenbecius und ein paar
andern Stubengelehrten der Art aus mehr als
dreyfach-pedantischer hölzerner Studirsucht.
Zu dieser eifrigen Arbeitsliebe kam nun bey
Hallern außer den glücklichen Naturgaben eines
äußerst empfänglichen und äußerst getreuen Ge-
dächtnisses etc. auch noch der Gebrauch sehr wichtiger
mechanischer Hülfsmittel zur Erleichterung seiner
Arbeiten, wie z.B. seine eigne Art zu excerpiren,
wovon gelegentlich in einem der nächsten Stücke in
einem besondern Aufsatze über die vorzüglichsten
Methoden Collectaneen zu sammeln ein Wort ge-
sagt werden wird.
Freylich kamen Hallern auch seine Schicksale
und Lebensumstände zu statten. – Er hat selbst
gesagt, daß die Entfernung aus seinem Vaterlande,
so empfindlich sie ihm anfangs gefallen, doch ihm
nachher vortheilhaft und zur Quelle vieler Kennt-
nisse worden, die im Vaterlande ihm unbekannt
geblieben seyn würden, und daß eben davon ver-
muthlich die Ausarbeitung aller seiner nachwärti-
[Seite 184] gen Schriften*) abgehängt habe. – So rühm-
lich dieses Geständnis für Göttingen ist, so allge-
mein bekannt ist es von der andern Seite wie un-
endlich viel die Universität hinwiederum diesem
ihren unvergeßlichen Lehrer zu verdanken hat. Nur
eins statt aller anzuführen, so sind doch im Grunde
nur zwey Dinge die zuerst den Ruf von Göttingen
außerhalb Deutschland allgemein verbreitet ha-
ben: – Haller’s Irritabilität nebst seinem Erweis
der Gefühllosigkeit der Sehnen und vieler andern
Theile des thierischen Körpers die man sonst für
sehr empfindlich angesehen hatte; und Tob. May-
er’s Mondstafeln. Auch hat wol nicht leicht ir-
gend eine gelehrte Societät einen glänzendern Ein-
tritt in die Welt gemacht, als eben die Göttin-
gische die Haller selbst veranlaßt und eingerichtet
hatte, da gleich in den ersten Bänden ihrer Com-
mentarien Haller de partibus corporis hum. sen-
silibus et irritabilibus und Mayeri tabularum lu-
narium vsus in inuestiganda longitudine maris
erschienen.
Und was man endlich zum Aufschluß über die
Größe und die Menge dessen was Haller geleistet
hat, nicht vergessen darf, das ist die mächtige Trieb-
feder zu jener rastlosen Arbeitsamkeit und zu der
eifrigsten Benutzung aller der gedachten ihr zu stat-
ten kommenden günstigen Conjuncturen, – eine nicht
sehr beschränkte Ehrbegierde! die freylich schon
durch das billige Selbstgefühl von Verdienst hätte
erzeugt werden müssen, die nun aber folgends durch
das Ansehn und durch den Credit worin Haller
beym aufgeklärten Theil von Europa zu stehen
fühlte, und durch die Eifersucht womit die
[Seite 185] Ausländer nach seinem Beyfall geizten, gar sehr
genährt werden mußte. Von der letztern auch nur
ein Beyspiel statt vieler. Hr. v. Haller hatte dem
lezten Bande seiner großen Physiologie ein Ver-
zeichnis der dabey genuzten Schriftsteller angehängt
und um ihm selbst einige Brauchbarkeit zu geben,
diejenigen die er für vorzüglich hielt, mit einem
Sternchen bezeichnet. Zwey große französische
Aerzte Hr. Petit und Hr. Portal geriethen einige
Zeit nachher in einen Zwist, und das empfindlichste
was Hr. Portal seinem Gegner aufzurücken wußte
war daß Hr. von Haller einem von Petit’s Werken
in dem gedachten Verzeichnis kein * beygesezt habe.
Das gab ein groß Feuer! Jede Parthey hatte ih-
ren Anhang, und es erschien endlich eine Lettre
de M. Dvchanoi à M. Portal sur la critique
qu’il a fait des ouvrages anatomiques de M. Petit
worin der Verf. umständlich zu erweisen suchte,
der Mangel jenes * sey ein bloßer Druckfehler etc.:
wofür es denn auch Hr. v. Haller alsdann öffent-
lich zu erklären die Höflichkeit hatte.
Daß aber auch der Ehrgeiz, dieser mächtige
Sporn zu allem großen und edlen, – so wie es nun
überhaupt einmal die Natur der Sache mit sich
bringt, auch bey Hrn. v. Haller die Quelle unzäh-
liger misvergnügten Augenblicke hat werden müssen,
braucht nicht erst gesagt zu werden. Er selbst
schrieb a. 49 an seinen Freund Bodmer, ‘“daß das
Vergnügen bey ihm etwas seltnes sey,”’ und dahin
deute ich auch, wenigstens großentheils, das was
er in einer Vorrede zu seinen Gedichten sagt, daß
‘“die Unglücksfälle sein Leben mehr als jemals be-
kannt werden wird, seit seiner ersten Jugend ver-
bittert haben.”’
Daher kam freylich die seinem Wahlspruch –
parta tveri – angemessene Empfindlichkeit ge-
gen Widerspruch, und seine vielen gelehrten Strei-
[Seite 186] tigkeiten dabey er aber doch durchgehends die mu-
sterhafteste Würde beobachtet hat.
Noch ein Verdienst des Hrn. v. Haller – und
meinen Gefühlen nach, gewiß keines der gering-
sten, ist, daß er nicht wir so viele andre, übri-
gens auch noch so verdienstvolle Männer, die Hu-
manität, der Stuben-Gelehrsamkeit aufgeopfert: –
sondern vielmehr seine Erholung, die Versüßung
seiner Arbeit im gesellschaftlichen Umgange und im
frohen Genusse des Lebens gesucht hat. Noch in
seinen leztern Jahren wo ihm seine langwierige
Krankheit nur selten das Zimmer zu verlassen ge-
startete, blieb doch jeden Tag in der Woche wenig-
stens eine Stunde dem bestimmten Umgange mit
seinen Freunden oder seiner Familie ausgesetzt, alle
die unzähligen Stunden ungerechnet die er außer-
dem den Besuchen der Reisenden etc. schenkte. Vor
allen aber war dann Neujahr sein festlichster Tag,
da seine 11 Kinder, und 20 Enkel und 2 Urenkel
wo möglich alle zusammen mit ihm speisen mußten.
Was aber Haller folgends in der Blüthe sei-
nes Lebens und in den männlichen Jahren für ein
einnehmender Gesellschafter gewesen seyn muß, da-
von habe ich noch oft von vielen seiner ehmaligen
hiesigen Zeitgenossen das laute einstimmige Lob ge-
hört: und weis es auch von andern, die Hallern
a. 1757 Lausanne getroffen hatten, wohin er
nebst dem Rathsherrn Bonstetten von Bern aus
geschickt worden war, die Verfassung der dasigen
Akademie zu verbessern. Voltaire hielt sich gleich
damals auch daselbst auf, und beide fanden sich
oft zusammen in Gesellschaft. Voltaire meist im
Zirkel von Herren, Haller hingegen mitten unter
den Damen, die ihn beau comme le jour fanden.
J.F.B.
Das vollständigste Verzeichnis derselben bis z. Jahr
1775 steht in den Epistolis ad Hallervm scriptis
Vol. VI. pag. 157 bis 198.